Zahnarzt kontrolliert die Zähne eines Jungen in einer Klinik in Prag.
Überhaupt einen Platz auf dem Zahnarztstuhl zu ergattern, ist in manchen Gegenden Tschechiens äußerst schwer. Bildrechte: IMAGO/Cavan Images

Ärztemangel Tschechien: Schlange stehen beim Arzt

26. November 2022, 08:16 Uhr

In Tschechien würde das Gesundheitssystem zusammenbrechen, gingen alle Ärzte über 65 in den Ruhestand. So heißt es manchmal Schlange stehen oder sich die Finger wund telefonieren. Der Staat versucht gegenzusteuern – ohne durchschlagenden Erfolg.

Die Prager Journalistin Helena Truchlá
Bildrechte: Helena Truchlá | MDR

Im südmärischen Hustopeče gingen in der Nacht auf den 1. November hunderte Menschen zum Zahnarzt. Mit Halloween hatte das allerdings nichts zu tun. Ein Zahnarzt im Ort, Tomáš Kuča, hatte eine Mitteilung veröffentlicht, dass er in seiner Praxis neue Patienten aufnehmen würde. Bislang war er hoffnungslos überlastet, doch weil laut einer neuen Vorschrift Patienten nur noch eine statt zwei regelmäßige Vorsorgeuntersuchungen pro Jahr gezahlt wird, hatte er nun Kapazität für 800 neue Patienten frei.

Bedingung war allerdings, dass sich die Menschen an einem bestimmten Tag persönlich in Kučas Praxis anmelden. "Früher wollten sich die Leute per Mail registrieren und es gab keine klare Reihenfolge. Ihre Anrufe haben die Telefonleitung überlastet und das Verfahren schien so nicht fair," sagte der Arzt dem Nachrichtenportal Seznam Zpravy. Die ersten Patienten kamen kurz nach Mitternacht, am Morgen standen schließlich etwa 200 Menschen in der Schlange, wie das Tschechische Fernsehen berichtete. Sie bekamen einen Termin, wenn auch oft erst für Mai 2023, was aber eine wesentliche Verbesserung gegenüber der ursprünglichen Situation ist. Einige der Wartenden hatten schon seit mehr als einem Jahr versucht, einen Zahnarzt zu finden. Schon am nächsten Tag waren 800 neue Patienten aufgenommen die Praxis von Tomáš Kuča wieder hoffnungslos überfüllt.

Ganze Stationen schließen im Krankenhaus

In Tschechien fehlen nach Angaben der Ärztekammer derzeit etwa 2.000 bis 3.000 Ärzte. Wie schwer dieses Problem wiegt, ist je nach Fachgebiet und Region unterschiedlich. In Prag ist die Versorgung nach Angaben des Datenjournalismus-Portal Česko v datech noch am besten, tatsächlich versorgt die Hauptstadt aber auch die umliegende Region Mittelböhmen mit. In den ländlichen Gebieten nahe der Grenzen und in einigen sogenannten "inneren Peripherien" in Nord- und Südmähren (wo sich auch Hustopeče befindet) oder Südböhmen fehlen jedoch Fachkräfte. In einer Gegend sind es eher Gynäkologen, anderswo Kinderärzte oder Rheumatologen. Das Krankenhaus in Neratovice in Mittelböhmen musste schon seine Entbindungsstation schließen, das Krankenhaus in Chrudim in Ostböhmen hat wegen des Personalmangels keine Abteilung für Innere Medizin mehr.

Milan Kubek, im Bild, wurde am 19. Juni 2021 auf dem CLK-Kongress in Prag, Tschechische Republik, für weitere fünf Jahre zum Präsidenten der tschechischen Ärztekammer CLK gewählt.
Der Präsident der tschechischen Ärztekammer Milan Kubek ist alarmiert und fordert handfestere Maßnahmen der Politk gegen den Ärztemangel. Bildrechte: imago images/CTK Photo

"Der Ärztemangel ist ein langfristiges Problem, das sich weiter verschärft. Die Ärzte, die derzeit praktizieren, werden immer älter. Wenn alle, die schon im Rentenalter sind, tatsächlich in den Ruhestand gehen würden, würde die Gesundheitsversorgung zusammenbrechen", sagte Milan Kubek, Präsident der tschechischen Ärztekammer. Nach Angaben von Eurostat sind fast 17 Prozent der tschechischen Ärzte über 65 Jahre alt, während es in Deutschland nur sieben Prozent sind.

Kubek zufolge ist das tschechische Gesundheitssystem zudem kritisch unterfinanziert, die Gehälter unattraktiv. Die Ärzte selbst verweisen oft darauf, dass die Arbeitsbedingungen in Tschechien viel schlechter sind als zum Beispiel in Deutschland: Dutzende von Überstunden und wenig Raum für berufliche Entwicklung seien an der Tagesordnung. Ungefähr 400 von 1.000 jungen Ärztinnen und Ärzten, die jährlich ihr Studium an den medizinischen Fakultäten des Landes abschließen, bleiben nicht in Tschechien. Sie kommen entweder aus dem Ausland, haben auf Englisch studiert und haben ohnehin vor, weiterzuziehen. Oder sie kommen aus Tschechien und wollen ins Ausland gehen – vor allem nach Deutschland und Großbritannien.

Mehr Ärzte, aber auch immer ältere Bevölkerung 

Obwohl die Zahl der Ärzte in Tschechien in den letzten Jahren gestiegen ist, hat sich das Problem nicht entschärft. "Die Bevölkerung wird gleichzeitig älter, was leider auch bedeutet, dass die Menschen immer kränker werden und mehr medizinische Versorgung benötigen", erklärt Kubek das Paradox. Im Verhältnis zur Bevölkerung gibt es immer noch weniger Mediziner als in Deutschland: Während in der Bundesrepublik im Jahr 2020 laut Eurostat 447 Allgemeinmediziner und Fachärzte auf 100.000 Einwohner kamen, waren es in Tschechien nur 410.

Patientin bei Augenuntersuchung durch den Augenarzt, Karlsbad, Tschechien.
Nicht nur Fachärzte und -ärztinnen fehlen, sondern auch Allgemeinmediziner. Bildrechte: imago images / imagebroker

Ein besonders drängendes Problem ist derzeit, Kinder fachärztlich zu versorgen: Kinderpsychiater oder -  neurologen fehlen, denn sie benötigen einen doppelten Nachweis über ihre Spezialisierung. In Tschechien sei es viel komplizierter und teurer als in Deutschland, überhaupt einen solchen Nachweis zu bekommen, sagt Kubek. Das sei ein weiterer Grund für viele Medinzner, ins Ausland zu gehen.

Der Mangel in der Gesundheitsversorgung der Kinder ist sogar für die Bewohner von Prag schon spürbar, wie Tereza Smužová erleben musste. Als ihr Sohn drei Monate alt war, schickte ihn ein Kinderarzt in die Kinderneurologie, um den Verdacht auf gesundheitliche Komplikationen zu prüfen. "Ich rief die Klinik an, an die mich der Kinderarzt überwiesen hatte. Aber sie hätten meinen Sohn erst fünf Monate später aufnehmen können. Ich sollte mich bitte besser woanders hinwenden. Also habe ich angefangen, eine Praxis nach der anderen anzurufen", erzählt Tereza.

Aber bei allen Ärzten, bei denen sie sich meldete, nahm man entweder gar keine neuen Patienten auf oder bot einen Termin in sechs Monaten an. Manch eine Praxis existierte schon gar nicht mehr. "Nach 15 Versuchen war ich sehr verzweifelt. Erst dann nahm uns ein Arzt auf," sagt sie. Die Vorstellung, mit diesem Spezialisten nicht zufrieden zu sein und noch einmal suchen zu müssen, macht sie immer noch nervös.

Anreize für Ärzte: mehrere Tausend Euro oder eine Wohnung

Gemeinden und Regionen versuchen in dieser Situation, schon die Medizinstudenten für sich zu gewinnen, so wie die Karlsbader Region. Auch dort herrscht ein Mangel an Zahnärzten, Kinderärzten und Allgemeinmedizinern. Deshalb zahlt man beispielsweise Studierenden, die von dort kommen und auswärts Medizin studieren, 6.000 Euro pro Jahr. Im Gegenzug müssen sie sich verpflichten, nach dem Studium zur Arbeit in die Region zurückzukehren. Auch andere Regionen Tschechiens setzen materielle Anreize: Sie bieten Ärzten, die eine Praxis in einem medizinisch unterversorgten Ort eröffnen, Wohnungen, Grundstücke oder mehrere Tausend Euro an.

Nach Ansicht von Experten könnte die Einstellung von mehr Ärzten aus dem Ausland die Situation zusätzlich entschärfen. Interesse gibt es. So interessieren sich regelmäßig Mediziner aus der Ukraine und Weißrussland für einen Job in Tschechien. Der Vorsitzende der Ärztekammer Kubek meint allerdings, die Regierung tue zu wenig, um dem Ärztemangel auf diese Art zu begegnen: "Der Staat hat nie, wie von uns immer wieder gefordert, ein System geschaffen, um diese Ärzte anzuziehen. Er müsste ihnen ermöglichen, so schnell wie möglich Tschechisch zu lernen, die entsprechenden Prüfungen abzulegen und ihre Arbeit aufzunehmen." Mediziner aus dem Ausland können also den Mangel an Ärzten in Praxen und Krankenhäusern momentan nicht lindern. Und auch weniger Vorsorgeuntersuchungen können wie im Fall des Zahnarztes aus Hustopeče die angespannte Situation nur punktuell entspannen.

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MDR (usc)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | 13. November 2022 | 19:33 Uhr

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