Pflege von Angehörigen Kaum vereinbar: Job und Pflege

15. Januar 2024, 05:00 Uhr

Derzeit sind in Deutschland rund 4,9 Millionen Menschen pflegebedürftig, ein großer Teil von ihnen wird zu Hause gepflegt. Welche Belastungen die pflegende Angehörigen erleiden, zeigen die Fälle eines Ehepaares aus Sachsen und einer Familie mit einem schwer kranken Kind.

Zehn Jahre lang hat Brigitte Braun ihren dementen Mann Manfred zu Hause gepflegt. Dann habe die Pflege und das Arbeiten für sie nicht mehr funktioniert. Nun lebt der 72-Jährige seit einem Jahr in einer Senioren-WG. "Es ist mir nicht leichtgefallen, ihn sozusagen in fremde Hände zu geben", erklärt Brigitte Braun.

Anfangs ging Manfred Braun regelmäßig in eine Tagespflege. In dieser Zeit konnte Brigitte Braun als Museologin arbeiten. Doch als die Demenz fortschritt, wurde die Betreuung durch den Anbieter beendet. "Er ist sehr viel gelaufen, hatte dann aggressive Schübe, sodass man das dann nicht mehr tolerieren konnte", erklärt Brigitte Braun. Für sie fehle es an verlässlichen Angeboten und auch einem Rechtsanspruch auf einen Platz in der Pflege.

Frau hält Teller für Mann im Rollstuhl
Zehn Jahre lang hat Brigitte Braun ihren Mann zu Hause gepflegt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dabei steht im Sozialgesetzbuch XI: "Pflegebedürftige der Pflegegrade zwei bis fünf haben Anspruch auf teilstationäre Pflege in Einrichtungen der Tages- oder Nachtpflege (…)." Dieser Anspruch sei allerdings nur ein Finanzierungsanspruch, sagen Experten. Pflegeversicherungen müssen zwar ihren Teil auf einen Platz bezahlen. Einen klaren Rechtsanspruch auf einen Tagespflegeplatz gebe es derzeit aber nicht.

Fehlende Plätze und steigende Kosten

Hinzu kommt, dass ein solcher Rechtsanspruch derzeit politisch kaum umsetzbar wäre. Darauf weist die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr hin, die auch Vorsitzende des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist: "Es ist schon eine charmante Idee, wobei das in dem Moment der aktuellen Diskussion natürlich sehr schwierig ist." Denn: "Ein Rechtsanspruch heißt natürlich tatsächlich, die Strukturen auszubauen."

Ein Rechtsanspruch heißt natürlich tatsächlich, die Strukturen auszubauen.

Ulrike Bahr Bundestagsabgeordnete

Denn bundesweit gibt es knapp 98.000 Tagespflegeplätze. Das ist für die über vier Millionen Pflegebedürftigen, die zu Hause leben, eine Versorgungsrate von gerade einmal 2,3 Prozent. Und noch ein Problem spitzt sich zu: Die Tagespflege-Eigenanteile für Pflegebedürftige steigen. Im Fall des Ehepaars Braun hat sich der Anteil, der nicht von der Pflegekasse getragen wird, in den vergangenen fünf Jahren mehr als verdoppelt - auf über 530 Euro pro Monat.

Viele Betroffene verkürzen das Angebot der Tagespflege oder geben es ganz auf. Denn hier gibt es vom Gesetzgeber keine finanziellen Zuschüsse zum Eigenanteil, anders als in der stationären Pflege.

"Ich fände es sinnvoll, wenn es da auch finanzielle Anreize gäbe", erklärt Ulrike Bahr. Aus den Verhandlungen in der Ampel-Koalition solle ein Gesamtpaket für pflegende Angehörige gestrickt werden. Bis Mitte 2024 soll dazu verhandelt werden. Wegen der aktuellen Haushaltslage bleibt aber die Sorge, dass es nicht mehr öffentliche Gelder für die Pflege gibt. Dennoch: "Es ist zu schaffen. Wir machen uns daran", verspricht die Politikerin. Da habe die Regierung eine Verantwortung.

Frau mit Brille und rotem Schal
Die SPD-Bundestagsabgeordnete Ulrike Bahr Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Viele Angehörige werden arm durch Pflege

Für etliche pflegende Angehörige heißt es derzeit: arm durch Pflege. Eine aktuelle Studie belegt: Sie sind häufiger von Armut betroffen als andere Bürgerinnen und Bürger. Pflegende nehmen auch öfter Sozialleistungen in Anspruch als die Gesamtbevölkerung.

Ein Grund: Pflegende Angehörige reduzieren ihre Arbeitszeit oder geben sie ganz auf. 77 Prozent der erwerbsfähigen Pflegenden arbeiten. Und diese im Durchschnitt 33 Stunden pro Woche. Auch Brigitte Braun reduzierte ihre Arbeitszeit. Auf 30 Stunden die Woche. Bis auch das nicht mehr reichte und sie eine Entscheidung treffen musste. "Es ist die Entscheidung gewesen, eben nicht aus dem Beruf rauszugehen, nicht zu Hause zu bleiben, die im Endeffekt dazu geführt hat, dass er hier ist", sagt sie, und schaut auf ihren Mann.

Die Schwierigkeiten bei der Pflege kranker Kinder

So wie für das Ehepaar Braun ist es auch für Familien kranker Kinder schwer zu schaffen, Pflege und Arbeit zu vereinbaren. Die Tochter von Nicole und Sandra Jobs hat einen seltenen Gendefekt. Die Muskelfunktionen der Fünfjährigen sind beeinträchtigt. Besonders gefährlich sind Schluckstörungen, die zur Erstickung führen können.

Nicole Jobs hat Tochter Zoe fünf Jahre gepflegt, nun hat sie wieder Arbeit. Eine Herausforderung: Denn für die Einarbeitungszeit muss die Sachbearbeiterin ins Büro. Doch was ist währenddessen mit Zoe? Einen vollen Kita-Tag schafft das schwer kranke Kind nicht. Eine intensivmedizinische Versorgung zu Hause wurde durch die Kasse abgelehnt. Die Wahrscheinlichkeit, dass lebensbedrohliche Situationen auftreten, sei nicht hoch genug.

Kind liegt im Bett
Zoe hat einen seltenen Gendefekt. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Also muss Zoe für die Zeit des Berufseinstiegs vier Tage in der Woche stationär gepflegt werden. Getrennt von der Familie. Hinzu kommt: Ab dem ersten Tag in der stationären Einrichtung wird das Pflegegeld gekürzt. "Durch die Einarbeitung geraten wir auf jeden Fall ins Minus. Das steht schon vorher fest", sagt Sandra Jobs. "Und trotzdem wollen wir das nutzen. Das ist halt ein Sprungbrett für uns. Für mich", ergänzt Nicole Jobs. Sie habe eine Chance verdient, findet Sandra, und die Steuern wollten ja auch alle haben, außerdem gebe es ja auch Fachkräftemangel.

Nachteil per Gesetz

Diese gesetzliche Regelung ist ein Nachteil gegenüber erwachsenen Pflegebedürftigen. Ihnen bleibt das Pflegegeld bis zu 28 Tagen in einer stationären Einrichtung erhalten. Eine Benachteiligung, die in der Regierung zumindest immer wieder Thema ist, wie Ulrike Bahr erklärt: "Es ist natürlich wirklich ein Unding zu sagen, dass gerade Eltern von schwerst kranken Kindern zu pflegenden Kindern hier im Nachteil sind." Doch ein konkretes Gesetz, das derzeit auf den Weg gebracht werde, kenne sie nicht.

Es ist natürlich wirklich ein Unding zu sagen, dass gerade Eltern von schwerst kranken Kindern zu pflegenden Kindern hier im Nachteil sind.

Ulrike Bahr Bundestagsabgeordnete

In den meisten Fällen sind Mütter die Hauptpflegepersonen kranker Kinder. Und fast jede vierte Mutter arbeitet durch die Pflege ihres Kindes nicht mehr. Nicole Jobs hat sich nur auf Stellen beworben, die ein Homeoffice zulassen. Denn Arbeitgeber müssen dies nicht ermöglichen.

Ein Jahr war sie auf Jobsuche. Irgendwann habe sie in ihren Bewerbungsanschreiben weggelassen, dass sie ein schwerbehindertes Kind hat. "Das war so ein Gefühl. Dass es vielleicht doch ein Hindernis war oder ein Grund, dass ich wieder eine Ablehnung bekommen habe", erklärt Nicole Jobs.

Eine Lösung für pflegende Angehörige

Pflegewissenschaftlerin Gabriele Meyer sieht zukünftig nur einen Weg, pflegenden Angehörige zu helfen: Sie brauchen Unterstützung aus professioneller Pflege und ehrenamtlichen Angeboten: "Ich weiß, dass einige Regionen, dass es da tatsächlich an diesen ehrenamtlichen Strukturen fehlt", sagt die Professorin an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

Das müsse - insbesondere aus den Kommunen heraus - auch stimuliert werden. Die Kommunen müssten verstehen: "Das ist eine Aufgabe der Zukunft ist, kommunal zu entwickeln, eine Fürsorge-Kultur zu entwickeln", so Gabriele Meyer. "Weil wir uns nicht darauf verlassen können, dass wir den hohen Pflegebedarf nur durch professionelle Unterstützungsleistung und nur durch An- und Zugehörige decken können."

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 10. Januar 2024 | 20:15 Uhr

7 Kommentare

ElBuffo vor 14 Wochen

Wieso bräche dann das Land zusammen? Würde dann kein Bauer mehr auf seinen Acker fahren oder die Tankstellenpächter zuschließen? Nur, dass das nicht missverstanden wird: für die Pflegebedürftigen bräche in der Tat alles zusammen.

Matthi vor 14 Wochen

Auf der einen Seite haben wir eine Pflege Pflichtversicherung die nur zum Teil die kosten für einen Pflegeplatz im Heim abdecken auf der anderen Seite bekommen Pflegende Angehörige die ihre Angehörigen Zuhause Pflegen noch nicht mal annähernd soviel Pflegegeld wie die Heime die noch Zusatzbeiträge von Angehörigen verlangen die meistens vom Sozialamt bezahlt werden. Wer seinen Angehörigen Zuhause pflegt und nicht nebenbei arbeiten kann ist armutsgefährdet und später von Altersarmut bedroht. Einfach ausgedrückt wer seinen Angehörigen Zuhause Pflegt begeht Wirtschaftlichen Selbstmord. Klingt nicht schön ist aber so.

Erna vor 15 Wochen

Das ganze System bedarf dringender Reformen. Eine Bekannte von uns arbeitet halbtags und pflegt ihre Mutter. Der Zustand hat sich ständig verschlechtert und sie würde nunmehr gerne auf einen Minijob reduzieren um mehr Zeit zu haben. Doch dann müsste sie ihre Krankenversicherung/Pflegeversicherung selber bezahlen unabhängig vom Pflegegrad ihrer Mutter. Finanziell ein Ding der Unmöglichkeit.

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