Sweeney Todd an der Staatsoperette Dresden
Bildrechte: Pawel Sosnowski

Rezension Stephen Sondheims "Sweeney Todd" – von Martin G. Berger nüchtern kapitalismuskritisch an der Staatsoperette Dresden inszeniert

23. Oktober 2023, 16:15 Uhr

Man könnte es auch "unmusicalhaft" nennen, wie ein rachsüchtiger Figaro aus Rachedurst seinen Kunden die Kehle durchschneidet. So entfaltet sich Stephen Sondheims rabenschwarzes Musical "Sweeny Todd" jedenfalls, das am 21. Oktober Premiere in der Staatsoperette Dresden feierte. Zeitgenössische Kapitalismuskritik, meint MDR KLASSIK-Kritiker Manuel Brug.

Der Ende 2021 im Alter von 91 Jahren gestorbene Stephen Sondheim war ein Paradoxon: Der ewig Schwierige wie Geniale, der Zeit seines langen Komponisten- wie Texterlebens meist vergeblich versucht hat, die so fernen Klang- und Erlebniswelten des Massen-Entertainments mit den dünnen Höhen intellektueller Kunstmusik zu verbinden. Seinen größten Erfolg feierte er freilich ausgerechnet mit der blutigen Ballade vom dämonischen Barbier aus der Londoner Fleet Street.

"Sweeney Todd", so tiefschwarz wie kultisch verehrt, war 1979 das erste mit einem Pulitzer-Preis bedachte Musical. Dabei schneidet hier ganz und gar "unmusicalhaft" ein rachsüchtiger Figaro, dem ein fieser Richter die Frau geklaut hat, aus Rachedurst seinen Kunden die Kehle durch. Deren Reste lässt er von der miesen Köchin Mrs. Lovett zu den plötzlich wohlschmeckendsten Fleischpasteten Londons verwursten. Sondheim mixt dabei viktorianisches Schauerdrama, französische Grand-Guignol-Krudität und Bertolt Brechts Sachlichkeit mit Kurt Weills klappriger Kabarettmusik und Bernard Herrmanns spitzen Streichertremoli.

Sweeney Todd: Zum ersten Mal an der Dresdner Staatsoperette

Johnny Depp als Sweeney Todd, 2007
Johnny Depp in der Titelrolle des Tim Burton-Films "Sweeney Todd", 2008. Bildrechte: imago/EntertainmentPictures

Opernbass-Star Bryn Terfel hat den Sweeney mehrere Male gesungen. An der Komischen Oper Berlin war Dagmar Manzel die fiese Mrs. Lovett. Und 2008 spielte Jonny Depp mit wenig Stimme die Titelrolle in der exzentrischen Verfilmung durch Tim Burton. Gegenwärtig feiert ein Revival am Broadway Triumph. Und nun ist das im dreckig-grauen London des späten 19. Jahrhunderts spielende Stück erstmals an der Dresdner Staatsoperette herausgekommen. Regie führte der hier schon mit "Follies" erfolgreiche Sondheim-Fan Martin G. Berger.

Eine Inszenierung ganz ohne "Gassenekel"

Und erstaunlich ist auch, dass das eigentlich so bluttriefende wie unterhaltsam-böse Werk im Dresdner Kraftwerk Mitte gar nicht kunstfertig gosseneklig erscheint, so ohne Ratten und stinkigem Straßengesindel auf der Bühne. "Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral", zitiert Berger Brecht – noch bevor die Orgel losdonnert und das Orchester hinter eine Gitterwand sichtbar wird.

Sweeney Todd an der Staatsoperette Dresden
Richter Turpin (Elmar Andree), der nach Johanna Barker (Julie Sekinger) giert. Bildrechte: Pawel Sosnowski

Der flott, aber auch mit der gebotenen Portion lauerndem Drama-Dunkel aufspielende Peter Christian Feigel befindet sich mit seinen Instrumentalisten auf der Szene. Um sie herum, auf einem sich drehenden Rundgang, prosten sich die Reichen zu, darunter auch der verschlagene Richter Turpin. Elmar Andree gibt ihn eiskalt beamtennüchtern. Selbst wenn er nach "schönen Frauen" in Gestalt von Sweeneys Tochter Johanna (mit starkem Sopran: Julie Sekinger) giert. 

Sweeney Todd an der Staatsoperette Dresden
Hinrich Horn als Sweeney Todd. Bildrechte: Pawel Sosnowski

Die, welche für "die da oben" das Geld verdienen, sie stehen als graue Masse vor dem Zaun auf dem überbauten Orchestergraben. Fährt dessen Blechsteg auseinander, so tut sich darunter ein höllisch dampfendes Loch auf: Leichenentsorgungsort für die von Sweeney meist vergasten (!) Zufallsopfer sowie Zuflucht für die, welche gar nichts mehr haben.

Zeitgenössische Sozial- und Kapitalismuskritik

Bei Berger ist das schnörkelige Metzelstück ganz zeitgenössische Sozial- und Kapitalismuskritik. Weil Sweeney Todd das Unrecht nicht stoppen kann, an den Richter nicht rankommt, will er Rache und mordet andere. Und es profitiert Mrs. Lovett, die mit viel frischem Pastetenfleisch plötzlich erfolgreiche Unternehmerin wird. Silke Richter spielt diese abstoßend-horrorgemütliche Person mit den eskapistischen Rentnerinnenträumen in ihren goldenen Boots und dem rosa Kostümchen so ordinär wie nötig und so mütterlich-gewitzt-verschlagen wie möglich. Fast bleiben einem die Musical-Bisse im Halse stecken. Man sieht, wie die kannibalische Bäckerei zum Lieferkonzern mutiert, der selbst wieder andere ausbeutet.

Sweeney Todd an der Staatsoperette Dresden
Silke Richter als Mrs. Lovett. Bildrechte: Pawel Sosnowski

Als betrügerischer Konkurrenzbarbier musste bereits der als "Italo-Opernparodie" angelegte Adolfo Pirelli (Václav Vallon) als erster mit dem Leben bezahlen. Sein dusselig-freundlicher Gehilfe Toby (Riccardo Romeo) rächt ihn schließlich. Auch der schmierig-sülzige Büttel Bamford (Dietrich Seydlitz) wird für seine infamen Intrigen tödlich bestraft. Doch alle überstrahlt in bass-schwarzer Fülle der wirklich tolle Hinrich Horn in der Titelrolle.

"Nur Fressen, keine Moral"

Das ist keine leichte Kost. Wer auf seichte Unterhaltung gepolt ist, der mag sich bei dieser grusel-grausamen Schlachtschüssel den Magen verderben. Denn ohne jeden nostalgischen Ausstattungszauber, in hartem Licht, direkt, brutal – wenn auch fast ohne Blut – arbeitet das richtig starke Ensemble samt Chor die glasklare Botschaft heraus: Der Mensch ist des Menschen Wolf, auch wenn er Gutes will und trotzdem im Bösen landet. In seinem Blutrausch mordet Sweeney Todd sogar seine verlorengeglaubte Frau (Dimitria Kalitzki), bevor er endlich ausgeschaltet wird, um wieder aufzuerstehen.

Immerhin darf Gero Wendorff als in Johanna verliebter Anthony weiterhin an die große Liebe glauben. Ob sie ihm gewährt wird? Martin G. Berger sieht sicher auch das skeptisch. So, wie der eine sentimental-schwarze, sinister-walzerselige Operette zaubernde Stephen Sondheim. Hier gibt es nur Fressen, keine Moral.

Weitere Termine an der Staatsoperette Dresden: Di, 24.10.2023; Mi, 25.10.2023; Sa, 11.11.2023 sowie weitere Termine im November, Dezember 2023 und Januar 2024.

Dieses Thema im Programm: MDR KLASSIK | MDR KLASSIK am Morgen | 23. Oktober 2023 | 09:10 Uhr

Meistgelesen bei MDR KLASSIK

MDR KLASSIK auf Social Media