WWF Living Planet Report 2020 Artenvielfalt: Zwei Drittel sind schon weg – eine Notbremse könnte helfen

11. September 2020, 18:00 Uhr

Weder alle Vögel sind noch da, noch sonst alle Tiere: Der Rückgang der Arten ist alarmierend, zeigt ein aktueller Report. Forschende aus Mitteldeutschland appellieren an die Politik, jetzt zu handeln. Denn es ist nur fast zu spät.

Vogel
Nur noch äußerst seltener Anblick: Rebhuhn, in freier Wildbahn, mitten in Europa. Bildrechte: imago images / Panthermedia

Kennen Sie ein Rebhuhn? Jetzt nicht aus dem Bilderbuch, ein echtes. Dieser Vogel ist ein idealer Kandidat, um das Dilemma vor der eigenen Haustür zu illustrieren. Der Name klingt vertraut, gesehen hat man – in freier Wildbahn – wahrscheinlich kaum eines. Ein schönes Tier mit ausgefallener Musterung auf dem Federkleid. Und den Männchen sagt man nach, sie könnten eine knarzende Tür imitieren – zumindest klingt ihr Ruf so. Irgendwie steht das Rebhuhn dafür, dass die heimische Fauna auch ganz schön aufregend und exotisch sein kann. Nur leider ist es weg, fast vollständig. Keine Rebhühner mehr, zwischen Großbritannien und Polen.

Den Planeten auf die Rote Liste setzen

Denn gerade im zentralen und westlichen Europa ist der Bestand innerhalb von 45 Jahren um neunzig Prozent zurückgegangen. Damit ist es auf der Roten Liste und reiht sich ein in eine lange Aufzählung bedrohter Arten, zu deren prominenten Vertretern sibirische Tiger und Berggorillas gehören. Irgendwie könnte man aber auch gleich unseren ganzen Planeten auf die Liste setzen, das zumindest signalisiert die aktuelle Ausgabe des Living Planet Report der Naturschutzorganisation WWF und der Zoologischen Gesellschaft London (ZSL), die jetzt veröffentlicht wurde. 68 Prozent, so groß ist der Rückgang der überwachten Tierpopulationen zwischen den Jahren 1970 und 2016. Das sind mehr als zwei Drittel.

Das zeigt der Living Planet Index, für den WWF "einer der Gradmesser des ökologischen Zustands der Erde". Über zwanzigtausend Wildtierbestände werden darin erfasst, gefährdete wie auch nicht gefährdete Arten, Säugetiere wie auch Insekten, Fische wie Vögel. Betrachtet man den Index für Gewässer und Feuchtgebiete, ist der Rückgang noch dramatischer und liegt inzwischen bei 84 Prozent. Die Gründe: Eingriffe des Menschen in die Natur – z.B. übermäßige Wasserentnahme, das verändern von Flussläufen oder das Einschleppen invasiver Arten.

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Warum es der Welt so schlecht geht? Die Gründe werden seit vielen Jahren weitläufig diskutiert und ändern sich auch nicht: Gerade der Lebensstil westlicher und Schwellenländer sorgt für anhaltende Probleme, die einhergehen mit Konsum und Urbanisierung. Auch der Klimawandel, der Verlust der Welt und nicht-nachhaltige Landwirtschaft sind alles Ursachen, die sich an einer Hand abzählen lassen. Neu hingegen dürfte das Bewusstsein sein, dass die Umweltzerstörung das Auftreten von Infektionskrankheiten wahrscheinlicher macht, auch auf diesen Umstand weißt der Bericht hin.

Blickt man auf die Index-Kurve, sieht das so aus, als würde sie allmählich abflachen. Erlösende Trendwende, doch nicht mehr alles so schlimm? Doch. Der WWF erklärt, dass lediglich neue Daten von nicht gefährdeten Arten hinzugekommen seien. Im Gegenteil: Wenn nicht gehandelt wird – oder vielleicht besser im Aktiv: wenn wir nicht handeln –, nimmt die Artenvielfalt kontinuierlich ab und dürfte im Jahr 2100 nur noch verschwindend gering sein im Vergleich zu 1970 (dann haben wir im Übrigen nicht nur im übertragenen Sinne nichts mehr zu lachen).

Andererseits bringt es nichts, den Kopf in den Sand zu stecken, finden die Forschenden am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig (iDiv). In einer aktuellen in Nature veröffentlichten Studie, die Teil des Living Planet Reports ist, sehen die iDiv-Fachleute sowie weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Politik in der Pflicht, alles daran zu setzen, diesen Trend umzukehren. Neben dem Schutz von Lebensräumen müsse Verlorengegangenes wiederhergestellt und gerade die Ernährungsgewohnheiten nachhaltig umgestellt werden.

Gefährdeter Regenwald, 2009
Der menschengemachte Rückgang der Wälder und Regenwälder ist ein Grund, für den alarmierenden Rückgang der Artenvielfalt. Bildrechte: imago images / JOKER

Forschende aus Mitteldeutschland: Naturräume schützen, Ernährung ändern

Nur wenn Schutz und Regeneration von Naturräumen sowie eine umgekrempelte Ernährung der Menschen Hand in Hand realisiert werden, würde sich der Trend stoppen lassen, so die Berechnungen. "Eine grundlegende Umgestaltung der Ernährungs- und Landnutzungssysteme brächte außerdem einen erheblichen Zusatznutzen", sagt Carsten Meyer vom iDiv. "Diese Maßnahme wäre ein großer Beitrag zur Erreichung der Klimaschutzziele und verringerte den Druck auf die Wasserressourcen und den Überschuss an reaktivem Stickstoff in der Umwelt, was sich auch förderlich für die menschliche Gesundheit auswirkt."

Unterm Strich: Wenn wir anfangen, die Arten zu retten, haben wir auch gleich selbst noch was davon. Und wenn wir alles richtig machen, stiefelt mit etwas Glück bald wieder ein Rebhuhn am Küchenfenster vorbei.

flo

Link zu den Studien

Hier geht es zum Living Planet Report (deutsch).


Die Studie Bending the curve of terrestrial biodiversity needs an integrated strategy erschien am 10. September 2020 im Fachmagazin Nature.

DOI: 10.1038/s41586-020-2705-y

2 Kommentare

Anni22 am 12.09.2020

Immer mehr Menschen brauchen immer mehr Ressource und wollen Wohlstand. Daraus folgt immer weniger Platz für Tiere und Pflanzen. Kaum noch unberührte Natur. Eine Lösung ist nicht in Sicht.

Freies Moria am 11.09.2020

Es fängt klein an: Wenn die Straßenränder regelmäßig, also mehrmals pro Jahr gemäht werden, weil es dann schöner (vulgo: ordentlicher) aussieht, so wird das Aussamen vieler Blumenarten gestört, die nur noch auf unbewirtschafteten Rändern überleben können. Mit diesen Pflanzen gehen Ökosysteme einher - Bienensterben als Stichwort.
Und Geld würde man auch sparen, wenn man die Ränder nur noch sparsam beschneidet, also so, daß keine Störung des Verkehrs erfolgt.

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