Die Bewohnerin eines Pflegeheimes mit Faschingsdekoration im Vordergrund sitzt in einem Rollstuhl und blickt aus dem Fenster.
Karneval und Festtage allein verbringen: Dass Angehörige aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen plötzlich weggeblieben sind, hatte für Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen unerwartete gesundheitliche Folgen. Bildrechte: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Willnow

Forschungsbericht Durch Corona-Schutzmaßnahmen: Ohnmacht und Einsamkeit im Altenheim

17. Juli 2023, 19:53 Uhr

Während der Corona-Pandemie galten Bewohnerinnen und Bewohner von Alten- und Pflegeheimen als besonders schutzbedürftig. Zeitweise gab es deshalb Besuchs- und Kontaktverbote für Angehörige. Offenbar mit erheblichen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen.

Die Corona-Pandemie war für die gesamte Gesellschaft eine Herausforderung. Besonders ansgespannt war die Situation aber in der stationären Pflege. Wir erinnern uns: In Heimen wurde das Infektionsrisiko als sehr hoch eingestuft. Außerdem verlief bei älteren und kranken Menschen eine Corona-Infektion oft deutlich komplikationsreicher. Wie die meisten Bundesländer führte Sachsen deshalb Besuchsverbote für Heimbewohner ein. Außerdem wurden soziale Betreuungsangebote in den Einrichtungen größtenteils ausgesetzt. Die Folgen: Weitreichend. Zu diesem Schluss kamen der Sächsische Landesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und die Chemnitzer Regionaldirektion der Knappschaft-Krankenkasse in einem gemeinsamen Bericht.

In Gesprächen mit Betroffenen, Angehörigen und Pflegekräften von sechs Altenheimen untersuchten sie vor knapp zwei Jahren – also noch während der Pandemie – die Auswirkungen der Schutzverordnung auf die Bewohner von Altenheimen. Der Bericht wurde jetzt an Dagmar Neukirch, Staatssekretärin im Sozialministerium und stellvertretende Vorsitzende der AWO, überreicht.

Eine alte und demenzkranke Frau sitzt in einem Pflegeheim.
Laut Studie fühlten sich viele alte Menschen in Pflegeheimen "weggesperrt" und isoliert aufgrund der Corona-Schutzmaßnahmen. Bildrechte: picture alliance / Patrick Pleul/dpa-Zentralbild/dpa | Patrick Pleul

Schwerwiegende psychosoziale Folgen

Zentrale Erkenntnis: In stationären Pflegeeinrichtungen seien Schutzmaßnahmen wie Isolation und Quarantäne kontraproduktiv. Viele alte Menschen hätten den Sinn der sozialen Abgrenzung nicht nachvollziehen können und sich "weggesperrt" gefühlt.

So seien die alten Menschen vereinsamt, hätten sich zurückgezogen und teilweise depressive Symptome gezeigt. Einige Heimbewohner seien vermutlich aufgrund der anhaltenden Einsamkeit verstorben. Bei zwei Drittel der Betroffenen sei es vermehrt zu Stimmungsschwankungen gekommen. Ängste und Sorgen hätten während der Pandemie zugenommen.

Zudem seien die Konsequenzen im Alltag spürbar. Demnach verloren Heimbewohner unter anderem ihre Gewohnheiten. Auch die körperliche Alterung sei beschleunigt worden.

Eine Pflegekraft im Seniorenheim wird auf das Coronavirus getestet.
Die Rolle von Angehörigen für das Wohlbefinden älterer Menschen wurde laut Forschungsbericht unterschätzt. Bildrechte: picture alliance/dpa | Sina Schuldt

Angehörige als Stabilitätsanker

Die Autoren des Berichts führen die psychologischen Folgen auch darauf zurück, dass den Betroffenen die Möglichkeit zur Selbstbestimmung genommen worden sei. Das habe zu einem Gefühl der Ohnmacht geführt. Vor allem aber sei die Rolle der Angehörigen unterschätzt worden. Deren Wert sei so vielseitig wie unverzichtbar.

Das sagt auch Simone Menz, die für die AWO die Gespräche mit den Heimbewohnern und ihren Angehörigen geführt hat: "Wenn ich als Mensch im Altenheim bin und jeden Abend mit meiner Tochter telefonieren kann, dann komme ich auch durch diese Pandemie durch. Wenn sie mich aber zuvor regelmäßig besucht und das jetzt nicht mehr macht, dann ist das ein Einschnitt, der kaum wettzumachen ist."

Wenn ich als Mensch im Altenheim bin und jeden Abend mit meiner Tochter telefonieren kann, dann komme ich auch durch diese Pandemie durch. Wenn sie mich aber zuvor regelmäßig besucht und das jetzt nicht mehr macht, dann ist das ein Einschnitt, der kaum wettzumachen ist.

Simone Menz Mitarbeiterin im Forschungsprojekt ESCORP

Demnach erfüllen sie eine fürsorgliche und vermittelnde Funktion, indem sie beispielsweise die Krisensituation erklären und über die Sorgen und Ängste der Heimbewohner sprechen.

Auf das Wegbleiben der Verwandtschaft aufgrund der Schutzmaßnahmen hätten einige der Alten und Pflegebedürftigen mit einem persönlichen Schuldempfinden reagiert. Andere warfen offenbar ihren Angehörigen vor, sie seien aus eigener Entscheidung ferngeblieben. Diese Gefühle hätten die gesundheitlichen Folgen der Kontaktbeschränkungen verschärft.

Ein Pfleger hält in einem Alten- und Pflegeheim die Hand einer Bewohnerin.
Beschäftigte in der stationären Altenpflege litten unter der erhöhten Arbeitsbelastung und der Ungewissheit, dass Kolleginnen und Kollegen jederzeit wegen Erkrankung ausfallen können. Bildrechte: picture alliance/dpa | Oliver Berg

Struktureller Personalmangel

Logistische Probleme kamen hinzu. Oft von Angehörigen besorgt: Die Lieblingsmarmelade, das gewohnte Rätselheft - die alltäglichen Kleinigkeiten, die aber älteren Menschen so wichtig sind, ihnen Stabilität und Wohlbefinden geben. Diese Aufgaben fielen laut Bericht nun auch dem Pflegepersonal zu – oder sie fielen sogar komplett weg.

Denn auch die Beschäftigten in der stationären Altenpflege seien schwer von den Folgen der Pandemie getroffen worden. Zwar waren der Personalmangel und seine Auswirkungen schon vor der Pandemie bekannt. Durch das Infektionsgeschehen sei das Problem aber weiter angewachsen. Krankschreibungen unter dem Personal erschwerten den Pflegealltag.

"Vermeintliche Schutzmaßnahmen"

Die personelle Überforderung der Altenheime habe bei mehr als einem Drittel des Pflegepersonals zu langfristigen Erschöpfungszuständen geführt. Aufgrund der erhöhten Arbeitsbelastung konnten die Angestellten den Pflegebedarf der Heimbewohner laut Bericht teilweise nicht mehr vollständig erfüllen. So sei in manchen Fällen keine Zeit geblieben, sterbende Bewohner zu begleiten oder deren Tod zu verarbeiten.

5 Mal eine Studie zum Thema Corona auf einem Tisch
Die Autoren der Studie wollen andere Zukunftstrategien. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Zukünftig lieber Gruppenisolierungen?

Für mögliche zukünftige Krisensituationen wie der Corona-Pandemie fordern die Studienautoren ein klares Schutzkonzept. Dafür empfehlen sie, Angehörige mehr einzubeziehen, anstatt sie auszugrenzen. Außerdem solle man beispielsweise eine Gruppenisolierung in Betracht ziehen, um der Einsamkeit entgegenzuwirken.

Die Erkenntnis ist glaube ich, dass man so etwas auch ein bisschen üben muss.

Dagmar Neukirch Schirmherrin der Studie, Sozialstaatssekretärin und stellvertretende Vorsitzende der AWO

Studien-Schirmherrin Dagmar Neukirch könnte sich außerdem vorstellen, die Krisensituation zu proben: "Die Erkenntnis ist glaube ich, dass man so etwas auch ein bisschen üben muss. Auch den Umgang mit der Maske oder mit Schutzkleidung, damit das keine Angst ausübt. Stattdessen sollen die Menschen wissen, dass dahinter ein achtsamer Gedanke steckt."

Die Sächsische Corona-Schutzverordnung hatte zeitweise Besuchsbeschränkungen vorgesehen. Der Besuch durch Angehörige war anfangs nur in Ausnahmefällen erlaubt. Begründet wurde die Maßnahme mit einer hohen gesundheitlichen Gefahr für Alte und Pflegebedürftige. Auch das Ausfallrisiko des Personals spielte eine Rolle.

Für AWO und Knappschaft gehören zur Vulnerabilität der Heimbewohner allerdings auch der Schutz vor Vereinsamung und das Recht auf Selbstbestimmung. Der Leiter der Chemnitzer Regionaldirektion der Knappschaft, Thorsten Zöfeld, sagte: "Hier muss es jetzt darum gehen, die gewonnenen Erkenntnisse zu nutzen und in Handlungsempfehlungen umzusetzen."

MDR (ceg/kav)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Radioreport | 17. Juli 2023 | 18:00 Uhr

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