Malstunde am 26. März 2009 in der deutsch-chinesischen Kita im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg.
Kitas - für das Beste im Kind. Dass Kindertagesstätten Kinder optimal fördern und ein großes Plus in der kindlichen Entwicklung darstellen sei internationaler Konsens, erklärt Entwicklungspsychologin Laura Ackermann. Bildrechte: picture alliance / dpa | Wolfgang Kumm

Deutscher Kitaleitungskongress Die Kita – das Premium-Upgrade für die kindliche Entwicklung

20. Juni 2023, 16:20 Uhr

Besonders zwischen Ost und West wird immer wieder über den Sinn von Kitas diskutiert. Dabei haben internationalen Studien einen Konsens: Kitas haben enormes Potenzial für Kinder. Ein Kita-Besuch kann nicht schaden, sondern befördert die kindliche Entwicklung bestmöglich, erklärt Entwicklungspsychologin Laura Ackermann von der TU Chemnitz im Interview mit MDR SACHSEN.

Frau Ackermann, zwischen Ost und West wird immer noch viel über Kitas diskutiert. Welche Rolle spielen Kitas für die kindliche Entwicklung?

Laura Ackermann: Kitas sind wichtig für die kognitive-geistige Entwicklung, also alles, was mit mathematischen und sprachlichen Fähigkeiten zu tun hat. Eine wichtige Rolle spielen sie aber auch bei der Herausbildung der motorischen Fähigkeiten, also alles, was feinere und gröbere Bewegungsabläufe betrifft. Die sozial-emotionale Entwicklung wird ebenso positiv durch einen Kita-Besuch beeinflusst. Das betrifft den Umgang mit anderen, mit den eigenen Emotionen, aber auch die Weiterentwicklung von Bindungen.

Laura Ackermann, Entwicklungspsychologin TU Chemnitz
Die Entwicklungspsychologin Laura Ackermann lehrt und forscht an der TU Chemnitz unter anderem zur Förderung kognitiver Fähigkeiten. Bildrechte: Laura Ackermann

Die Weiterentwicklung von Bindungen – wie meinen Sie das?

In der Kita haben die Kinder die Möglichkeit, die Erfahrungen, die sie im Elternhaus erlernt haben auf andere Beziehungen mit Gleichaltrigen oder Erzieherinnen und Erziehern zu übertragen. Hier ergibt sich ein ganzer Blumenstrauß von Effekten, die eine Kita haben kann.

Das wäre alles ohne Kita gar nicht möglich?

Das ist natürlich möglich. Auch ein Kind, das weniger oder keinen Kita-Alltag erlebt, kann positive Entwicklungen durchschreiten. Es geht jedoch eher darum, dass wir durch eine Kita einen bedeutsamen Effekt obendrauf bekommen.

Die Kinder der Ameisengruppe der Abenteuerkita «Regenbogen» in Mücheln-Stöbnitz mit ihrer Erzieherin Jennifer Geheb auf dem Heimweg von ihrem kleinen Unterschlupf am Aussichtsturm Geiseltalsee zu ihrer Kita.
In der Kita lernen Kinder vieles für ihre geistige, motorische aber auch emotionale Entwicklung. Sie knüpfen Freundschaften und merken auch, wenn jemand mal keinen guten Tag hat. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Waltraud Grubitzsch

Die Kita ist also ein Premium-Upgrade für die Entwicklung?

Richtig, genau. Die Studien, die dies belegen, sind immer über mehrere Kinder gemittelt. Inwieweit einzelne Kinder profitieren, ist natürlich eine sehr individuelle Sache, in die sowohl der familiäre Hintergrund als auch die Persönlichkeit des Kindes und die Qualität der Kita einspielen.

Es heißt, die ersten drei Jahre sind für die Entwicklung der Kinder entscheidend. Warum?

In dieser Zeit sind die Entwicklungsschritte am größten. Überlegen Sie, was ein Baby alles innerhalb weniger Monate lernt: Plötzlich kann es neue Bewegungen, unterscheidet zwischen Vertrautem und Fremden, lernt erste Wörter. Das sind große Entwicklungen, die sich parallel vollziehen. In den ersten drei Lebensjahren fallen quasi die meisten und größten Entwicklungsschritte zeitlich aufeinander.

Neurologen sagen, dass in dieser Zeit viele Verschaltungen im Gehirn entstehen…

Genau. Das ist ja evolutionsbiologisch der Grund, warum wir nicht wie andere Lebewesen nahezu fertig auf die Welt kommen. Schaut man sich manche Tiere an, können sie nach der Geburt genauso viel wie in ihrem späteren Leben. Das ist bei uns Menschen eben nicht so. Unsere Mütter könnten uns mit einem ausgewachsenen Gehirn gar nicht auf die Welt bringen – dafür ist das Becken viel zu klein. Die Evolutionsbiologen nennen das die gynäkologische Krise. Wir Menschenkinder kommen eben unfertiger auf die Welt. Unser Gehirn wird erst in den Jahren nach der Geburt vollständig ausgeformt und ausgereift.

Wieso heißt das gynäkologische Krise?

Es handelt sich um eine Krise, die Mutter Natur überwunden hat. Im Laufe der Evolution hat der Mensch immer mehr Fähigkeiten erworben und damit ist das Gehirn gewachsen. Doch irgendwann war es nicht mehr möglich, dass die Menschen so "fertig" in ihrer Gehirnentwicklung auf die Welt kommen konnten. Das bietet natürlich sehr viele Möglichkeiten, weil wir von außen sehr viel gestalten, unterstützen und fördern können. Durch eine günstige Umwelt kann ja die Gehirnreifung oder überhaupt die Entwicklung des Menschen sehr unterstützt werden.

Erzieherin Anne-Katrin Ross spielt am 20.11.2014 in der bilingualen Kindertagesstätte "Future Kids" in Schwerin (Mecklenburg-Vorpommern) mit den Kindern Domenik und Enrico mit Handpuppen.
Kinder können in der Kita optimal gefördert werden - sowohl durch den Umgang mit Gleichaltrigen und Erziehern als auch duch anregende Spielzeuge. Bildrechte: picture alliance / dpa | Jens Büttner

Dies kann dann in der Kita besonders gut gelingen?

Nach internationalen Studien ist eine Förderung in Kitas ab drei Jahren auf jeden Fall sinnvoll. Hier können auch sozial-emotional die bestmöglichen Effekte entstehen und die Kinder optimal auf die Schule vorbereitet werden. Das ist Konsens in Studien aus vielen Ländern. Ein Kita-Besuch ist definitiv nichts Ungünstiges oder gar Hinderliches für die Kinder. Er hat in der breiten Masse vielfältig positive Effekte.

Nach internationalen Studien ist eine Förderung in Kitas ab drei Jahren auf jeden Fall sinnvoll.

Laura Ackermann Entwicklungspsychologoin TU Chemnitz

Was bewirkt die Interaktion mit Gleichaltrigen?

Zunächst erfahren die Kinder Bindungen zu ihren Eltern oder anderen primären Bezugspersonen. In der Kita bauen sie ähnliche positive Beziehungen zu Gleichaltrigen aus anderen Familien oder anderen Regionen sowie Betreuerinnen und Betreuern auf. Sie merken: Auch andere Menschen sind für mich da, ich kann auch mit anderen gut Zeit verbringen. Ihr Radius erweitert sich quasi. Sie sammeln umfangreiche und vielfältige Erfahrungen, die ihre sozial-emotionale Entwicklung fördern.

Unter Gleichaltrigen lernen natürlich auch Kita-Kinder, dass andere auch einmal einen schlechten Tag haben oder einen ärgern können. Sie lernen auch unterschiedliche Freundschaften zu arrangieren, vielleicht auch nicht mit allen gleich gut auszukommen. Das sind Lernprozesse, die im Kita-Alltag schon stattfinden und die vorbereiten auf spätere Lebensjahre.

Was braucht eine gute Kita?

Wichtig ist ein möglichst kleiner oder geringer Betreuungsschlüssel, es sollten nicht zu viele Kinder gleichzeitig von einem Erzieher oder einer Erzieherin betreut werden. Positiv ist auch, wenn es genügend Geld für anregendes Spielzeug gibt.

Was ist anregendes Spielzeug?

Anregend sind Spielzeuge, die entdeckt und selbst ausprobiert werden können, verschiedene Funktionen haben und weder geistig noch motorisch unterfordern. Es sind möglichst einfache Spielzeuge, die sich vielfältig benutzen lassen, wie Lego oder andere Bausteine. Auch Bastelmaterial kann sehr anregend sein. Es geht darum, zu knobeln und sich gedanklich damit zu beschäftigen.

Es wird immer viel über Lehrerinnen und Lehrer gesprochen. Sind nicht auch Erzieherinnen total wichtig?

Eine Förderung von gut geschulten pädagogischen Personal ist immer wichtig, egal ob bei Kindern oder Jugendlichen. Dabei geht es nicht nur darum, Kinder und Jugendlichen optimal zu fördern, sondern auch darum, gut im Berufsleben zurechtzukommen und mit vielfältigen Situationen angemessen umzugehen.

Die Kita ist eine gute Chance, dort wo Eltern den Bedürfnissen der Kinder vielleicht finanziell und zeitlich nicht gerecht werden können, einen Mangel zu kompensieren.

Laura Ackermann Entwicklungspsychologin TU Chemnitz

Vor welchen Herausforderungen stehen Kita-Erzieherinnen und Erzieher?

Tendenziell werden die Kinder in ihren Bedürfnissen, ihren unterschiedlichen Persönlichkeiten oder eben auch in ihrem familiären Hintergrund immer vielfältiger. Die Erzieherinnen und Erzieher sind immer mehr gefragt, ganz unterschiedliche Kinder unter einen Hut zu bekommen und dabei allen gleichzeitig gerecht zu werden.

Deutscher Kitaleitungskongress Vom 20. bis 21. Juni treffen sich zum Deutscher Kitaleitungskongress Kita-Leiterinnen und Leiter aus ganz Deutschland in der Kongresshalle im Zoo Leipzig. Themen sind unter anderem Zukunftskompetenzen der Kinder, digitale Medien in der frühkindlichen Bildung sowie aktuelle Herausforderungen.

Nicht alle Kinder erfahren Harmonie und Förderung im Elternhaus. Ist die Kita auch die Chance für Kinder aufzuholen, was sie zu Hause nicht bekommen?

Ja, das kann man auf jeden Fall so sagen. Wie gesagt, ein Kind kann sich auch außerhalb einer Kita gut entfalten und entwickeln. Doch gleichzeitig ist die Kita eine gute Chance, dort wo Eltern den Bedürfnissen der Kinder vielleicht finanziell und zeitlich nicht gerecht werden können, einen Mangel zu kompensieren.

Manche Eltern möchten solange wie möglich bei den Kindern bleiben. Geht auch beides – enge Bindung zu den Eltern und Kita?

Auf jeden Fall. Wir unterscheiden zwischen Bindung und Beziehung. Eine Bindung entsteht mit den Eltern oder engsten Bezugspersonen wie Großeltern oder Adoptiveltern. Die Beziehungen, die Kinder darüber hinaus aufbauen, werden natürlich von den Erfahrungen mit den Eltern oder Bezugspersonen beeinflusst. Das kann sich aber zusätzlich parallel entwickeln kann. Wenn ein Kind gute Beziehungen zu Gleichaltrigen oder einer Erzieherin aufbaut, heißt das nicht, dass die Bindungen zu den Eltern leiden oder schlechter werden müssen. Umgekehrt bedeutet es auch nicht, dass ein Kind mit guter Bindung zum Elternhaus gleichzeitig nicht auch sehr positive, weitere Beziehungen zu Gleichaltrigen oder Erziehern aufbauen kann.

Das ergänzt sich an vielen Stellen sehr gut. Die Bindung ist quasi der der sichere Hafen, an dem man immer zurückkehren kann. Die Beziehungen mit Gleichaltrigen zum Beispiel sind Möglichkeiten, Erfahrungen zu sammeln, Dinge auszuprobieren und gemeinsam zu erleben.

Oft sind Eltern verunsichert, lesen viel und wissen danach auch nicht mehr. Was ist Ihr Rezept für ein glückliches, gut entwickeltes Kind?

Kinder sammeln immer ihre individuellen Erfahrungen und gehen damit ihren individuellen Weg. Ich glaube hier ist es gut, oft auf sein Bauchgefühl zu hören, sich nicht so schnell verunsichern zu lassen und zu schauen: Wie fühlt sich das Kind gerade in seiner aktuellen Lebenssituation?

Vielen Dank für das Gespräch!

MDR (tomi)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Regionalnachrichten | 20. Juni 2023 | 10:30 Uhr

Mehr aus Chemnitz und Stollberg

Mehr aus Sachsen

Rotes Cover zeigt Marcel Duchamps "Minotaure" von 1934. 4 min
Bildrechte: © Archiv der Avantgarden - Egidio Marzona, SKD, Foto: Herbert Boswank
4 min 05.05.2024 | 05:01 Uhr

Die erste Sonderausstellung im Dresdner Archiv der Avantgarden widmet sich dem Surrealismus und trägt den Titel "Archiv der Träume". Michael Ernst hat mit dem Kurator Przemysław Strożek einen Rundgang unternommen.

MDR KULTUR - Das Radio So 05.05.2024 09:40Uhr 04:00 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/dresden/audio-archiv-traeume-ausstellung-kunst-surrealismus-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Audio