Interview Vorländer: Zuwanderung und Gewalt hängen nicht direkt zusammen

14. Januar 2023, 12:00 Uhr

Im Sachverständigenrat für Integration und Migration der Bundesregierung sind künftig zwei Wissenschaftler aus Sachsen vertreten. Das Gremium besteht aus neun Fachleuten und berät die Politik. Den Vorsitz übernimmt der Dresdner Politikwissenschaftler Hans Vorländer, von der TU Chemnitz wurde die Migrationsforscherin Birgit Glorius in das Gremium berufen. Was macht diese Gremium genau und wie bringen sich die Experten dort ein? Antworten gibt der Politikwissenschaftler im Interview.

Herr Vorländer, Sie sind der neue Chef des Sachverständigenrats für Integration und Migration der Bundesregierung. Was macht dieser Sachverständigenrat konkret?

Hans Vorländer: Ich will das ein bisschen zurechtrücken. Chef, das klingt so, als ob ich weisungsbefugt bin und den anderen vorschreibe, was sie zu denken, zu schreiben oder zu diskutieren haben. Das ist natürlich nicht der Fall. Ich gehöre dem Sachverständigenrat ja schon seit längerem an. Es ist eine höchst kollegiale, fast freundschaftliche Atmosphäre zwischen den Mitgliedern, die alle aus der Wissenschaft aus unterschiedlichen Disziplinen kommen, mit unterschiedlichen Hintergründen. Einmal im Jahr legen wir ein großes, sogenanntes Gutachten vor zu einem Thema, das sich mit den zentralen Problemen von Migration und Integration beschäftigt.

Als Vorsitzender bin ich der Primus inter Pares, also der Erste unter Gleichen, der moderiert, der auch den Sachverständigenrat nach außen vertritt. Und der auch bei Anhörungen, ob im Bundestag oder in beratender Funktion, in Ministerien, gegenüber der Zivilgesellschaft oder Verbänden, in Erscheinung tritt.

Können Sie ein Beispiel nennen, wie die Arbeit des Sachverständigenrats in die Politik oder in Gesetze einfließt?

Ja, es gibt viele, gerade im gegenwärtigen Beratungsstadium. Sie haben vielleicht davon gehört, das es neue Gesetzentwürfe gibt zu einem sogenannten Chancen-Aufenthaltsrecht oder zu der Frage, wie Arbeitskräfte oder Facharbeiter nach Deutschland kommen können, wie hierzu die neuen Bestimmungen, die in gesetzliche Form gegossen werden müssen, aussehen sollen. Das sind solche Maßnahmen, bei denen wir um Stellungnahmen gefragt werden.

Auch Sachsen ist gerade dabei, ein Integrations- und Teilhabegesetz zu formulieren, das Bestandteil des Koalitionsvertrages ist. Hier gibt es sicherlich bald einen Referentenentwurf, der zwischen den Ministerien abgestimmt werden muss. Und dann gibt es Anhörungen. Und bei diesen Anhörungen beispielsweise ist dann der Sachverständigenrat Integration und Migration in der Regel auch eingeladen, um seine Position klarzumachen und Anregungen zu geben.

In Sachsen haben viele Menschen Vorbehalte gegen Migrantinnen und Migranten. Die sind größer als in westlichen Bundesländern. Wie sollte die Politik dem begegnen?

Wir müssen vor allem klarmachen, dass wir eine Atmosphäre schaffen, die Zuwanderung von Facharbeiterinnen und Facharbeitern möglich macht. Ein Teil ist, dass die Behörden gut arbeiten, dass Menschen gut integriert werden. Aber sie müssen natürlich auch eine offene Willkommenskultur erfahren. Denn sonst wird es schwierig, beispielsweise Menschen im Pflegebereich neu zu gewinnen oder in medizinischen Berufen oder in den Unternehmen, die händeringend nach Fachkräften suchen.

Sachsen ist ein Land, welches aufgrund der Demografie einen hohen Bedarf an Zuwanderung von qualifizierten Arbeitskräften hat. Und die Menschen wollen natürlich auch gerne in ein Land kommen, dass sie mit offenen Armen aufnimmt.

Sie sagten, die Willkommenskultur müsste gefördert werden. Wie kann das funktionieren? Das wird ja seit Jahren gefordert.

Es gibt Regionen und Arbeitsbereiche, wo Menschen, die aus dem Ausland zu uns kommen und hier arbeiten, sehr herzlich willkommen geheißen werden. Ich denke insbesondere an Wissenschaft oder internationale Unternehmen. Globalfoundries, Infineon, Volkswagen oder BMW können überhaupt nicht funktionieren, wenn sie nicht Zuwanderung von außen haben.

Das zeigt aber auch, dass es entscheidend auf die Bereitschaft von Unternehmen ankommt, Ausbildung am Arbeitsplatz zu fördern, zu integrieren und Arbeitsplätze bereitzustellen. Die Integration über den Arbeitsmarkt ist eine ganz entscheidender Voraussetzung dafür, dass Menschen lernen, auch mit Personen zu kooperieren, die aus anderen Kontexten kommen. Und wir wissen, je mehr Kontakt besteht, desto offener ist eigentlich auch das Verhältnis gegenüber Zuwanderung.

Da ist in Sachsen, wie überhaupt in den neuen Ländern, Zeit ein wichtiger Gesichtspunkt. Erst 2015/16 haben die ostdeutschen Länder einen hohen Zuwanderungsprozess gesehen. Die Menschen müssen sich daran gewöhnen. Hier ist es wichtig, dass in der Schule, in der Ausbildung, auf dem Wohnungsmarkt, in der Stadtpolitik und Arbeitsmarktpolitik die Zugänge ermöglicht werden. Da sind der Staat, aber auch die zivilgesellschaftlichen Einrichtungen und die Wirtschaft gefragt, um solche Zugänge zu erleichtern und zu begleiten.

In Berlin wird gerade mehr über eine fehlgeschlagene Integration von jungen Männern diskutiert. Was läuft da falsch?

Wir müssen genau hinschauen, ob das wirklich ein Integrations- oder ein Sozialisationsproblem ist. Das ist noch offen. Wir wissen aus unserer Forschung, dass das soziale Umfeld immer eine entscheidende Rolle spielt, also die Wohnsituation, die Arbeits- und Ausbildungssituation, die Beschulung. Insofern ist es ganz wichtig, auf solche Faktoren hinzuweisen. Gewalt unter Jugendlichen, vor allem unter Männern, ist er kein unbekanntes Phänomen, egal, wo jemand herkommt.

Wir sehen das auch im Fußball. Im Mai 2021 gab es erhebliche Ausschreitungen von Jüngeren und vor allem Männern gegenüber der Polizei im Anschluss an das Aufstiegsspiel von Dynamo Dresden. Wir haben solche Gewaltexzesse und gewalttätigen Auseinandersetzungen auf den Straßen auch in anderen Kontexten, nicht nur dort, wo man glaubt, dass ein sehr hoher Anteil an Zugewanderten lebt. Wir kennen das auch aus anderen Städten und von Protesten. Das haben wir in den letzten Jahren immer wieder gesehen.

Man muss sehr genau hingucken. Zuwanderung ist keine Determinante von Gewalttätigkeit. Das muss man sehr deutlich verneinen. Es gibt ganz bestimmte soziale, strukturelle Umfeldprobleme, die man beheben muss. Dann kann man versuchen, Gewalt unter Jüngeren auch unter Männern einzuhegen.

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Obwohl gerade so viele Flüchtlinge nach Deutschland kommen, wie seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr, beherrscht Migration kaum die Schlagzeilen. Oliviero Angeli von der TU Dresden sieht diese Entwicklung zwiespältig.

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Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN - Das Sachsenradio | Radioreport | 12. Januar 2023 | 13:00 Uhr

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