Vor der Parlamentswahl in Russland Kidnapping in Petersburg: Russische Behörden gehen gegen Oppositionelle vor

07. Juni 2021, 21:39 Uhr

Vier Monate vor der Parlamentswahl in Russland scheinen die Behörden mit aller Härte gegen russische Oppositionelle vorzugehen. Bestimmte Details erinnern an Aktionen der staatlichen Behörden im benachbarten Belarus, die im Mai eine Ryanair-Maschine auf dem Weg nach Vilnius zur Landung in Minsk zwangen, um den oppositionellen belarussischen Blogger Roman Protassewitsch und dessen Freundin festzunehmen.

Schauplatz war diesmal der Flughafen in St. Petersburg: Russische Polizisten zerrten dort am 31. Mai den russische Oppositionspolitiker Andrej Piwowarow aus einer Passagiermaschine. Der Flieger sollte gerade nach Warschau starten.

Was wird dem Aktivisten vorgeworfen?

Der 39-jährige Piwowarow leitete bis vor Kurzem die Nichtregierungsorganisation "Offenes Russland" ("Open Russia"), die vor Jahren vom einstigen Erdölmagnaten und Kremlkritiker Michail Chodorkowski ins Leben gerufen worden war. Die Ermittlungsbehörden werfen Piwowarow vor, er sei an einer in Russland "unerwünschten Organisation" beteiligt gewesen. Er sitzt derzeit in der südrussischen Stadt Krasnodar in Untersuchungshaft.

Tags darauf nahm die russische Polizei den Moskauer Oppositionellen Dmitrij Gudkow fest, der mit Piwowarow zusammengearbeitet hatte. Dem 41-jährigen Gudkow wird zur Last gelegt, dass er und seine Verwandten die Miete für eine Gewerbeimmobilie in Moskau nicht bezahlt hätten. Gudkow wurde am Donnerstag wieder aus dem Polizeigewahrsam entlassen. Seine Anwälte teilten mit, dass die Ermittlungen gegen ihn jedoch weiterliefen.

Warum trifft es diese beiden Oppositionellen?

Sowohl Piwowarow als auch Gudkow sind regional bekannte Aktivisten und aussichtsreiche Kandidaten für die im September anstehenden Duma-Wahl. Sie wollten sich um Direktmandate bewerben.

Dmitrij Gudkow ist ein gestandener Oppositionspolitiker. Von 2011 bis 2016 saß er als Abgeordneter in der Duma und war einer der wenigen, der sich dort bei heiklen Fragen eine eigene Meinung erlaubte. Bei der Abstimmung über die widerrechtliche Krim-Annexion der Stimme enthielt er sich. Am Wochenende teilte er mit, in die Ukraine ausgereist zu sein. Quellen aus dem Umfeld der Kreml-Administration hätten ihm deutlich gemacht, wenn er in Russland bleibe, werde er verhaftet.



Andrej Piwowarow förderte mit der kremlkritischen Organisation "Offenes Russland" unter anderem junge Politiker auf kommunaler Ebene. 2017 wurde die Organisation von der russischen Generalstaatsanwaltschaft als "unerwünscht" eingestuft. Sie wechselte daraufhin mehrmals ihre Rechtsform, ein Versuch, die Einstufung unwirksam zu machen. Jetzt wurde der Druck der Behörden so groß, dass Piwowarow am 27. Mai die Organisation auflöste.

Was bedeutet die Einstufung als "unerwünschte" Organisation?

2015 war die umstrittene Regelung von der Staatsduma verabschiedet worden. Mitarbeitern und Partnern von Organisationen, die als "unerwünscht" eingestuft werden, drohen bis zu sechs Jahre Haft oder ein Verbot, nach Russland einzureisen.

Zur Liste der "Unerwünschten", die das russische Justizministerium führt, gehören inzwischen mehr als 30 Organisationen. Vergangene Woche kamen drei Nichtregierungsorganisationen aus Deutschland dazu. Einem Bericht der "Deutschen Welle" zufolge hatte ihnen der Duma-Ausschuss für Sicherheit und Kampf gegen Korruption zuvor vorgeworfen, dass sie unter anderem die russische Energiepolitik behindern und die Geschichte verdrehen würden. Der von der Einstufung betroffene Deutsch-Russische Austausch (DRA), eine Bildung- und Kulturorganisation in Berlin, bezeichnete die Vorwürfe als "absurd".

Dem in dieser Woche verhafteten russischen Oppositionellem Andrej Piwowarow droht wegen seiner Leitung von "Offenes Russland" eine mehrjährige Haftstrafe.

Was bedeuten die Festnahmen im Hinblick auf die Duma-Wahl?

Piwowarow und Gudkow hatten in der Vergangenheit gemeinsam unabhängige Lokalabgeordnete gefördert. Im Frühjahr war ein großes Forum in Moskau geplant, zu dem zahlreiche oppositionelle Abgeordnete aus regionalen Parlamenten geladen waren. Das Treffen wurde jedoch von der Polizei aufgelöst. Die russische Opposition spricht von Einschüchterung vor der Duma-Wahl, damit möglichst viele Regierungskritiker schon im Vorfeld ausgeschalten werden. Die russischen Behörden weisen die Vorwürfe zurück.

Geht es auch um andere Kandidaten, die bei der Duma-Wahl antreten wollen?

Ja. Die Duma hat vor wenigen Tagen eine Regelung verabschiedet, die vorsieht, bestimmte Kandidaten wegen der Zusammenarbeit mit "extremistischen und terroristischen" Organisationen von allen Wahlen auszuschließen. Noch muss das Gesetz von Präsident Wladimir Putin unterzeichnet werden. Nach Ansicht der russischen Opposition soll damit die Teilnahme von Anhängern des inhaftierten Kreml-Kritikers Alexej Nawalny bei der Duma-Wahl verhindert werden. Die Staatsanwaltschaft hatte zuletzt gerichtlich beantragt, Unterstützerorganisationen Nawalnys als "extremistisch" einzustufen.

Wie reagieren Opposition und Zivilgesellschaft auf die jüngsten Aktionen der staatlichen Behörden?

Der liberale Sankt Petersburger Stadtparlamentsabgeordnete Boris Wischnewski schrieb dieser Tage im Messenger-Dienst Telegram, dass "jeder unter die Walze der Repressionsmaschine geraten könne", der es wage, sich über das Geschehen zu erregen. Niemand sei mehr sicher. Ähnlich schätzt unser Ostblogger Maxim Kireev die Lage ein. Im Radio-Gespräch mit MDR AKTUELL sagte er, dass viele Regimekritiker bislang geglaubt hätten, dass es ausreiche, nicht allzu prominent zu sein, um nicht ins Visier der Behörden zu geraten. Durch die jüngsten Aktionen sei jetzt aber ein Gefühl der Angst erzeugt worden.

Quellen: MDR/dpa/AFP/Deutsche Welle

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 07. Juni 2021 | 14:23 Uhr

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