Bestseller-Autor von "Der Vorleser" Bernhard Schlink: Deutsche Einheit auf einem guten Weg
Hauptinhalt
27. Oktober 2023, 14:57 Uhr
Bestseller-Autor Bernhard Schlink sieht den Prozess der deutschen Einheit auf einem guten Weg. Bei einem Vortrag in Halle sagte er, trotz enttäuschter Erwartungen im Osten und kränkender Vorurteile aus dem Westen wachse zusammen, was zusammengehöre. Anzeichen dafür sind für ihn die Rückwanderung vieler junger Menschen von West nach Ost und die Kraft, mit der sich neue Autoren und Autorinnen zu Wort melden - etwa Dirk Oschmann oder Charlotte Gneuß.
- Die deutsch-deutsche Liebesbeziehung des Jahres 1990 wurde schnell belastet durch unangenehme Erfahrungen und zu hohe Erwartungen an die Demokratie, erinnert sich Schlink.
- Dass Deutschland zusammen wächst, macht der Autor auch an den viel beachteten Büchern von Dirk Oschmann und Charlotte Gneuß fest.
- Bernhard Schlink plädiert zudem für mehr direkte Demokratie.
Bernhard Schlink kann sich gut an das Jahr 1990 erinnern. In diesem Jahr wurde er zum Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an die Humboldt-Universität Berlin berufen, an der er viele Jahre lehrte. Ebenfalls 1990 hat Schlink die Arbeitsgruppe des Runden Tisches "Neue Verfassung der DDR" beraten. In einem Vortrag am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Halle hat sich der Autor und Jurist nun noch einmal mit dieser Zeit des Umbruchs befasst.
Deutsch-deutsche Liebesbeziehung unter Druck
Die ersten Wochen nach dem Fall der Mauer, ezählt Schlink, habe er als eine Art deutsch-deutschen Liebesfrühling in Erinnerung. Ost- und Westdeutsche hätten sich füreinander interessiert, seien neugierig gewesen aufeinander, hätten sich miteinander gefreut. Bald hätten die Westdeutschen jedoch gespürt, die Ostdeutschen seien nicht so gewesen, wie die Westdeutschen meinten, dass sie nach dem Ende von SED-Diktatur und Stasibespitzelung sein müssten. Das sei zunächst mit Erstaunen, dann mit Befremden und schließlich mit Empörung wahrgenommen worden, sagt Schlink. So habe Fremdheit begonnen.
Im Osten wiederum habe man unangenehme Erfahrungen gemacht etwa mit der Treuhand, mit Abwanderung, dürftigeren Renten, schlechteren Löhnen, geringerer Repräsentanz in Unternehmen, Medien, Universitäten, Justiz, Bundeswehr. Hinzu seien sehr hohe Erwartungen an die Demokratie gekommen – "Bilderbucherwartungen", wie Schlink meint.
Man habe sich Demokratie transparent vorgestellt: Politiker im Austausch mit den Wählern. Was sie versprächen, das hielten sie auch. Und wenn sie Versprechen nicht halten könnten, dann erklärten sie, warum. Stattdessen sei eine Demokratie mit Defiziten gekommen – mit Intransparenz, mit Lobbyisten, beschönigenden, verleugnenden, manchmal auch lügenden Politikern. Kurzum: eine ein bisschen schmuddelige Demokratie, die zunächst, wenn man an die Erwartungen denkt, enttäuschen musste.
Dreißig Jahre nach dem kalten Bürgerkrieg, der die Teilung Deutschlands in gewisser Weise war, wachsen wir besser zusammen als Amerika 150 Jahre nach seinem Bürgerkrieg.
Schlink lobt Bücher von Oschmann und Gneuß
Trotz alledem wachse zusammen, was zusammen gehöre. Ein Wunder, wie der Autor meint. Als Zeichen dafür sieht Schlink, dass sich drängender als die Probleme zwischen Ost und West, nun Probleme geltend machten, die Deutschland insgesamt beträfen: "schwächelnde Wirtschaft, marode Infrastruktur, Defizite der Schulen, überforderte Kommunen, Klima und Energie."
Ein weiteres Zeichen des Zusammenwachsens seien Wanderungsbewegungen vieler - vor allem junger - Menschen aus dem Westen in den Osten. Und Zeichen für Zusammenwachsen sei schließlich auch die Kraft, mit der sich die junge Generation aus dem Osten zu Wort melde und die Resonanz, die sie dabei im Westen finde. In der Belletristik tue sie dies schon lange, findet der Schlink, nun aber auch etwa mit Büchern von Dirk Oschmann und Katja Hoyer in der politischen Literatur. Erfreulich nennt Schlink zudem Bücher wie "Gittersee" von Charlotte Gneuß, in dem eine junge Westdeutsche sich jungen Ostdeutschen nahe genug fühlt, um aus ihrer Perspektive zu schreiben: "Was wir zwischen West und Ost brauchen, ist gerade ein wechselseitiges Verstehen. Und verstehen heißt, versuchen, sich einzufühlen und nachzuempfinden."
Ein Plädoyer für mehr direkte Demokratie
Und schließlich kommt der Rechtsphilosoph Schlink auf eine verfassungsrechtliche Debatte zu sprechen. Es sei erfreulich, dass in Deutschland wieder mehr über direkte Demokratie gesprochen werde. Unsere Demokratie müsse und werde zwar repräsentativ bleiben, so Schlink, könne aber Elemente direkter Demokratie aufgreifen, etwa Volksbegehren oder Bürgerräte. Dies wäre grundsätzlich gut für die Demokratie – und zudem jene Erwartungen aufgreifen, mit denen die Ostdeutschen die Demokratie willkommen geheißen hätten.
Redaktionelle Bearbeitung: td, bh
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 27. Oktober 2023 | 17:10 Uhr