Blick auf die Scheibe eines Ladens in Magdeburg, die zu Himmelfahrt am 12.05.1994 zerstört wurde. 4 min
Mehr zu den Himmelfahrts-Krawallen vor 30 Jahren in Magdeburg können Sie auch im Audio hören. Bildrechte: picture alliance / dpa | Peter Förster
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MDR SACHSEN-ANHALT So 12.05.2024 08:13Uhr 04:00 min

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Kommentar Baseballschlägerjahre: 30 Jahre Himmelfahrtskrawalle Magdeburg

12. Mai 2024, 08:19 Uhr

12. Mai 1994 – rechtsextreme Jugendliche machen Jagd auf Menschen, deren Herkunft ihnen nicht passt. Die Bilder sorgen international für Aufsehen. Drei Jahrzehnte später ist der Streit um Zuwanderung noch immer ein politisch heißes Eisen und auch Gewalt gegen Menschen, die man wegen ihrer Herkunft oder ihrer politischen Ansichten ablehnt, ist immer noch ein Thema. MDR-Reporter Uli Wittstock war damals bei Ausschreitungen vor Ort, blickt aber nicht nur zurück.

Portrait-Bild von Uli Wittstock
Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Als am 12. Mai 1994 in der Magdeburger Innenstadt die Auseinandersetzungen begannen, hatten sowohl Täter wie auch Opfer kein Handy dabei, denn entsprechende Geräte gab es noch nicht. Ein tragbares Telefon war so groß wie ein Toaster und kostete tausend D-Mark.

Auch soziale Netzwerke waren noch nicht erfunden und konnten also die Übergriffe nicht im Live-Modus befeuern. Dennoch eskalierte die Lage innerhalb weniger Stunden, wohl auch, weil die Polizei offensichtlich überfordert war und zum Teil die Täter gewähren ließ und stattdessen die Opfer festnahm.

Blick auf die Scheibe eines Ladens in Magdeburg, die zu Himmelfahrt am 12.05.1994 zerstört wurde.
Ein Dönerladen wurde an Himmelfahrt 1994 in Magdeburg stark beschädigt. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance / dpa | Peter Förster

Peinliche Reaktionen

An Erklärungsansätzen mangelte es schon damals nicht. "Sonne und Alkohol", vermutete der damalige Magdeburger Polizeipräsident Stockmann. Eine Ursache der Übergriffe sei, dass die bedrohten Afrikaner nicht sofort, "wie man es hätte erwarten können" vor den Hooligans die Flucht ergriffen hätten. Stockmann verlor später auch wegen dieser Fehleinschätzung sein Amt.

Magdeburgs Oberbürgermeister Willi Polte nannte die Ereignisse "außerordentlich bedauerlich" und warnte davor, sie überzubewerten. Der damalige Ordnungsamtsleiter der Stadt sprach von einer "besseren Wirtshausschlägerei". Da war international schon von der Ausländerhatz in Magdeburg die Rede.

Selbst als bekannt wurde, dass die Polizei am Abend mehr Ausländer als Rechtsradikale in Gewahrsam genommen hatte, sprach Sachsen-Anhalts damaliger Innenminister Remmers von einem erfolgreichen Polizeieinsatz. Dabei hatte Sachsen-Anhalts Verfassungsschutz schon im Vorfeld vor möglichen Ausschreitungen gewarnt.

Unfriedliche Folgen der friedlichen Revolution?

Tatsächlich war 1994 von den blühenden Landschaften, die Kanzler Kohl versprochen hatte, in Sachsen-Anhalt nichts zu spüren. Magdeburg, zu DDR-Zeiten Stadt des Schwermaschinenbaus, war zu einer Stadt der Schwerdepression geworden.

Die Fußballer des FC Magdeburg spielten gegen Mannschaften wie Lichterfelde, Brieske-Senftenberg oder Charlottenburg. Während die jungen Frauen scharenweise in Richtung Westen aufbrachen, blieben die jungen Männer zurück und schlugen sich so irgendwie durch, dies manchmal leider auch in ganz wörtlichem Sinn.

Schon damals war von Identitätsbrüchen die Rede, von einem Autoritätsverlust staatlicher Strukturen und von mangelnder Erfahrung mit dem Thema Zuwanderung. Das böse R-Wort, also Rassismus, wollte jedoch kaum jemand verwenden.

30 Jahre später – ernüchternde Bilanz

Vorfälle wie am 12. Mai 1994 kann auch heute wohl niemand ausschließen. Sicherlich wäre das Verhalten der Polizei ein anderes und sicherlich fiele auch die Reaktion der Politik nicht mehr verharmlosend aus. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff zeigte zum Beispiel nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle eine klare und unmissverständliche Reaktion.

Pascal Kober (FDP, vorn v.l.), Beauftragter der Bundesregierung für Betroffene von terroristischen und extremistischen Anschlägen, der Vater des damals getöteten Kevin, John R. Crosby, US-Generalkonsul, und Reiner Haseloff (CDU), Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, nehmen an der Synagoge in Halle/Saale am Gedenken für die Opfer des antisemitischen und rechtsextremen Terroranschlags vor vier Jahren teil.
Ministpräsident Reiner Haseloff (CDU, vorne rechts) zeigte nach dem Anschlag auf die Synagoge eine klare Reaktion. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Doch zugleich muss man leider feststellen, dass die Gewalt gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe oder anderer Meinung nicht weniger geworden ist. Wer die heutige Situation in der Stadt Magdeburg mit der von vor dreißig Jahren vergleicht, oder wer die aktuellen Wirtschaftsdaten aus Sachsen-Anhalt zu Rate zieht, der wird nicht umhinkommen, von einer klaren Verbesserung zu reden.

Und noch immer wird zur Erklärung gerne auf die schwierigen Verhältnisse in Ostdeutschland verwiesen. Wenn aber zum Beispiel in Chats von Polizeischülern fremdenfeindliche oder auch gewaltverherrlichende Inhalte entdeckt werden, dann ahnt man, dass Rassismus keinen Anlass braucht, aber eben auch nicht entschuldigt werden kann.

Verunsicherung ist kein Grund für Menschenhass

Man kann viel darüber diskutieren, warum Menschen glauben, dank ihrer Abstammung etwas Besseres zu sein. Da ist übrigens hierzulande kein Problem nur der deutschen Bevölkerung, auch Zuwanderer bringen ihre Rassismen mit.

Dass die Welt insgesamt immer komplexer werde, wird oft als eine mögliche Erklärung angeben. Da scheint möglicherweise die Herkunft ein letzter sicherer Hafen zu sein, wenn schon das anderer Sicherheitsmodell, nämlich die Familie, nur noch als Patchworkvariante zukunftsfähig scheint.

Doch auch der Nationalstaat, eine Idee des neunzehnten Jahrhunderts, ist Veränderungen unterworfen. Diese Entwicklung kann man kritisieren, auch ohne Rassist zu sein, was allerdings leider eher selten ist. Die demografische Entwicklung in Sachsen-Anhalt in Sachsen-Anhalt ist jedoch ziemlich eindeutig. Das Land verliert Einwohner und damit Menschen die konsumieren, produzieren, heilen, unterrichten und sich fortpflanzen.

Früher war es auch kompliziert

Als nach dem dreißigjährigen Krieg die Situation ähnlich war, lud der Brandenburgische Kurfürst Friedrich Wilhelm französische Glaubensflüchtlinge ein, sich in Preußen anzusiedeln. Er lockte mit dem Angebot einer zehnjährigen Steuerfreiheit sowie dem Recht auf eigene Schulen und eigene Kirchen.

Problemlos war das nicht, die Willkommenskultur war rau. In Halle soll der Gottesdienst immer wieder gestört worden sein, in Magdeburg wird berichtet, dass Nachttöpfe über den Flüchtlingen entleert wurden. Denn es kamen nicht nur reiche und gebildete Franzosen, sondern eben auch Hungerleider.

Dennoch schaffte es Preußen, auch dank der Zuwanderung, zu einer europäischen Großmacht aufzusteigen. Leitkultur oder Leidkultur – das ist noch immer die Frage. Und wer in diesen Tagen Spargel kauft, der sollte dem Großen Kurfürsten danken, denn es waren die Hugenotten, die ihn in den brandenburgischen Sandböden kultivierten.

MDR (Uli Wittstock, Leonard Schubert)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 12. Mai 2024 | 12:00 Uhr

30 Kommentare

Magdeburg1963 vor 10 Wochen

„Baseballschlägerjahre“ klingt mir doch ein wenig reißerisch und vor allem wenig subjektiv. Ich sehe schon wieder die „Nazikeule“. Der Kommentator greift tief in die Kiste und wirft dann alles fein durcheinander. Da werden rassistische Übergriffe in den neunziger Jahren mit dem Attentat von Halle und Chats in der FH der Polizei vermengt. Dann haben wir noch den Großen Kurfürsten und die Hugenotten.
Tatsache ist, dass es in den neunziger eine aktive und gewaltbereite rechte und linke Szene in Magdeburg gab. So wie es ausländerfeindliche Übergriffe gab, gab es auch Übergriffe seitens der linken Szene auf vermeintliche Rechte. Springerstiefel in Stadtfeld waren riskant, das Haus Ulrike in der Großen Diesdorfer ein rechtfreier Raum.
Und bei aller Polemik verkennt der Autor, dass der Haupttäter im Elbterrassenprozess kein Magdeburger war, sondern aus Wolfsburg kam.

Thommi Tulpe vor 10 Wochen

Klaro sind auch so ein Blaubrauner und dessen Wähler(in) Menschen. Bedauerlicherweise gibt es auf dieser Welt bekanntlich aber nicht nur gute Menschen.

Dermbacher vor 10 Wochen

Ich finde den Artikel eher verharmlosend, denn an die Ursache der rassistischen und antisemitischen Gewalt in Sachsen-Anhalt geht dieser nicht!
Meinen Eindruck nach kann es in jeder Stadt in Sachsen-Anhalt im Jahr 2024 wieder geschehen!

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