Feature "Wer den Wind sät" Ist das nur Sturm oder schon Klimawandel?
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22. November 2022, 14:54 Uhr
Nördlich von Halle ist der Wind allgegenwärtig. Alte und neue Windmühlen prägen die Landschaft, Wälder sind von Stürmen zerzaust. Und dann gab es 2015 auch noch einen außergewöhnlichen Sturm, der so manches Dach abgedeckt hat. Sind das noch normale Spielarten des Windes oder schon Vorboten der Klimakatastrophe? Wir liefern wissenschaftliche Antworten und erzählen Geschichten vom Wind.
7. Juli 2015, kurz nach 20 Uhr: Schwarze Wolken über Halle. Es sieht aus, als würde gleich ein üblicher sommerlicher Sturm über die Stadt ziehen. Aber die nördlichen Stadtteile und angrenzenden Dörfer erwartet etwas anderes. Viele kennen ähnliches bisher nur aus Filmen. Und wer diesen Abend in Lettin oder Trotha, in Heide-Nord oder Dölau miterlebt, wird ihn so schnell nicht wieder vergessen. Innerhalb weniger Minuten nimmt der Wind bedrohlich zu. Baumkronen stehen waagerecht im Sturm, Äste brechen, Dachziegel und ganze Dächer werden weggerissen. Kurze Zeit später verschwindet alles in einer tosenden grauen Regenwand, wie als wäre man unter Wasser. Zum Glück kommen keine Menschen zu Schaden, sondern nur Sachen: komplette Dächer, Autos oder auch starke Bäume, so wie die Nussbäume bei Wolfgang Heinrich in Lettin: "Die waren richtig rausgedreht, als ob man das mit dem Schraubenzieher gemacht hätte."
Ein schwer greifbares Phänomen
Was haben die Menschen in Halle und Umgebung an diesem Abend erlebt? Es ist objektiv gar nicht so leicht festzustellen. Wetterstationen sind in dieser Gegend eher rar gesät. Und obwohl es am selben Abend in weiten Teilen Deutschlands gewittert hat und an vielen Stationen Windgeschwindigkeiten über 100 km/h gemessen wurden, sind die starken Schäden nur in einem sehr kleinen Gebiet zu finden. Etliche Augenzeugen berichten von einem Tornado, also einer schmalen rotierenden Luftsäule, die man mit ihrer typischen Rüsselform vor allem aus Nordamerika kennt. Der Deutsche Wetterdienst geht später eher von einer Fallböe aus, auch Downburst genannt. Dabei fließt kalte Gewitterluft sehr schnell nach unten und sorgt am Boden für extreme, vertikale Winde. So selbstverständlich und allgegenwärtig er uns meistens erscheint: Wind ist ein schwer greifbares Phänomen, selbst für die moderne Wissenschaft. Doch warum ist das so? Und welche Winde erwarten uns in Zeiten des Klimawandels?
Den Wind vermessen
Wenn man mit Menschen im Nordraum vom Halle spricht, wo 2015 das Unwetter wütete, dann sagen viele: Der Wind ist zuletzt stärker geworden, irgendwie extremer. Stimmt dieser subjektive Eindruck? Ist dies womöglich ein Teil der Klimaerwärmung, die uns immer mehr Extremwetter bringt? Das zu überprüfen, ist gar nicht so einfach. Frank Kaspar, Klimaforscher beim Deutschen Wetterdienst, erklärt: "Wir behandeln unsere Wind-Daten immer mit besonderer Vorsicht." Denn Daten zum Wind hängen von vielen schwer kontrollierbaren Faktoren ab. Eine Messstation am Boden liefert ganz andere Zahlen als in einigen Metern Höhe. Bäume, Gebäude, Oberflächen: Das alles beeinflusst die Messung von Wind.
Ein Ort, an dem man den Wind ziemlich verlässlich messen kann, ist der Flughafen Leipzig-Halle. Hier kann er weitgehend ungehindert Anlauf nehmen. Die Messungen der letzten 31 Jahre geben einen ersten Überblick über die Windverhältnisse in der Umgebung von Halle. Dargestellt ist die tägliche Maximalböe, also die höchste gemessene Windgeschwindigkeit eines Tages. Rot markierte Spitzen gibt es immer wieder, von den 1990er-Jahren bis in die jüngste Vergangenheit, zuletzt bei der Wintersturm-Serie Anfang 2022. Aber ein allgemeiner Trend zu stärkerem Wind lässt sich nicht erkennen.
Das gilt auch, wenn man sich die Maximalböen in ganz Mitteldeutschland ansieht. Unsere interaktive Grafik zeigt den jeweils höchsten Wert eines Jahres, einmal im Berg- und einmal im Flachland. Während von 1967 bis 1990 in elf von 24 Jahren Böen mit mehr als 200 km/h gemessen wurden, kam das seitdem in 32 Jahren nur noch im Jahr 2018 vor. Und auch im Flachland wirkt der Geschwindigkeitstrend der stärksten Böen eines Jahres leicht rückläufig.
Extreme Windstärken hat es offenbar schon immer gegeben. Aber wie sieht es aus, wenn man die gesamten Windverhältnisse betrachtet und den jährlichen Durchschnitt der Windgeschwindigkeiten ermittelt? Die Messungen einer privaten Wetterstation in Brachwitz, nördlich von Halle, zeigen tatsächlich einen Anstieg der durchschnittlichen Windgeschwindigkeit, allerdings nur innerhalb der letzten 10 Jahre – zu kurz für Aussagen über das Klima.
Wenn man alle 174 Messstationen betrachtet, die es in Mitteldeutschland gab oder noch gibt, zeichnet sich ein Bild gewisser Konstanz – sowohl bei der maximalen Windgeschwindigkeit pro Tag als auch bei der minimalen.
Zusätzlich haben wir im folgenden Diagramm noch zwischen Flachland und Bergland unterschieden. Sie können mit der gelben Schaltfläche entscheiden, was angezeigt wird. Und beim Klick auf einen Datenpunkt in den Kurven, erscheinen zusätzliche Informationen.
Der Wind der Zukunft
Brauchen wir uns in Zukunft also keine Sorgen über stärkere Stürme zu machen, trotz Klimawandel? Frank Kaspar vom DWD sieht es differenzierter. Zunächst einmal kann er den gleichbleibenden Trend in der Vergangenheit bestätigen, den auch unsere mitteldeutschen Daten zeigen: "Wir haben regelmäßig Stürme. Aber grob betrachtet liegen wir da noch auf dem Niveau der Vergangenheit." Doch was sagt der Blick in die Zukunft? Auch die besten Klimaforscher besitzen keine Glaskugel. Allerdings können Sie zukünftige Entwicklungen simulieren, mit großen Datenreihen aus Messungen und mit Wissen über die Physik der Atmosphäre. Der Treibhauseffekt sorgt dort für unterschiedliche Prozesse, die den Wind der Zukunft beeinflussen können.
Zum Einen beobachten Forscher, dass sich die polaren Breitengrade durch die Erderwärmung besonders schnell aufheizen. Das liegt daran, dass es dort immer weniger Schnee und Eis gibt, die die Sonnenenergie reflektieren. Dadurch gleichen sich die Temperaturen zwischen kalten und warmen Zonen ein Stück weit an. Theoretisch könnte dieses Phänomen sogar für weniger Wind sorgen. Denn Wind entsteht immer durch Temperaturunterschiede. In der Klimaforschung haben manche schon vom bevorstehenden "Global Stilling" gesprochen, also vom weltweiten Stillstand des Windes. Allerdings gibt es dafür keinerlei Belege in den Messdaten der letzten Jahrzehnte. Mehr noch: Andere Phänomene in der Atmosphäre könnten durchaus dafür sorgen, dass der Wind in Zukunft stärker weht. Dass sich die Temperaturen angleichen, ist nämlich nur in Bodennähe zu beobachten. Weiter oben in der Atmosphäre sorgt die Erderwärmung, vereinfacht gesagt, für mehr Energie im System. Mehr Energie, die auch zu mehr Wind führen kann.
Keine Entwarnung, auch nicht beim Sturm
"Es sind also verschiedene Mechanismen gleichzeitig wirksam", erklärt Klimaforscher Frank Kaspar. "Daraus ergibt sich eine gewisse wissenschaftliche Unsicherheit. Um das abzufangen, werden verschiedene Klimamodelle international eingesetzt und miteinander verglichen. Und in der Summe ergeben sich dabei auch Analysen, die aufzeigen, dass das Sturmrisiko durchaus ansteigen kann." Solche Analysen kommen nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch von Versicherungen. Für sie ist es existenziell wichtig, zukünftiges Extremwetter und damit auch zukünftige Versicherungsschäden vorherzusagen. Der Gesamtverband der Versicherer sagt voraus, dass Winterstürme bis zum Jahr 2100 heftiger werden und deutlich mehr Schäden anrichten könnten.
Was der Wind mit sich bringt
Bei solchen Prognosen spielen allerdings sehr viele Faktoren zusammen. Einzelne Aussagen über den Wind lassen sich schwer ableiten. Denn zum einen steigen die Versicherungsschäden auch dann, wenn die Häuser und Straßen teurer werden – ganz unabhängig vom extremen Wetter. Zum anderen ist es nicht der Wind allein, der Schäden anrichtet. Er wirkt oft zusammen mit Regen, Schnee oder Hagel, aber auch mit Hitze und Trockenheit. Und gerade in diesem Zusammenspiel bekommt der Wind der Zukunft seine zerstörerische Kraft. Dass der Klimawandel zu mehr Starkregen führt, ist wissenschaftlich belegt und spätestens seit den massiven Überschwemmungen im Westen Deutschlands 2021 im kollektiven Bewusstsein. Das heißt: Auch wenn der Wind in Zukunft genau so stark weht wie heute, kann er sehr viel größere Schäden anrichten. Das gilt vor allem für Sturmserien, wie beispielsweise das Trio aus "Ylenia", "Zeynep" und "Antonia", das im Februar 2022 über Deutschland hinweggezogen ist. Laut Angaben der deutschen Versicherungswirtschaft haben allein diese drei Stürme Schäden von 1,4 Milliarden Euro angerichtet.
Vorbereitet sein
Und was ist mit der heftigen Fallböe über Halle im Juli 2015, die so viele Bäume entwurzelt und ganze Dächer weggefegt hat? Ist es eine normale, wenn auch seltene Spielart der Natur oder doch ein Zeichen des Klimawandels? Auch hier gelten dieselben wissenschaftlichen Schwierigkeiten wie bei Aussagen über die Windgeschwindigkeit. Denn Fallböen und sogar Tornados kennt man in Europa schon seit dem Mittelalter. Pforzheim 1968 mit zwei Toten und hunderten Verletzten, Paderborn im Mai 2022 mit über 40 Verletzten: Es sind nur zwei extreme Fälle von vielen kleinen und größeren Tornados, die jedes Jahr in Deutschland gesichtet werden.
Thomas Globig, Meteorologe und früherer MDR-Wettermoderator, sagt: "Wir können wirklich nur beten, dass so ein Tornado nicht einmal durch eine deutsche Großstadt pflügt. Aber es ist möglich, vielleicht in fünf oder zehn, vielleicht auch erst in hundert Jahren." Letztlich kann man für Tornados und andere extreme Windereignisse feststellen: Wir wissen noch nicht sicher, ob sie in Zukunft stärker werden. Es ist aber hochwahrscheinlich, dass sie in Verbindung mit Starkregen oder Trockenheit größere Schäden anrichten als bisher. Deshalb – das betont auch Frank Kaspar vom Deutschen Wetterdienst – müssen wir vorbereitet sein. Und "wir" bedeutet in diesem Fall: Behörden, Katastrophenschutz, Versicherungen und letztlich jede einzelne Person. Dass es bei der Vorbereitung auf Naturkatastrophen hierzulande Nachholbedarf gibt, hat nicht zuletzt das verheerende Hochwasser im Juli 2021 gezeigt. Viele damit verbundene Diskussionen über Frühwarnsysteme, Sirenen, Baugenehmigungen oder auch Reaktionen der Landespolitik halten bis heute an.
Feature: "Wer den Wind sät"
Der Wind ist nicht nur ein Thema für die Wissenschaft. Er hat die Menschen schon immer zum Erzählen gebracht. Er haucht, bläst und stürmt schon bei Homer und im alten Testament, aber auch in unserer Alltagssprache. "Wer den Wind sät" heißt ein neues Feature bei MDR-Kultur. Autor Tobias Barth blickt dafür aus einem Dachfenster am nördlichen Halleschen Stadtrand, also genau dort, wo 2015 der außergewöhnliche Sturm wütete. "Wer den Wind sät" erzählt von windzerzausten Wäldern, von alten und neuen Windmühlen, von Autobahnen und alternativen Lebensformen. Anhand der Windrose mit ihren vier Himmelsrichtungen zeichnet es ein Panorama des Windes in Zeiten des Klimawandels.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR | 26. November 2022 | 18:00 Uhr
O.B. am 22.11.2022
Das ist Sturm. Ca 1980 gab es auf Usedom Orte die von der Ostsee überflutet wurden. Autos standen im Wasser. Keine hätte gesagt die Welt geht unter. Es war einfach ein sehr heftiger Herbststurm.