Eine junge Frau mit schwarzen, langen Haaren steht an einem Computer und notiert etwas in einen Kalender
Bei Victoria stapeln sich oft die unkorrigierten Klassenarbeiten. Sie versucht nun vermehrt, den Unterricht für den nächsten Tag schon nachmittags in der Schule vorzubereiten. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Schule Lehrerin am Limit - Für guten Unterricht bleibt kaum noch Zeit

01. Juli 2023, 17:37 Uhr

Die Tage, an denen keine Unterrichtsstunden an Sachsens Schulen ausfallen, werden langsam zur Ausnahme. Akuter Lehrermangel heißt das Problem. Das ist nicht neu und zudem eine Endlos-Negativspirale. Immer mehr Lehrer melden sich immer länger krank oder arbeiten sich in den Burn-out. Teilzeit ist kaum noch eine Option, das unterbindet das Kultusministerium.

Mehrere Hefte und Lehrbücher stapeln sich, auf einem Schreibtisch liegen einzelne Stifte verteilt. Victoria, die nicht mit ihrem echten Namen genannt werden will, nimmt ein Chemie-Lehrbuch der 11. Klasse zur Hand, blättert darin und schreibt etwas in ihren Planer. "In der Klasse muss ich unbedingt noch eine Arbeit schreiben", sagt die Gymnasiallehrerin für die Fächer Latein und Chemie. Heute muss sie noch den Unterricht für den kommenden Tag vorbereiten und eine Leistungskontrolle korrigieren.

Victoria atmet tief durch: "Im Referendariat konnte ich das noch nicht nachvollziehen, dass so viele Lehrer jammern, weil sie keine Zeit haben." Denn für die heute 30-Jährige habe der Einstieg in den Lehrerberuf relativ entspannt begonnen, sagt sie.

Ruhiges Referendariat während Corona-Pandemie

Victoria beginnt ihr Referendariat im Februar 2020. Es folgen während der Corona-Pandemie Monate mit viel Homeschooling und wenig Präsenzunterricht. Genug Zeit für die junge Frau mit Brille und langen, schwarzen Haaren, den Unterricht vorzubereiten und sich auf die Seminararbeit zu konzentrieren. "Mein Einstieg war deswegen sehr locker", erinnert sich Victoria.

Ich bin da öfters mit Kopfschmerzen nach Hause gegangen.

Victoria Junge Lehrerin aus Dresden

Vor anderthalb Jahren änderte sich für die Lateinlehrerin abrupt sehr viel. Sie wurde gleich an zwei Schulen in Meißen und Freital abgeordnet. Dort unterrichtet sie, statt der im Referendariat üblichen zwölf Unterrichtstunden, 26 Stunden und muss sich die 300 neuen Namen der Schülerinnen und Schüler merken. "Ich bin da öfters mit Kopfschmerzen nach Hause gegangen", sagt die Dresdnerin.

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Für guten Unterricht bleibt wenig Zeit

Für das Unterrichten, so wie Victoria es im Referendariat gelernt hatte, ist im realen Lehreralltag mit einem Mal keine Zeit mehr. Nach dem Unterricht und den Schulkonferenzen ist sie manchmal erst nach 18 Uhr zu Hause. Sie beginnt bei den Unterrichtsstunden abzuspecken: "Ich habe begonnen, auch Unterricht zu machen, der aus meiner Sicht fachdidaktisch schlecht ist."

Ich habe das als Selbstschutz akzeptiert, weil man sonst kaputtgeht.

Victoria greift aus Zeitmangel oft auf Frontalunterricht zurück

Das heißt: Zehn Minuten vor Stundenbeginn zückt sie schon mal das Lateinbuch und legt dann erst ihren Fahrplan für den Unterricht fest. "Ich habe das als Selbstschutz akzeptiert, weil man sonst kaputtgeht." Manchmal sieht Victoria ihren Schülern die Langeweile an. Trotzdem greift sie oft auf Frontalunterricht zurück, weil der keine große Vorbereitung brauche. "Wenn man den Anspruch hat, noch zu essen und zu schlafen, dann kann man für eine Unterrichtsvorbereitung keine zwei Stunden brauchen", sagt die Chemielehrerin.

Lehrerkollegin wird in Vollzeit gezwungen

Trotzdem fühlt sich Victoria oft übermüdet. Obwohl Lehrerkolleginnen sie etwa durch Unterrichtsmaterialien unterstützt haben, hat sie sich meist als Einzelkämpferin gefühlt. "Ich habe mich öfters gefragt 'Soll das dein Leben lang so weitergehen?'. Permanent steht man unter Strom."

Eine junge Frau mit schwarzen Haaren steht auf einem Balkon und gießt Blumen.
Zu Hause soll vor allem Zeit für sie selbst sein. Bei Konzerten oder wenn sie mit Freunden unterwegs ist, kann Victoria gut abschalten. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Kritisch sieht Victoria, dass die Reduzierung von Unterrichtsstunden und das Arbeiten in Teilzeit für Lehrer nur noch in Ausnahmefällen von den Schulämtern genehmigt werde. Eine Lehrerkollegin, die jahrelang nur mit reduzierter Stundenanzahl arbeiten sollte, weil es lange Zeit genügend Lehrer gab, sei nun in die Vollzeit gezwungen worden. "Die verbauen sich da etwas mit den Teilzeitbeschränkungen", sagt Victoria.

GEW Sachsen: Teilzeit arbeiten, um Gesundheit zu schützen

Auch die Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Sachsen kritisiert dieses Vorgehen. "Jeder, der einen Antrag auf Teilzeit stellte, hatte diesen bislang auch bewilligt bekommen", sagt GEW-Sprecher Matthes Blank. Ein Pflegefall oder eigene Kinder seien bisher als Voraussetzung für eine Genehmigung nicht notwendig gewesen - seit diesem Jahr schon. "An der gesetzlichen Grundlage hat sich nichts geändert oder verschärft – das ist juristisch richtig", erklärt Blank. Doch dass Lehrerinnen und Lehrer Teilzeit arbeiten wollen, hat Blank zufolge oft individuelle Gründe und sollten ernst genommen werden.

Besonders problematisch sei das laut Blank für die Lehrkräfte, die jahrelang in Teilzeit gezwungen wurden, weil diesen sonst keine Jobgarantie hätte gegeben werden können. "Diese Lehrer waren jetzt 20 Jahre in Teilzeit. Da ist klar, dass da viele sagen 'Da mach ich nicht mit'". Aktuell arbeitet Blank zufolge ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer in Sachsen in Teilzeit. Die GEW habe Rückmeldungen von Lehrern, die dem Beruf den Rücken kehren würden, weil sie nun wieder Vollzeit arbeiten sollen.

Teilzeitwünsche kann man den Menschen nicht verwehren, egal in welchem Alter.

Matthes Blank Sprecher der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft (GEW) Sachsen

Doch für ältere Lehrkräfte gebe es die Option, früher in Rente zu gehen, für junge Lehrer gebe es genügend Jobalternativen etwa an freien Schulen oder in anderen Bundesländern. "Teilzeitwünsche kann man den Menschen nicht verwehren, egal in welchem Alter. Das belegt auch eine Göttinger Studie unter sächsischen Lehrkräften, die in Teilzeit gehen, um ihre Gesundheit zu schützen."

Kultusministerium: Lehramtsstudenten fehlen

Man handle nach den "gesetzlichen Vorgaben" in Bezug auf Teilzeitlösungen für Lehrkräfte, teilt das Sächsische Kultusministerium auf Anfrage von MDR SACHSEN mit: "Es handelt sich hier nicht um strengere Ausnahmegenehmigungen." Auch arbeite man an mehreren Stellschrauben, um dem Lehrermangel zu begegnen.

So seien die Studienplätze für die Lehramtsausbildung von knapp 1.000 auf 2.700 im Wintersemester 2022/2023 erhöht worden. Mehr Plätze seien nicht notwendig, weil es schon jetzt dem Ministerium zufolge an potentiellen Studenten fehle.

Das Kultusministerium empfiehlt jungen Lehrkräften das Programm "Startklar" Das Programm "Startklar" ist ein Projekt, das junge Lehrerinnen und Lehrer bei ihrem Berufseinstieg unterstützt. Individuelle Weiterbildungen und digitale Lernsettings werden hier auch Seiteneinsteigern angeboten. Über ein Netzwerk aus Experten und Trainern bietet das Programm individuelle Beratungen, etwa um Problemlösungen gemeinsam zu finden. Zudem werden Arbeitshilfen und Ratgeber zur Verfügung gestellt. Quelle: Kultusministerium Sachsen

Viele Abiturienten studieren auf Lehramt

In Sachsen studierten laut Angaben mit 18 Prozent überdurchschnittlich viele der Abiturienten auf Lehramt – zehn Prozent seien es im Schnitt in Deutschland. "Unsere Lehrerwerbekampagne erreicht die jungen Leute, aber die Grenzen sind schon gut ausgereizt", heißt es aus dem Kultusministerium.

Unsere Lehrerwerbekampagne erreicht die jungen Leute, aber die Grenzen sind schon gut ausgereizt.

Kultusministerium Sachsen

Wie viele davon ihr Referendariat auch durchziehen, könne jedoch nur geschätzt werden. Im Schuljahr 2021/2022 standen laut Ministerium beispielsweise 50 Personen, die ihren Vorbereitungsdienst für das Lehramt abbrachen, den mehr als 1.100 Studienreferendaren gegenüber, die ihr Referendariat erfolgreich abschlossen. Statistiken, wie viele Lehramtsstudenten Sachsen nach ihrem Abschluss verlassen und wie viele Junglehrer im Freistaat ihrem Beruf bereits nach wenigen Jahren wieder den Rücken kehren, lägen dem Ministerium nicht vor.

Victoria: Als Lehrer muss man sich feste Arbeitszeiten schaffen

Die Sonne wärmt Victorias Gesicht. Sie sitzt auf einer Bank und schaut einem Dampfer zu, der über die Elbe tuckert. Nachdem sich in der vergangenen Weihnachtszeit die Korrekturen bei ihr zu Hause stapelten und sie zunehmend unter Magenproblemen litt, war eine Grenze für sie erreicht.

Eine junge Frau mit schwarzen, langen Haaren sitzt auf einer Bank an der Elbe und schaut zu einem Dampfer.
Victoria versucht sich das Wochenende oft frei zu halten, um für die nächste Schulwoche wieder fit zu sein. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Seitdem versucht sie, den Unterricht für den nächsten Tag und Korrekturen in der Schule zu erledigen. "Als Lehrer muss man sich feste Arbeitszeiten schaffen." Sie habe sich zum Ziel gesetzt, bis spätestens 16:30 Uhr damit fertig zu sein, danach sei Feierabend: "Für mich ist es ein Weg abschalten zu können. Auch wenn es oft schwierig ist zu sagen 'Jetzt bin ich wirklich fertig'".

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