Ladensterben auf dem Land So kämpfen Dörfer um ihre Lebensmittelmärkte

09. November 2023, 05:00 Uhr

Die ländlichen Regionen im Osten Deutschlands leeren sich zusehends. In Sachsen zum Beispiel haben die Landgemeinden in fünf Jahren vereinzelt jeden zehnten Einwohner verloren. Das wirkt sich auch auf den Lebensmittel-Einzelhandel aus. Weil es immer weniger Käufer gibt, machen immer mehr Läden zu. Gleichwertige Lebensverhältnisse in Stadt und Land sehen anders aus. Und so gibt es überall Bestrebungen, das Ladensterben aufzuhalten.

Fast jeden Vormittag gegen zehn geht Edda Kusch einkaufen. Sie hat es nicht weit. Den Dorfladen in Abtsdorf bei Wittenberg erreicht sie bequem zu Fuß. "Ich habe Katzen. Ich kauf' alles ein hier. Butter brauch' ich heute nicht, hab' ich gestern erst gekauft", erzählt Kusch.

Ein Mann und eine Frau in einem Laden im Gespräch
Marktinhaber Guido Martschei (links) spricht an der Kasse mit Edda Kusch, die fast täglich dort einkauft. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Doch damit ist bald Schluss. Zum Jahresende wird Inhaber Guido Martschei seinen Laden schließen. Edda Kusch muss dann woanders einkaufen. "Das ist schlimm für mich. Ich gehe jeden Tag einkaufen. Ich glaube ich bin die beste Kundin", sagt die Rentnerin. Wie es weiter geht? "Na ja, ich habe meinen Schwiegersohn. Der muss dann wohl in Wittenberg in der Stadt einkaufen. Ist alles nicht so einfach."

Kaum neue Gesichter im Dorfladen

Abtsdorf hat 1.200 Einwohner, einen Bäcker und einen Friseur. Die einzige Gaststätte hat schon vor Jahren zugemacht. Nun ist der Dorfladen dran. Hier haben sich die meist älteren Kundinnen immer zum Schwätzchen getroffen. Eine Dame erzählt: "Es gab ja auch immer alles. War ja eigentlich nicht schlecht." Eine andere Kundin weist aber auch darauf hin, dass man kaum neue Gesichter sehe. "Die jungen Leute kommen nicht. Die haben ja alle ein Auto. Die kommen von der Arbeit, halten dann irgendwo an und kaufen ein."

Zwei Frauen auf der Straße
Zwei ältere Damen unterhalten sich vor Dorfladen in Abtsdorf – die jungen Leuten würden nicht hier einkaufen, beklagen sie. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

1994 hat Guido Martschei seinen Laden eröffnet – damals mit vier Angestellten. Heute ist er allein. Die Verkaufsfläche war einst mehr als doppelt so groß. Der Laden ist immer weiter geschrumpft. Vor den Durchgang zu einem weiteren Raum stellte er ein Regal. "Um den Anschein zu erwecken, dass noch alles gut ist", erklärt Martschei. "Ja, hier war früher der Fleischer, der Backshop und mehr als 26 Jahre lang die Post. Alle weg."

Seit Beginn der Inflation ist der Umsatz eingebrochen. Er macht keinen Gewinn mehr. Der Laden ist nur noch vier Stunden am Tag geöffnet. Schon um 11 Uhr beginnt die Mittagspause. "Dann bekommen meine älteren Damen ihr Essen auf Rädern. Da sind sie zu Hause, es wird Mittag gegessen, ein Schläfchen gemacht und anschließend Rote Rosen geschaut. Bevor das nicht zu Ende ist, brauche ich auch nicht wieder aufmachen", erklärt Martschei und lacht.

Martschei: "Es reicht nicht, um den Laden weiter zu betreiben"

Am Nachmittag verkauft Guido Martschei vor allem Bier und Schnaps. Doch es reicht nicht, um den Laden weiter zu betreiben. Nach 30 Jahren gibt er auf. "Als die Einnahmen geringer waren als die Ausgaben – das war ein eindeutiges Zeichen." Martschei ist sich sicher: "Das ist dann das Ende, das uns bevorsteht." Bis Ende November will er noch Ware bestellen. Vor Weihnachten ist Schluss.

Als die Einnahmen geringer waren als die Ausgaben – das war ein eindeutiges Zeichen.

Guido Martschei, Inhaber des Dorfladens in Abtsdorf
Einen Frau im Büro.
Thüringens Infrastrukturministerin Susanna Karawanskij will sich dafür einsetzen, dass Dordläden bestehen bleiben. Bildrechte: MDR/exakt

Seit Jahrzehnten sterben immer mehr Läden auf dem Land. Ein Problem, das sich laut neuer Studien gerade verschärft, sagt Thüringens Infrastrukturministerin Susanna Karawanskij. "Wir haben den Rückzug vor allen Dingen in den kleineren Gemeinden, in den Dörfern des Einzelhandels jetzt noch mal verschärft auch nach Corona zu verzeichnen", erklärt die Linken-Politikerin. "Und da müssen wir eingreifen, weil wir natürlich sicherstellen müssen, dass Daseinsvorsorge auch tatsächlich da ist."

Zu DDR-Zeiten hatte jedes Dorf einen Laden. Konsum und HO gewährleisteten eine flächendeckende Nahversorgung, Konkurrenz durch Discounter gab es nicht. Doch nach der Wende änderte sich das. Die meisten der Läden auf dem Land wurden geschlossen.

24-Stunden Tante-Emma-Laden in Grabe strauchelt

In Grabe bei Mühlhausen hat die letzte Kaufhalle 1994 ihre Türen geschlossen. Lange Zeit hatten die 650 Einwohner keinen Laden. Im Januar dieses Jahres änderte sich das. In Emmas Tag- und Nacht-Markt können sie wieder einkaufen. Betrieben wird der Laden von Orts-Bürgermeister Karsten Lutze. "Wenn man reinkommt, geht es natürlich mit den schönen Sachen los, also den Knabbereien. Und ich sage mal, das, was so für einen gemütlichen Abend vor dem Fernseher da ist", sagt Lutze.

Ein Mann im Rollstuhl im Supermarkt.
Für Ortsteil-Bürgermeister Karsten Lutze war es keine Option, dass der Tante Emma Laden einfach schließt. Bildrechte: MDR/exakt

Zur Eröffnung war der Andrang groß. Der Laden war einer von vier neuen Selbstbedienungs-Läden in Thüringen. Diese haben rund um die Uhr geöffnet und arbeiten fast ohne Personal. Die Hoffnung ist groß. Doch nur einen Monat später ist der damalige Betreiber — eine Firma aus Erfurt — insolvent. Für Bürgermeister Lutze war das abzusehen. "Die Abläufe funktionierten nicht. Ware kam nicht nach, man wurde vertröstet, es gab viele Ausflüchte auf Fragen."

Karsten Lutze springt als Betreiber ein. Gerade ist die Kasse abgestürzt. Jetzt muss er das System neu starten. Seine Frau füllt Regale auf. Zehn Stunden pro Woche arbeiten die beiden ehrenamtlich im Laden. Für Susan Lutze und ihren Mann ist es ein Herzensprojekt: "Wir versuchen den Laden ordentlich am Laufen zu halten, bis es einen neuen Betreiber gibt." Es sei ihnen ein inneres Bedürfnis, dass es hier weiter geht.

Thüringen fördert Laden-Projekte im ländlichen Raum

Fast 400.000 Euro haben Land und Kommune in den Laden gesteckt. Er gilt als Pilot-Projekt. Seit 2015 hat das Land Thüringen 65 Laden-Projekte auf dem Land gefördert. Nicht immer mit Erfolg. Für Thüringens Infrastrukturministerin ist klar: "Es nützt ja nichts, irgendwo einen Laden zu etablieren, wenn keiner davon weiß", so Karawanskij. Da müsse eine Gemeinschaft dahinterstehen, die das Angebot dann auch nutzt.

Frau an einer Kasse
Ute Horschel ist froh, eine Einkaufsmöglichkeit im Ort zu haben, auch wenn sie selbst die Produkte abkassieren muss. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Und das braucht Zeit. Auch Ute Horschel hat am Anfang mit dem Selbstbedienungs-Laden gefremdelt. Inzwischen ist sie fast täglich hier, heute mit Enkel Lennart. Er hilft beim Scannen der Produkte. "In der Anfangszeit hatte ich ein paar Mal Probleme, aber jetzt ist das alles okay", sagt sie.

Neun Monate sind seit Eröffnung des Ladens vergangen. Noch immer überwiegen Kleinst-Einkäufe. Der Umsatz pro Kunde liegt im Schnitt bei zehn Euro. Damit der Laden überlebt, muss es mehr werden. Karsten Lutze will dafür kämpfen. "Grabe ist nun mal mein Heimatort und als Ortsteil-Bürgermeister hängt man natürlich auch ganz besonders dran", erklärt er. "Und so ein Projekt im Dorf umsetzen zu können, das hätte ich mir nie träumen lassen."

In Grabe zeigt sich: Mit Engagement vor Ort lässt sich ein Laden wieder etablieren — jenseits von weit entfernten Investoren mit Gewinn-Interessen.

Dorfladen in Deersheim lebt von der Gemeinschaft

Mann auf einem Parkplatz
Manfred Mehlhorn leitet den Dorfladen in Deersheim. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

In Deersheim im Landkreis Harz hat sich der neue Dorfladen bereits etabliert. Manfred Mehlhorn ist der Chef hier und sucht sich aus, welche Produkte er ins Sortiment nimmt. Von der Geflügelfarm im Ort bekommt er für den Laden jeden Dienstag frische Eier. Der Laden bietet auch ein Obst- und Gemüse-Sortiment an. Dazu kommen regionale Spezialitäten wie Nudeln, frische Backwaren sowie Fleisch, Wurst und Feinkost.

Mehlhorn erklärt, was das an Arbeit bedeutet: "Es muss jeden Morgen einer da sein, der um sieben Uhr an der Rampe beim Fleischer steht und die Waren herbringt." Integriert sind auch eine Post-Agentur und ein Bistro mit warmen Speisen. Der Dorfladen hat alles, was die 800 Einwohner des Ortes brauchen. Wie aber rechnet sich das? Nur zwei Mitarbeiter sind fest angestellt. Weitere 40 machen ehrenamtlich mit. Eine von ihnen ist Beate Bröder.

Man braucht eine Aufgabe. Es ist schön etwas für die Gemeinschaft zu tun

Beate Bröder, Helferin im Dorfladen

So geht es auch Henny Wolf, der auch im Team der Ehrenamtlichen ist. "Man trifft sich ab und zu wieder Und ja, man hat eben eine Aufgabe."

Der letzte Lebensmittel-Laden in Deersheim wurde 2012 geschlossen. Um sich selbst zu versorgen, haben 150 Einwohner selbst mit angepackt. Sie haben einen alten Ochsenstall saniert und eine Genossenschaft gegründet. Bund und Land förderten das Projekt mit 250.000 Euro. Die ersten Jahre waren schwierig, doch die Idee ging auf. Mehr als 100 Kunden kommen inzwischen jeden Tag.

Mehlhorn, der auch im Vorstand des Dorfladens ist, freut sich über die Resonanz. "Es ist schön, wenn die Leute an einem vorbeigehen und ‚Hallo Manfred’ und ‚Mensch, das hat der toll gemacht’ rufen", erklärt er. "Das erfüllt einen mit Stolz."

Läden auf dem Land können erfolgreich sein, wenn die Dorf-Gemeinschaft sie will und sich dafür engagiert. Dieses Engagement zu wecken, ist vielleicht die größte Herausforderung.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR Exakt | 01. November 2023 | 20:15 Uhr

Mehr aus Deutschland

Mehr aus Deutschland