Aufnahmeprüfungen für die weiterführenden Schule
Ein Lehrer aus Sachsen-Anhalt hat sich Schulen und Unterricht in den Top-PISA-Ländern angesehen. (Symbolbild) Bildrechte: IMAGO / CTK Photo

Lehrer bereist Top-Pisa-Länder Was Sachsen-Anhalt vom europäischen Pisa-Spitzenreiter Estland lernen kann

11. März 2024, 11:54 Uhr

Die aktuelle Pisa-Studie ist ernüchternd: Schülerinnen und Schüler in Deutschland erzielen so schlechte Ergebnisse wie noch nie. Spitzenreiter dagegen sind Singapur, China und Japan, in Europa ist Estland ganz vorn mit dabei. Lehrer Alexander Brand ist nach seinem Lehramtsstudium fünf Monate durch vier Top-Pisa-Länder gereist und hat sich den Unterricht vor Ort angeschaut. Im Interview erzählt er, was Sachsen-Anhalt sich von Estland und den asiatischen Ländern abschauen kann.

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Die Ergebnisse der aktuellen Pisa-Studie 2022 haben nach Veröffentlichung hohe Wellen geschlagen. Denn Deutschland schneidet so schlecht ab wie noch nie zuvor. Schülerinnen und Schüler haben demnach besonders im Lesen, aber auch in Mathematik und Naturwissenschaften große Defizite. Neben der Corona-Krise sehen Experten den Lehrermangel sowie die fehlende Sprachförderung für Kinder mit Migrationshintergrund als Ursachen an.

Ganz oben im Pisa-Ranking stehen dagegen die asiatischen Länder Singapur, China und Japan. In Europa hat es Estland unter die Top-Staaten geschafft. Lehrer Alexander Brand ist aus diesem Grund nach seinem Lehramtsstudium um die Welt gereist. Er hat sich fünf Monate lang in Estland, Finnland, Japan und Singapur angeschaut, wie sich Unterricht und Schulsystem von dem in Deutschland unterscheiden. Was wir daraus lernen können und welche Methoden sich auch bei uns umsetzen ließen, erzählt er im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT.

MDR SACHSEN-ANHALT: Sie sind nach dem Studium in vier verschiedene Top-Pisa-Länder gereist, um sich den Schulunterricht vor Ort anzuschauen – darunter auch Estland, der europäische Spitzenreiter in Sachen Bildung. Was unterscheidet das Schulsystem von unserem?

Alexander Brand: In estnischen Schulen gibt es bessere Strukturen, um die Schülerinnen und Schüler aufzufangen, die im regulären Unterricht nicht gut zurechtkommen. In den weiterführenden Schulen bieten die Lehrkräfte zum Beispiel wöchentliche Sprechstunden an. Wenn jemand hinterherhinkt, gibt es dort Zeit, um von einer Lehrkraft Eins-zu-eins Hilfe zu bekommen. Und auch in der Grundschule gibt es dafür Strukturen. Das sind dann kleinere Gruppen, die parallel zum Unterricht stattfinden. Solche Modelle sind Auffangnetze, die dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen wird.

Alexander Brand, ein junger Mann mit kurzen Haaren und schwarzem Tshirt, lacht in die Kamera
Bildrechte: Alexander Brand

Über Alexander Brand Alexander Brand ist Lehrer für Mathematik und Physik an einer Hamburger Gesamtschule. Außerdem schreibt er für das Deutsche Schulportal der Robert Bosch Stiftung. Nach seinem Lehramtsstudium reiste er fünf Monate durch Estland, Finnland, Japan und Singapur und hospitierte dort an etwa zweidutzend Schulen. Zudem sprach er mit Schülern, Eltern und Lehrkräften, um zu verstehen, wie die Pisa-Spitzenreiter ticken.

Ließe sich so etwas nicht auch in Deutschland umsetzen?

Lehrkräfte müssen bei uns im internationalen Vergleich sehr viel unterrichten – in manchen Bundesländern bis zu 28 Stunden pro Woche. In Japan und Singapur ist das zum Beispiel deutlich weniger. Man müsste also schauen, wie man Lehrkräfte entlasten kann – vielleicht beim Unterricht oder bei Verwaltungsaufgaben. Wie könnte man auch Assistenzlehrkräfte einsetzen, um solche Förderung zu bieten, zum Beispiel Lehramtsstudierende? Da gibt es interessante Modelle.

Ich habe Digitalisierung dort nicht unbedingt als Allzweckwaffe wahrgenommen. Sie wurde sehr gezielt eingesetzt, um zum Beispiel Lehrkräfte bei Verwaltungsaufgaben zu entlasten.

Alexander Brand, Lehrer für Mathematik und Physik

In Sachsen-Anhalt kämpfen wir mit massivem Lehrermangel, der auch als einer der Gründe für die schlechten Pisa-Ergebnisse angesehen wird. Doch Estland hat ein ähnliches Problem. Warum schneiden die Schülerinnen und Schüler dort trotzdem besser ab?

Der Lehrkräftemangel wird auch Estland langfristig vor große Probleme stellen. Die aktuell guten Ergebnisse werden sich vielleicht nicht halten können. Gründe für die guten Ergebnisse sehe ich bei dem, wie Unterricht und Schule dort jetzt funktionieren. Zum Beispiel beim Fokus auf Basiskompetenzen. Unsere Schülerinnen und Schüler sollen ganz vieles können. Sie sollten kreativ sein, kritisch denken und gut kommunizieren. Aber das geht nicht, wenn sie nicht lesen, schreiben und rechnen können. Und das muss viel geübt werden. Ich habe oft gesehen, wie Schülerinnen und Schüler mit Laptops Rechenübungen gemacht haben und dafür spielerisch mit digitalen Punkten belohnt wurden. Das hat viele motiviert.

Leerer Klassenraum mit hochgestellten Stühlen. 1 min
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In Deutschland wird immer wieder über die nur langsam voranschreitende Digitalisierung in Schulen debattiert. Wie weit ist Estland uns da voraus?

Estland ist bekannt für seine Digitalisierung – auch in Staat und Verwaltung. Die Schulen, die ich besucht habe, waren auch sehr weit – vor allem, was die Infrastruktur betrifft. Aber ich habe Digitalisierung dort nicht unbedingt als Allzweckwaffe wahrgenommen. Sie wurde sehr gezielt eingesetzt, um zum Beispiel Lehrkräfte bei Verwaltungsaufgaben zu entlasten. Die Schulen hatten flächendeckend digitale Klassenbücher. Auch, wenn es darum ging Schülerinnen und Schüler Feedback zu geben, waren häufig digitale Medien im Einsatz. Digitale Schulbücher konnten sehr schnell die Aufgaben von Schülerinnen und Schülern auswerten – das muss nicht unbedingt die Lehrkraft machen.

Wie lange bräuchten wir, damit so etwas auch in Deutschland Realität werden könnte?

Große Veränderungen brauchen in so einem großen Tanker wie dem Schulsystem in der Regel viele Jahre. Wir haben mit dem Digitalpakt in vielen Schulen jetzt zumindest die technische Ausstattung – also Endgeräte, W-LAN und so weiter. Wir müssen nun noch den Schritt gehen und mehr in die Fortbildung investieren, damit Lehrkräfte digitale Medien auch gut einsetzen können.

Wie unterscheidet sich der Schulalltag in Estland von dem der Kinder in Deutschland?

Mein Eindruck war, dass Schule in Estland mehr als Lebensraum gesehen wird. Ich habe mit einer estnischen Schülerin gesprochen, die ein Schuljahr in Deutschland verbracht hat. Was sie am meisten überrascht hat, war, dass in Deutschland alle Schüler nach Unterrichtsschluss nach Hause gehen. In Estland bleibt man dagegen länger in der Schule, trifft sich mit anderen Jugendlichen und stellt eigene Projekte auf die Beine. Sie erzählte von einer Mode-Ausstellung und einem Sprachcafé, das sie mit ihren Freundinnen gegründet hat. Es gibt auch eine feste Lehrkraft, die die Schülerinnen und Schüler bei ihren Projekten unterstützt. Halbtagsschulen, wie es sie oft in Deutschland noch gibt, sind in den Ländern, die ich besucht habe, eher selten.

Sie waren zudem in Finnland, Japan und Singapur. Welche Ideen und Ansätze haben sie aus diesen Ländern besonders beeindruckt?

In Finnland hat mich besonders die Lehrkräftebildung beeindruckt. Dort sind Studium und Referendariat nicht getrennt, sondern finden parallel statt – wie ein duales Studium. Theorie und Praxis sind viel stärker verzahnt. An jeder Universität gibt es eine Ausbildungsschule, an der die Lehramtsstudierenden das Gelernte direkt anwenden können – und nicht erst Jahre später wie bei uns. Und es ist auch ein bewertungsfreier Raum. Bei uns ist das Referendariat mit einem hohen Leistungsdruck verbunden, weil ein perfekter Unterricht erwartet wird. Das habe ich in Finnland anders erlebt. Dort wird mit viel mehr Vertrauen gearbeitet und ausgebildet. Lehramt ist in Finnland allgemein ein beliebter und umkämpfter Studiengang. Im Grundschullehramt bekommen nur rund zehn Prozent der Bewerberinnen und Bewerber einen Studienplatz.

In Singapur haben Lehrkräfte jedes Jahr Anspruch auf 100 Stunden Fortbildungszeit, die häufig im Team verbracht wird. Dort treffen sich Lehrkräfte wöchentlich in kleinen Arbeitsgruppen und arbeiten gemeinsam an ihrem Unterricht. Ich war bei einer solchen Sitzung für den Mathematik-Unterricht dabei. Die Lehrkräfte haben dort ein gemeinsames Projekt geplant und didaktisch diskutiert, was der richtige Weg für ihren Unterricht ist. Es braucht diese Investition in Fortbildung. Der Lehrerberuf ist so komplex, dass man nicht einfach nach ein paar Jahren Ausbildung sagen kann: "Okay, das reicht jetzt für immer." Es verändert sich zu viel.

Was haben Sie für Ihren eigenen Unterricht mitgenommen?

Oft sind das Kleinigkeiten. Ich versuche, mehr Möglichkeiten zu schaffen, schon vor Klassenarbeiten zu sehen, was die Schülerinnen und Schüler gelernt haben. Ich benutze zum Beispiel Mini-Whiteboards. Ich stelle eine Frage und jeder Schüler hat so ein kleines Whiteboard, kann darauf die Antwort schreiben und hochhalten. Dann sehe ich von allen, was in ihren Köpfen steckt. Viele solcher kleinen Methoden habe ich aus dem Ausland mitgenommen.

Es kann nicht sein, dass Lehrkräfte mehrere Stunden pro Woche mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind oder Klassenreisen selbst organisieren müssen.

Alexander Brand, Lehrer und Experte für die PISA Top-Staaten

Die deutschen Schülerinnen und Schüler haben im internationalen Leistungsvergleich Pisa im Jahr 2022 so schlecht abgeschnitten wie noch nie zuvor. Was fordern Sie von der Politik für die Zukunft an Deutschlands Schulen?

Ich wünsche mir, dass wir uns genau überlegen, was die Aufgabe von Lehrkräften ist und was nicht. Der Beruf ist so vielfältig und anspruchsvoll, dass wir auch andere Fachkräfte in den Schulen brauchen, die die Lehrkräfte entlasten können. Zum Beispiel IT-Fachleute und auch mehr Verwaltungspersonal. Es kann nicht sein, dass Lehrkräfte mehrere Stunden pro Woche mit Verwaltungsaufgaben beschäftigt sind oder Klassenreisen selbst organisieren müssen.

Die Fragen stellte Sarah-Maria Köpf.

Mehr bei FAKT IST! aus Magdeburg "Baustelle Bildung: Wie kann Qualität wieder Schule machen?" – Darüber wird am Montag, 11. März, im Polittalk FAKT IST! aus Magdeburg gesprochen.
Auf dem Podium diskutieren Sachsen-Anhalts Bildungsministerin Eva Feußner (CDU), Amy Kirchhoff vom Landesschülerrat Sachsen, die Bildungsökonomin Prof. Kerstin Schneider von der Universität Wuppertal und Katja Pähle, Fraktionsvorsitzende der SPD im Landtag von Sachsen-Anhalt. Die Sendung sehen Sie am 11. März ab 20:30 Uhr im Livestream auf MDR.de und ab 22:10 Uhr im MDR-Fernsehen.

Talkrunde im Studio 59 min
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59 min

Fakt ist! Mo 11.03.2024 22:10Uhr 59:06 min

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MDR (Sarah-Maria Köpf) | zuerst veröffentlicht am 10. März 2024.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT Heute | 11. März 2024 | 19:00 Uhr

10 Kommentare

DER Beobachter vor 6 Wochen

Was hier leider zu kurz kommt (und gerade auch vllt. unsere üblichen Schwätzer wie BW,Hobby-V, DSBK zur Kenntnis nehmen sollten), ist der Antrieb und Druck gerade auch in Bezug auf außerschulischem Förderdruck bspw. in Japan: Vgl. hierzu z.B. „Pisastudie: Japanologin über Schulen in Asien", RP online...

DER Beobachter vor 6 Wochen

"Ich warte nur noch auf den Tag, an dem die Ideologen das mehrgliedriger Schulsystem schleifen, dann war es das." Gerade die mangelnde (gegenseitige) Durchdringlichkeit unseres mehrgliedrigen Schulsystems (im Westen und dort v.a. im Süden sogar noch mehr als bei uns mit Extraschulen für hauptschüler) manifestiert Bildungsnachteile und -ungleichheiten "bildungsferner" Schichten ob nun mit oder ohne Migrationshintergrund. Diese Art der drastischen Trennung nach Lehrplan und schon räumlich schon ab Klasse 4 gibt es so in keinem in Europa besser als Deutschland dastehenden Land, wie sich unschwer auch oben erkennen lässt, wenn man denn wolle.

dieja vor 6 Wochen

Man muss nur die Entwicklung sehen. Ich lernte lesen und schreiben, meine Kinder und Enkelkinder auch. Dabei fällt auf, dass die Entwicklung zu immer weniger Schreiben geht. Wir mussten aus der Muttersprache Texte abschreiben und fehlende Worte einsetzen. Heute verwendet man Übungshefte mit Lückentexten. Man schreibt nur noch die fehlenden Worte hinein. Richtig schreiben lernt man aber nur durch Übung, d.h. Je öfter man ein Wort schreibt, merkt man sich die Schreibweise besser. Das gleiche gilt übrigens fürs Rechnen.

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