Klaus Bräunig schaut aus dem Fenster des Gefängnisses.
Klaus Bräunig sitzt seit über 50 Jahren im Gefängnis - und könnte den Doppelmord, weswegen er schuldig gesprochen worden war, gar nicht begangen haben. Bildrechte: MDR Investigativ

Wiederaufnahme von Strafverfahren Fehlurteile: Bei Zweifeln gegen den Verurteilten?

25. August 2023, 05:00 Uhr

Das Urteil lautet lebenslänglich. Doch was ist, wenn es falsch ist? Wenn gar nicht der Mörder hinter Gittern gelandet ist, sondern ein Unschuldiger. Dann wird es schwierig, denn Urteile in Strafprozessen lassen sich nur schwer überprüfen und eine Wiederaufnahme ist sehr teuer.

Seit 13 Jahren sitzt Andreas Darsow im Gefängnis. Verurteilt wurde er zu lebenslanger Haft, weil er seine Nachbarn erschossen und deren behinderte Tochter schwer verletzt haben soll. Andreas Darsow bestreitet die Tat bis heute. Seine Ehefrau kämpft seit dem Urteil für eine Wiederaufnahme des Verfahrens, sie ist von der Unschuld ihres Mannes überzeugt: "Es war einfach wie so ein Schock. Wir hätten das einfach nicht gedacht, dass mein Mann für diese Tat auch noch verurteilt wird, die er nicht begangen hat", sagt Anja Darsow.

Der Doppelmord geschah am 17. April 2009 im hessischen Babenhausen. Die Polizei ermittelte ein Jahr lang, schließlich nahm sie Andreas Darsow fest, der mit seiner Familie im direkt anliegenden Reihenhaus wohnte. Als Motiv sahen die Ermittler anhaltende nächtliche Ruhestörungen durch die Mordopfer. Die Familie Darsow hätte sich durch den Lärm ihrer Nachbarn massiv beeinträchtigt gefühlt. Ein Alibi für die Mordnacht konnte Andreas Darsow nicht vorweisen, seine Frau war mit den Kindern in dieser Nacht bei Verwandten. Weitere belastende Indizien waren Schmauchspuren, die sich an Andreas Darsows Kleidung fanden, des Weiteren wurde von seinem Arbeitsplatz aus recherchiert, wie man einen Schalldämpfer bastelt.

Wir meinen, dass hier in diesem Verfahren ganz klar der Grundsatz hätte gelten müssen: "Im Zweifel für den Angeklagten."

Verteidiger von Andreas Darsow

Das Urteil ist bis heute umstritten: Am Tatort konnten damals keine DNA-Spuren von Andreas Darsow gefunden werden, Spürhunde der Polizei hatten auch auf Geruchsspuren von Darsow nicht reagiert. Weder die Tatwaffe konnte gefunden werden, noch gab es Tatzeugen, die Andreas Darsow belasteten. Die einzige Zeugin, die geistig behinderte Tochter der Mordopfer, sprach im Krankenhaus von "Tätern", auf ein Foto von Andreas Darsow reagierte sie nicht. Strittig war, ob die festgestellten Schmauchspuren aus Darsows Bundeswehrzeit stammten. Strittig war, ob es tatsächlich Darsow selbst war, der auf seinem Arbeitscomputer aus die Schalldämpfer-Seite im Internet aufgesucht hatte. Sein Verteidiger erklärte nach dem Urteil: "Wir meinen, dass hier in diesem Verfahren ganz klar der Grundsatz hätte gelten müssen: "Im Zweifel für den Angeklagten."

Eine Revision gegen das Urteil blieb erfolglos. Allerdings: Bei einer Revision wird immer nur geprüft, ob formale Fehler vorliegen – es gibt keine gründliche inhaltliche Prüfung, es ist keine zweite Tatsacheninstanz. Um einen Mordprozess neu aufzurollen, werden neue Anhaltspunkte für die Unschuld benötigt, nur so ist eine Wiederaufnahme überhaupt durchsetzbar.

Wiederaufnahme: Hohe Hürden und hohe Kosten

Neue Anhaltspunkte zu finden, ist schwierig: "Das heißt, man führt selbst Vernehmungen durch, man kontaktiert Sachverständige, und das ist natürlich alles exorbitant viel Aufwand", sagt die Rechtsanwältin Carolin Arnemann aus München. Die Strafverteidigerin hat sich auf Wiederaufnahmerecht spezialisiert und stellt fest, dass dieser Aufwand für die Mandanten mit großer Unsicherheit verbunden sei. "Man weiß nicht, ob am Ende des Tages etwas rauskommt, was ausreicht für einen Wiederaufnahmeantrag."

Für Wiederaufnahmeanträge sind die Hürden hoch. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts in Niedersachsen (KFN), an der auch Professorin Renate Volbert, Rechtspsychologische Gerichtsgutachterin an der FU Berlin, mitgearbeitet hat: "Das Problem ist, dass das oft mit Kosten verbunden ist, zum Beispiel neue Sachverständigen-Gutachten einzuholen, und dass die Verurteilten die finanziellen Mittel nicht haben, diese Kosten zu tragen."

Wie viele Urteile sind falsch?

Wie viele Versuche, Justizirrtümer aufzuklären, schon am fehlenden Geld scheitern, ist unbekannt. Es gibt keine Zahlen: Nicht einmal darüber, wie viele Fehlurteile es gegeben hat, lässt sich etwas herausfinden. "In vielen Bundesländern gibt es keine klaren Statistiken. Manchmal werden Zahlen ausgewiesen. Man fragt sich aber ein bisschen, wie die zustande kommen", erklärt Volbert.

Es kursieren nur Schätzungen. Jedes vierte Strafurteil sei falsch – so äußerte sich 2015 ein Richter am Bundesgerichtshof. "Bei mir melden sich im Durchschnitt im Monat drei bis fünf Leute, um ein Wiederaufnahmeverfahren zu führen", so Anwältin Arnemann. "Es ist schon eine hohe Anzahl von Personen, die sich melden und die sich tatsächlich auf den Standpunkt stellen: Ihr Urteil ist nicht richtig und Hilfe suchen."

Was ist bei der Verhandlung geschehen?

Hilfe bei Anwältin Arnemann suchte etwa auch Klaus Bräunig aus der JVA in Diez in Rheinland-Pfalz. Im Gefängnis sitzt der Mann seit 53 Jahren. Er soll im April 1970 eine Ärztin und ihre Tochter in Mainz brutal ermordet haben. Auch in diesem Fall gab es keine Beweise, keinerlei Spuren von ihm am Tatort, keine Zeugen. Aber: Er gestand den Doppelmord, widerrief sein Geständnis. So ging das dreimal. In tagelangen Verhören ohne Anwalt.

Seit Jahrzehnten bemühen sich Anwälte vergeblich um eine Wiederaufnahme, sie gehen davon aus, dass es sich im Fall Bräunig um ein "falsches Geständnis" handelt. Falsche Geständnisse sind eine häufige Ursache von Fehlurteilen. Sie kommen zustande, wenn Verdächtige polizeilichen Verhören nicht gewachsen sind. Jetzt hat Carolin Arnemann den Fall von Klaus Bräunig übernommen. Sie stieß auf ein zusätzliches Problem: Ein Großteil der Akten ist unauffindbar, es gibt keine einzige Spurenakte mehr. Sie kann kaum nachvollziehen, wie damals ermittelt wurde. Das macht neue Ermittlungen schwer.

Die Aufbewahrung von Akten und Beweismaterial wird von Staatsanwaltschaft zu Staatsanwaltschaft unterschiedlich gehandhabt, wie aus der KFN-Studie hervorgeht. "Es ist manchmal auch schwierig nachzuweisen, was in einer Hauptverhandlung genau geschehen ist, weil es keine Protokolle über diese Hauptverhandlung gibt", sagt Gutachterin Volbert. Fakt ist: Ein Recht darauf, dass Akten aufbewahrt werden, haben Verurteilte nach einem rechtskräftigen Urteil nicht.

Das macht es im Nachhinein schwer, etwa Zeugenaussagen zu bestimmten Tatsachen nachzuvollziehen. "Wenn es jetzt beispielsweise um Tatsachen geht, die ein Zeuge berichtet, der schon in der ersten Verhandlung ausgesagt hat, dann stellt sich natürlich die Frage, hat dieser Zeuge des damals berichtet oder nicht", erklärt Anwältin Arnemann. Auch Renate Volbert hat schon erlebt, dass Aussagen, die sie vor Gericht als Gutachterin machte, im Urteil falsch wiedergegeben wurden. Das Problem: Es gibt keine Protokolle. Richter müssen sich bei selbst bei wochenlang andauernden Strafprozessen auf handschriftliche Notizen verlassen. "Das ist eine Fehlerquelle", sagt Renate Volbert.

Gerichts-Verhandlungen sollen aufgezeichnet werden

Wir wollen jetzt endlich den Strafprozess aus der Kaiserzeit ins 21. Jahrhundert holen.

Stephan Thomae FDP-Bundestagsfraktion

Deshalb wollte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP), dass Hauptverhandlungen vor dem Strafgericht künftig mit Audio- und Video aufgezeichnet werden. Einen Gesetzesentwurf legte sein Ministerium schon Ende letzten Jahres vor. In den meisten EU-Ländern sind solche Aufzeichnungen längst Standard. Nun sei die Einführung in Deutschland überfällig, meint der Parlamentarische Geschäftsführer der FDP-Bundestagsfraktion, Stephan Thomae: "Wir wollen jetzt endlich den Strafprozess aus der Kaiserzeit ins 21. Jahrhundert holen. Dazu gehört auch, das Wegkommen davon, dass der Richter in einem ganz, ganz wichtigen Strafverfahren sich allein auf handschriftliche Aufzeichnungen stützen muss."

Der Politiker ist auch als Rechtsanwalt tätig und ergänzt: "Gerade im Strafverfahren, wo der Staat ja so tief wie nirgends sonst in Rechte von Menschen, in Freiheitsrechte, eingreift, kommt es auch auf Fehlervermeidung an. Deswegen sollte ganz genau nachvollzogen werden können, was denn der Zeuge wirklich gesagt hat."

Nur ein Kompromiss im Bundesrat

Das könnte eine Entlastung für die Richter sein, doch der Deutsche Richterbund wehrt sich dagegen. Er lehnt Aufzeichnungen von Strafprozessen ab – und auch ein Interview mit MDR Investigativ vor der Kamera. Der Richterbund verweist auf eine Stellungnahme zum Gesetzesentwurf vom Mai 2023. Danach "[…] verletzt eine audiovisuelle Dokumentation der Hauptverhandlung die Persönlichkeitsrechte der Verfahrensbeteiligten und droht, die Wahrheitsfindung im Strafverfahren zu beeinträchtigen [...]."

Gegenwind zum Vorhaben des Bundesjustizministers kommt auch aus einigen den Bundesländern – die sehen technische und auch finanzielle Probleme auf sich zukommen: "Leider haben wir bei der Digitalisierung noch sehr viel Nachholbedarf. Und genau da sehe ich auch den größten Schwachpunkt in der Idee", sagt die Justizministerin von Thüringen, Doreen Denstädt (Bündnis 90/ Die Grünen): "Im Grunde bin ich großer Fan von Digitalisierung und Fortschritt, aber an dieser Stelle muss ich sagen: Da müssen wir eins nach dem anderen machen, und es muss Hand und Fuß haben. Ansonsten wird es sehr, sehr teuer."

Gegen den im Mai vorgelegten Kabinettsentwurf, der jetzt nur noch eine Tonaufzeichnung von Verhandlungen vorsieht, gab es im Bundesrat zwar Bedenken, im Grundsatz wurde dem Regierungsvorhaben aber zugestimmt. Der Gesetzesentwurf, so heißt es in einer Pressemitteilung des Bundesjustizministers, "schafft die gesetzlichen Grundlagen für die digitale Dokumentation der erstinstanzlichen Hauptverhandlungen vor den Land- und Oberlandesgerichten in Strafverfahren. Zentraler Bestandteil des Entwurfs ist neben der Aufzeichnung der Hauptverhandlung auch die automatisierte Übertragung der Tonaufzeichnung in ein Textdokument." Dadurch werde der Nutzen der Dokumentation für die Verfahrensbeteiligten noch einmal stark erhöht. Ihnen soll auch ein möglichst zeitnaher Zugriff auf die Dokumentation gewährleistet werden.

Gesetz könnte noch 2023 beschlossen werden

"Von der Dokumentation der Hauptverhandlung sollen sämtliche Verfahrensbeteiligte profitieren, denn sie erhalten dadurch ein verlässliches, objektives und einheitliches Arbeitsmittel zur Aufbereitung der Hauptverhandlung", heißt es in der Mitteilung weiter. "Sie können sich dadurch noch besser auf den Prozess konzentrieren. Darüber hinaus wird das Risiko noch weiter reduziert, dass ein Urteil auf falsch wahrgenommene oder erinnerte Aussagen in der Verhandlung gestützt wird." Das Gesetz wird in den nächsten Wochen im Bundestag in die Beratung gehen, der Termin für die erste Lesung ist noch nicht bekannt. Es könnte noch in diesem Jahr beschlossen werden.

Auch wenn Strafverteidiger Videoaufzeichnungen befürwortet haben, es ist wenigstens ein Schritt in die richtige Richtung, sagt Rechtsanwältin Carolin Arnemann. Auch Gerhard Strate sieht das so. Der Hamburger Rechtsanwalt ist für spektakuläre Wiederaufnahmeprozesse bekannt und hat auch den Fall von Andreas Darsow übernommen.

 "Die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit ist begrenzt, und sie ist auch begrenzt bei Richtern", so Strate. "Also eine bessere Dokumentation des Geschehens in der Hauptverhandlung ist immer begrüßenswert."

Anja Darsow kämpft inzwischen seit 13 Jahren für eine Wiederaufnahme des Verfahrens. Sie hofft, dass es ihrem Anwalt nun gelingen wird, den Prozess gegen ihren Mann noch einmal aufzurollen. Sollte das nicht gelingen, wird er im Gefängnis bleiben. 13 Jahre seiner Strafe hat er bereits verbüßt. Aufgrund der besonderen Schwere der Schuld können noch weitere zehn Jahre dazu kommen.

Dieses Thema im Programm: Das Erste | FAKT | 15. August 2023 | 21:45 Uhr

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