Präsident Putin sitz an einem Tisch während einer Videokonferenz.
Verordnet Russland eine neue Ideolgie: Präsident Wladimir Putin Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Zwischen Ultrakonservativ und Sowjetnostalgie Russland: Auf dem Weg in die Diktatur?

09. Februar 2024, 00:18 Uhr

War das russische Regime bisher damit zufrieden, wenn die Bürger seine Politik nicht öffentlich kritisierten, verlangt es nun ideologiekonformes Verhalten. Doch die Ideologie, die Putin dem Land verordnet, besteht aus unterschiedlichen Versatzstücken, die sich zum Teil widersprechen. Ein klares Bild für die Zukunft des Landes scheinen er und die Kremlideologen nicht zu haben.

Daria Boll-Palievskaya
Daria Boll-Palievskaya Bildrechte: Mischa Blank

"Ich entschuldige mich dafür, dass ich die Gefühle vieler Menschen verletzt habe", sagt der russische Rapper Vacio vor laufender Kamera. Der Grund für diese öffentliche Entschuldigung: Er hatte an einer Promi-Party teilgenommen, deren Gäste sehr freizügig gekleidet waren. Kein Wunder: "Fast nackt" lautete das Motto. Auch Vacio war dem Dresscode gefolgt und hatte neben einem Paar weißer Turnschuhe lediglich eine Socke über seinem Gemächt getragen. Diese "Nackt-Party", wie sie in den russischen Medien genannt wird, und an der rund 200 Stars und Sternchen teilnahmen, löste Ende des letzten Jahres in Russland einen Skandal aus, der bis heute anhält.

Viele Z-Patrioten empörten sich, dass in einer Zeit, in der sich die Armee aus ihrer Sicht "im Heiligen Krieg befindet", Prominente "Teufelszeug" betreiben. Die Showbiz-Stars mussten sich folglich öffentlich für ihr "unmoralisches Verhalten" entschuldigen. Um ihren Patriotismus zu beweisen, beeilten sie sich, in Krankenhäuser zu gehen, um verwundeten Soldaten zu helfen, oder Geldspenden für den Krieg zu leisten. Parlamentsabgeordnete und "besorgte Bürger" forderten lautstark eine Überprüfung der Party auf "LGBT-Propaganda", Drogen und Extremismus und riefen zu einem Boykott der Promis, die auf der Party waren, auf.

Nachtclub Mutabor
Der Ort des Skandals: Der Nachtclub Mutabor in Moskau (an einem anderen Tag). Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Ebenfalls vor laufender Kamera schenkte der Besitzer des Nachtclubs, in dem die Party stattfand, einer Kirche Teile der Gebeine des Heiligen Nikolaus, die er vor einigen Jahren im Vatikan erworben hatte. Die wertvolle Reliquie soll allerdings nicht echt gewesen sein, was später ebenfalls zu einem Skandal führte. Der Klub selbst wurde inzwischen geschlossen. Selbst Putin reagierte auf die Skandal-Party, wenn auch nur indirekt: "In dieser Feuerprobe (des Krieges - d. Red.) ordnen sich viele Lebensprioritäten neu, man wird nicht mit heruntergelassenen Hosen auf irgendwelchen Veranstaltungen herumspringen", sagte der Präsident in einer Rede.

Der "Nackt-Skandal" markiert eine Wende in der russischen Innenpolitik. Noch vor Kurzem dachte die russische Prominenz, sie könne sich zum Thema Krieg ausschweigen und einfach weitermachen wie bisher. Nun werden öffentliche Äußerungen und sogar Handlungen verlangt, sonst folgen drakonische Strafen.

Eine neue Ideologie

Schon seit einiger Zeit erzählen Putin und seine Propagandamaschine den Russen von "traditionellen Werten" und präsentieren Russland als die letzte Bastion der Moral. Bisher beschränkte sich der Kreml allerdings auf Moralpredigten und auf die Darstellung des in Sünde verfallenen Westens, der versucht, Russland seine dekadenten Werte aufzuzwingen.

Doch je näher die Präsidentschaftswahlen, die Mitte März stattfinden sollen, rücken, desto mehr werden aus Worten Taten: Die sogenannte "internationale LGBT-Bewegung" wurde für "extremistisch" erklärt, Bücher unliebsamer Schriftsteller werden verboten, sie selbst in die Listen der sogenannten "ausländischen Agenten" aufgenommen. In den Schulen werden obligatorische Patriotismus-Stunden eingeführt, Museen müssen Ausstellungen zum Thema Ukraine-Krieg organisieren und die Staatsduma diskutiert über einen Gesetzentwurf zum Verbot der sogenannten "Сhild-free-Propaganda" in Gegenwart Minderjähriger. Unter "Child-free-Propaganda" verstehen die russischen Abgeordneten das Bekenntnis, keine Kinder haben zu wollen. Die Liste solcher "Initiativen" kann man unendlich fortsetzen.

Christopher Street Day (CSD) in Frankfurt am Main
Putin hat queere Menschen zum Feindbild erklärt. Aktivisten auf dem CSD in Frankfurt protestieren dagegen. In Russland ist das nicht mehr möglich. Bildrechte: IMAGO / Müller-Stauffenberg

Im November 2022 erließ Putin ein Dekret über die "Grundsätze der Staatspolitik zur Bewahrung und Stärkung der traditionellen russischen geistigen und moralischen Werte". Die Liste der Werte umfasst "Leben, Würde, Menschenrechte und Freiheiten, Patriotismus, Dienst am Vaterland, hohe moralische Ideale, eine starke Familie, kreative Arbeit und den Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen". Diese Werte sind Putin zufolge bedroht, und zwar durch "Terroristen, Extremisten, bestimmte Medien, NGOs, internationale Unternehmen, die Vereinigten Staaten und andere unfreundliche Länder, die Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen betreiben".  Im April 2023 begann das russische Justizministerium, Gesetze auf ihre Übereinstimmung mit dem Erlass zu überprüfen. Eine der Folgen dieser Überprüfung war das Verbot der Möglichkeit, das Geschlecht in Personaldokumenten zu ändern – etwas, das früher problemlos möglich war.

Widersprüchliches Wertesystem

Doch besonders kohärent ist das Wertesystem des Kremls nicht: So ruft Putin die Russen einerseits dazu auf, acht und mehr Kinder zu bekommen: Viele Kinder zu haben soll "die Norm, eine Lebensweise" werden. Er zeigt sich gerne in der Kirche, und der Patriarch Kyrill scheint so mächtig wie nie zuvor zu sein. Gleichzeitig nennt Putin den Zusammenbruch der UdSSR eine Tragödie, obwohl in der Sowjetunion die Kirche verfolgt wurde und die Abtreibungsraten wesentlich höher waren als heute.

Für diese merkwürdige und widersprüchliche Mischung gibt es unter russischen Intellektuellen verschiedene Erklärungsansätze: Die Ideologie des Putinismus sei eine Mischung aus Patriotismus, Sehnsucht nach der Sowjetunion und Anti-Westlichkeit, analysiert der Politologe Dmitri Oreschkin. "Die Putin'sche Ideologie basiert auf Isolationismus", sagte er in einem Interview mit dem YouTube-Kanal "Populäre Politik".

Metropolit Tichon Schewkunow von Pskow und Porchow, Patriarch Kyrill von Moskau und ganz Russland und Russlands Präsident Wladimir Putin.
Putin zeigt sich gerne in Gesellschaft von Patriarch Kyrill (2. v. l.) und anderen Geistlichen. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Der Journalist und politische Analyst Andrej Perzew erklärt diese Pseudo-Ideologie damit, dass das Putin-Regime die Ziele des Krieges erklären müsse. Doch jede Ideologie impliziert eine Zukunftsvision, die zeigt, welche Ideale man hat. Doch das Putin-Regime kann das nicht bieten, meint Perzew, der Russland verlassen musste. So wird die Religion zu einer Art Ideologieersatz. Perzew schließt außerdem nicht aus, dass Putin persönlich "mit dem Alter in die Mystik verfallen ist". Die abgepressten öffentlichen Entschuldigungen der Teilnehmer der "Nackt-Party" hingegen hätten ihre Wurzeln in sowjetischen Zeiten, als öffentliche Bußrituale während der Parteiversammlungen stattfanden.

Auf der Suche nach Feinden

Auch den in Berlin im Exil lebenden Menschenrechtler Sergej Lukaschewski wundert diese merkwürdige und widersprüchliche ideologische Mischung nicht: Das manipulative Regime verbinde unvereinbare Dinge ganz im Stil von Georg Orwells "Doppeldenk". Mit Doppeldenk beschreibt Orwell die geistigen Verrenkungen, die das diktatorische Regime in seinem Roman "1984" den Bürgern abverlangt. Das Ziel Putins und seiner Getreuen sei, an der Macht zu bleiben, und der Präsident legitimiere seine Macht durch die Geschichte, in dem er eine Ideologie mit Bezug auf die Vergangenheit aufbaue, so Lukaschewski. Im Zentrum dieser Ideologie stehe ein starkes Staatswesen mit einer glorreichen Geschichte. Wer die Macht der Menschen, die diesen Staat regieren, in Frage stelle, gelte als Verbrecher.

Vladimir Putin
Ideologische Versatzstücke aus der Vergangenheit. Wladimir Putin besucht ein Museum. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Gleichzeitig braucht das Regime externe und interne Feinde, auf die die Gesellschaft ihre Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher Stagnation, sozialer Ungleichheit und Willkür lenken kann. Die LGBT-Gemeinschaft ist "ein hervorragender Kandidat für die Rolle eines Feindes", glaubt der Historiker Lukaschewski. Früher gab es in Russland eine Art Gesellschaftsvertrag zwischen dem Staat und den Bürgern: "Ihr haltet euch aus der Politik heraus, und wir halten uns aus eurem Privatleben heraus." Jetzt aber habe das Regime seine Rhetorik geändert und gehe härter vor. Sergej Lukaschewski stellt bedauernd fest: "Das Land sinkt sehr schnell vom relativ milden Autoritarismus zur Diktatur."

Das bekamen auch die Teilnehmer der – eigentlich privaten – Skandal-Party zu spüren. Ein Teilnehmer, die russische Schlagerikone Philipp Kirkorow, verließ das Land, nachdem er die Möglichkeit verloren hatte, in Russland aufzutreten. Noch teurer hat der Rapper Vacio seine Teilnahme bezahlt: Er wurde trotz seiner öffentlichen Reuebekundung für 15 Tage inhaftiert. Danach werde der Musiker, wie sein Anwalt erklärte, zum Militärdienst eingezogen.

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 10. Februar 2024 | 07:17 Uhr

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