Erinnerung Gedenken in Schweinsburg-Culten an Zugunglück vor 50 Jahren

29. Oktober 2022, 10:00 Uhr

Trebbin, Langenweddingen, Lebus, Hohenthurm oder Forst Zinna - die Namen dieser kleinen Ortschaften stehen im Zusammenhang mit schweren Eisenbahnunfällen in der DDR. Auch Schweinsburg-Culten bei Werdau ist mit einer solchen Katastrophe verbunden. Dort stießen am 30. Oktober 1972 ein Schnellzug nach Berlin und ein Expresstriebwagen nach Karlovy Vary frontal zusammen, mindestens 27 Menschen starben. Am Sonntag gedenkt der Ort der Opfer und will an den Einsatz der vielen Helfer erinnern.

Die Gemeinde Neukirchen an der Pleiße erinnert am Sonntag an das schwere Zugunglück vor 50 Jahren im Ortsteil Schweinsburg-Culten. Bürgermeisterin Ines Liebald sagte MDR SACHSEN, es sei ein stilles Gedenken am Denkmal für das Unglück geplant.

Am 30. Oktober 1972 war gegen 7:28 Uhr in Schweinsburg-Culten der Expresstriebwagen 348 "Karola" von Leipzig nach Karlovy Vary frontal mit dem D-Zug 273 Aue - Berlin bei dichtem Nebel auf der damals noch eingleisigen Strecke frontal zusammengestoßen. Bei dem Unglück starben nach Angaben der Gemeindeverwaltung 27 Menschen, 72 Reisende wurden teilweise schwer verletzt.

Unfall in der Gemeinde noch immer präsent

Die Feuerwehr lege an diesem Sonntag einen Kranz am Denkmal nieder, sagte die Bürgermeisterin. Auch nach 50 Jahren sei das Zugunglück Thema im Ort und beschäftige die Menschen. Schon im September habe sie Anfragen aus der Bürgerschaft erhalten, ob die Gemeinde eine Gedenkveranstaltung plane. Man wolle das Unglück nicht verdrängen, habe sich aber bewusst dazu entschieden, die Kranzniederlegung in kleinem Rahmen abzuhalten. Alle, die sich mit dem Ereignis verbunden fühlen, könnten vorbeikommen und in Stille gedenken.

Ersthelfer will Namen von Opfern verlesen

In jedem Fall will Falk Löffler dabei sein. Der 73 Jahre alte Tischler und Feuerwehrmann war bei den Rettungsarbeiten vor 50 Jahren im Einsatz. Noch genau erinnert er sich an den ohrenbetäubenden Knall, der beim Zusammenstoß der Züge zu hören war. "Ich wusste sofort, da ist etwas Schlimmes passiert." Wenig später heulten die Sirenen und der damals junge Mann und frisch gebackene Papa rückte aus.

Schon auf dem Weg zur Unfallstelle seien ihm Reisende mit Gepäck entgegen gekommen. Dass der Knall ein Zugunglück war, wussten die Feuerwehrleute zunächst noch gar nicht. Und auf das, was sie an der Unfallstelle vorfanden, waren er und seine Kameraden nie vorbereitet worden. Falk Löffler sagt, klassische Feuerwehreinsätze in der Region seien damals Brände in der Landwirtschaft und der Textilindustrie gewesen.

Diese Zeitzeugen waren als Feuerwehrleute beim Rettungseinsatz 1972 an der Unglücksstelle dabei:

  • Freiwillige Feuerwehr Neukirchen: Horst Neupert, Klaus Kaden, Jürgen Riedel, Bernd Meißner, Thomas Hertel, Falk Löffler
  • Freiweillige Feuerwehr Werdau: Peter Uhlig, Dieter Graupner, Franz Meyer, Klaus Köhler, Peter Dassler
  • Freiwillige Feuerwehr Crimmitschau: Gottfried Hausmann, Wilhelm Seibt

Feuerwehrleute damals mit schlechter Ausrüstung

Wenn Falk Löffler von dem Einsatz berichtet, spürt man, wie ihn die Erlebnisse noch immer bewegen. "Ich habe mich jetzt wieder damit beschäftigt, Akten gelesen und sogar davon geträumt", sagt der Feuerwehrmann.

Stundenlang hat er an jenem nasskalten Oktobermorgen gemeinsam mit Kameraden von Feuerwehren umliegender Orte Verletzte und Tote aus den ersten, völlig verkeilten Waggons des Schnellzugs geborgen. "An die abgerissene Oberleitung haben wir nicht einmal gedacht." Geeignete Technik, um Trümmerteile zu durchtrennen und Eingeklemmte zu befreien, fehlte seinerzeit in der Ausrüstung der Feuerwehren. Er versucht sachlich zu berichten, ohne allzu viele Details zu nennen. "Wir haben einfach funktioniert."

Hintergrund: Was über das Zugunglück von Schweinsburg-Culten bekannt ist

Wie in der DDR üblich, wurde auch über das Zugunglück von Schweinsburg-Culten nur kurz sachlich berichtet, die amtliche Nachrichtenagentur ADN veröffentlichte ein Foto von der Unglücksstelle. Die Untersuchungsergebnisse blieben aber unter Verschluss. Fakt ist: Am Morgen des 30. Oktober 1972 stießen nahe des Bahnhofs Schweinsburg-Culten (Strecke Leipzig - Werdau - Zwickau/Plauen) der Schnellzug von Aue nach Berlin mit dem Express-Triebwagen "Karola" von Leipzig nach Karlovy Vary frontal zusammen. Die Strecke war in dem Bereich damals eingleisig, nachdem die Sowjets einen Schienenstrang als Reparationsleistung nach dem Zweiten Weltkrieg abbauen ließen.

Normalerweise hätten sich die Wege beider Züge in Werdau kreuzen müssen. Weil der Express aber aufgrund dichten Nebels etwa zehn Minuten Verspätung hatte, veranlasste die Dispatcher-Leitung der Deutschen Reichsbahn in Zwickau eine außerplanmäßige Zugkreuzung in Schweinsburg-Culten. Das hätte eine Verspätung des Schnellzugs nach Berlin vermieden. Zugfunk oder automatische Zwangsbremsungen gab es damals nicht und der Triebwagenführer des Expresszugs missachtete aus nicht bekannten Gründen mehrere Signale. Er durchfuhr den Bahnhof Schweinsburg-Culten mit etwa 100 Kilometern pro Stunde und stieß wenig später mit dem entgegenkommenden, langsam fahrenden Schnellzug zusammen. Über die Zahl der Toten gibt es unterschiedliche Angaben von 27 oder 28, was daran liegen mag, dass Verletzte noch in Krankenhäusern starben. Mindestens 27 Menschenleben forderte der Unfall. Unter den Opfern waren viele Vogtländer, da in Lichtentanne ein Zugteil aus Plauen vorn an den Schnellzug aus Aue nach Berlin gekuppelt worden war.

Der "Karola"-Express hingegen war ein Prestige-Zug der Deutschen Reichsbahn, ein schnittiger Schnellverbrennungstriebwagen der Bauart "Görlitz". Sie fuhren nach Kopenhagen, Malmö, Wien und Karlovy Vary. Deren Triebwagenführer wurden Piloten genannt, im Zug wurden Reisende von Stewardessen betreut. In Eisenbahnerkreisen geht man davon aus, dass der "Karola"-Pilot aus seinen Erfahrungen heraus gar nicht damit rechnete, unterwegs außerplanmäßig anhalten zu müssen. Die Express-Züge hatten immer Vorrang auf den dicht belegten Strecken. Zudem soll aus den Untersuchungsunterlagen hervorgehen, dass das Zugpersonal, das wohl planmäßig im Triebwagen in Leipzig übernachtete, offenbar nach Dienstschluss am Vorabend bis in die Nacht gemeinsam Bier trank. Inwieweit sich das auf die Dienstfähigkeit auswirkte, bleibt wohl für immer unklar.

Die Bahnstrecke wurde nach dem Unglück binnen eines Tages geräumt und am 31. Oktober 1972 wieder freigegeben.

Bis zur Wende wurde nie öffentlich über die Katastrophe gesprochen. Legten Angehörige Kränze nieder, wurden diese von der Stasi eingesammelt. Erst vor 20 Jahren gab es ein erstes offizielles Gedenken, das Denkmal aus gekreuzten Schienen und einem zerbrochenen Lokomotivrad mit Inschrift wurde aufgestellt.

Viele Studenten und Gehörlose im Zug

Der Schnellzug nach Berlin bestand aus zwei gekuppelten Doppelstock-Gliederzügen. An dem Montagmorgen sollen 1.000 Menschen in dem Zug gewesen sein, darunter Studenten auf dem Weg nach Leipzig. Auch viele junge gehörlose Menschen nutzen regelmäßig diesen Schnellzug auf der Fahrt zu einer Gehörlosenschule. An sie kann sich Falk Löffler noch gut erinnern. Sie haben den Knall des Aufpralls nicht wahrnehmen können, irrten umher und realisierten im dichten Nebel erst nach und nach, dass ihr Zug verunglückt ist.

Stasi schickt Feuerwehrleute mittags einfach weg

Falk Löffler erzählt noch vom Lokführer des Schnellzugs, der im Führerstand eingeklemmt war, noch medizinisch versorgt wurde und dennoch nicht überlebte. Die E-Lok hatte sich auf den Triebzug geschoben. Die Feuerwehrleute hatten eine Leiter angelegt, über die ein Arzt zum Unfallopfer gelangte. Falk Löffler erinnert sich, wie Stasi-Leute am frühen Nachmittag die Feuerwehrleute von der bereits abgeriegelten Unglücksstelle einfach weggeschickt haben. "Am Abend, als der Nebel zurückkam, wurden wir wieder alarmiert und mussten mit Feuern die Unglücksstelle für die Bergungsarbeiten ausleuchten." Erst als die Trümmer mit Bergepanzern auseinandergezogen wurden, konnte die Triebwagenbesatzung des "Karola" tot geborgen werden. "Zuvor kamen wir nicht ran."

Zeitzeuge Löffler will das Kapitel für sich abschließen

Am Sonntag will der damalige Ersthelfer 24 Blumen auf eine Decke am Denkmal für das Unglück ablegen und die Namen der Menschen verlesen, die noch an der Unfallstelle ums Leben kamen. Anhand von Fotos in lange geheim gehaltenen Ermittlungsakten hat er diese Zahl recherchiert. Mindestens drei weitere Schwerverletzte starben nach dem Unglück in Krankenhäusern. "Für mich will ich das Kapitel nach 50 Jahren endgültig abschließen", sagt Falk Löffler, der noch immer aktiver Feuerwehrmann ist. Die Zeit sei dafür reif. "Ich will noch einmal allen Ersthelfern danken, die in der DDR nie Dank für ihren Einsatz oder gar psychologische Betreuung erhalten hatten."

Auf schmaler Spur Zuglegende SVT
Ein solcher Triebwagen war als "Karola"-Express in den Unfall verwickelt. Ein Triebkopf und zwei Mittelwaggons mussten ausgemustert werden, der Rest des Zuges wurde mit Reservewagen ergänzt und fuhr noch einige Jahre weiter. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Ereignisse von 1972 auch bei jungen Kameraden präsent

Das Unglück, die Opfer und die Retter würden dennoch nicht in Vergessenheit geraten, ist der 73-Jährige überzeugt. "Es gibt Dokumente in der Gemeinde, es gibt das Denkmal und auch die jungen Feuerwehrleute interessieren sich für die Ereignisse von damals."

Das Feuerwehrfahrzeug aus dem Jahr 1942, mit dem die Erstretter damals zur Unglücksstelle fuhren, gibt es auch noch. Es wird als Traditionsfahrzeug erhalten und gepflegt. Um die Zukunft "seiner" Feuerwehr macht sich Falk Löffler übrigens keine Gedanken. "Die jungen Kameradinnen und Kameraden packen heute am Einsatzort genauso an, wie wir damals beim Zugunglück", sagt er mit Stolz in der Stimme. Und auch er selbst denkt nicht ans Aufhören und lässt seinen Funkmelder weiterhin 24 Stunden auf Empfang.

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Der Sonntagnachmittag | 30. Oktober 2022 | 14:20 Uhr

Mehr aus Zwickau, Altenburg und Greiz

Mehr aus Sachsen

Zwei Männer stehen neben Mopeds. mit Video
Bei ihnen kommt kein Motorrad auf den Müll. Die rote Jawa hatte Kurt Lötzsch’s Vater 1954 gekauft. Mittlerweile blitzt das Zweirad wieder. Und rollt so oft es das Wetter zulässt. André Singer ist mit seiner himmelblauen DKW stets dabei. Bildrechte: Mitteldeutscher Rundfunk / Kathrin Welzel
SSP - Kletterkirche 2 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK
SSP - Chirurgie-kongress 2 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK