Morbus Charcot-Marie-Tooth-Syndrom Bad Lausickerin im Wettlauf gegen Erbkrankheit: "Die Zeit rennt einem davon"
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09. Juli 2023, 08:45 Uhr
Die Forschungen für eine Gentherapie gegen Morbus Charcot-Marie-Tooth stecken noch in ihren Anfängen. Die Erbkrankheit macht den Alltag für die Erkrankten zu einer kräftezehrenden Tortur. Viele können nicht mehr am Leben teilnehmen. Aktuell gibt es keine Heilung für die Krankheit. Eine Bad Lausickerin kämpft um mehr Aufmerksamkeit, damit ihr und anderen Betroffenen endlich geholfen werden kann.
- Das Leben von Janett Werrmann ist wegen einer Erbkrankheit stark eingeschränkt.
- Vor acht Jahren erlebt die Bad Lausickerin einen schweren Zusammenbruch.
- In naher Zukunft könnte wahrscheinlich eine Gentherapie Erkrankten helfen.
Buntes Vogelgezwitscher auf einer großen Wiese direkt vor dem Balkon. Eine Frau sitzt auf einem Rollator an der Balkontür und lehnt sich an ihren Mann. "Wir lieben die Natur", sagt Janett Werrmann mit einem Lächeln und genießt mit Ehemann Tilo das Vogelkonzert.
Doch nicht für lange, denn für die 55-Jährige ist es zu anstrengend, zu sitzen. "Mir wird da schnell schwindelig." Ohne die Hilfe ihres Mannes hätte Janett Werrmann den kurzen Weg vom Sofa zum Balkon nicht geschafft, denn sie kann nicht selbstständig laufen und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Janett Werrmann hat die Erbkrankheit Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT).
Was ist Morbus Charcot-Marie-Tooth? Morbus Charcot-Marie-Tooth (CMT) ist eine seltene Erbkrankheit. Sie wurde nach den Neurologen Jean-Martin Charcot, Pierre Marie und Howard Tooth benannt, die die Krankheit entdeckten. Bei CMT wird durch eine genetische Mutation die isolierende Myelinschicht der Nervenzellen geschädigt. Über diese Schicht, die die Nervenbahnen umhüllt, werden Signale vom Gehirn an Organe und Muskeln weitergeleitet. Die Schädigungen stören jedoch die Signalweiterleitungen. Das kann je nach CMT-Typ und CMT-Mutation zu teils schwersten Behinderungen führen. So sind manche Erkrankte oft schon im Jugendalter auf den Rollstuhl angewiesen. In manchen Fällen dehnt sich die Nervenschädigung auf die Atemwege aus. Die Folge kann der Tod durch Atemstillstand sein. 20 bis 30 von 100.000 Personen sind von dieser Krankheit in Deutschland betroffen. Quelle: Leibniz-Forschungsinstitut für Molekulare Pharmakologie
Tilo führt seine Frau Janett vorsichtig zum Sofa. Dort legt sie sich gleich wieder hin. Jede Bewegung strengt sie an, Nacken und Rücken beginnen zu schmerzen. "Manchmal stehe ich früh auf und kann schon nicht mehr", erklärt Janett Werrmann. Es gebe Tage, an denen sie rund um die Uhr schläft: "Man liegt nur da und wartet, dass der Tag rum geht."
Mutter hatte ebenfalls Symptome
Schon die Mutter und andere Familienangehörige hätten unter den Symptomen von CMT gelitten, sagt Janett Werrmann. Als Schülerin habe sie sich oft nicht konzentrieren können, den Hundertmeterlauf schaffte sie vor Anstrengung nicht. "Ich merkte schon damals, dass etwas nicht stimmt, konnte es aber nicht zuordnen", erklärt die Bad Lausickerin.
Ich merkte schon damals, dass etwas nicht stimmt, konnte es aber nicht zuordnen.
Mit großer Mühe macht Janett Werrmann eine Ausbildung zur Stenotypistin. "Das hast du mit viel Fleiß geschafft", sagt Ehemann Tilo in ruhigem Ton zu seiner Frau, die auf dem Sofa liegt. Sie sieht ihren Tilo nur verschwommen. Obwohl ihre Augen komplett in Ordnung seien, beeinträchtige die Krankheit das Sehvermögen, erklärt sie.
Zusammenbruch vor acht Jahren
Trotz erster Symptome kann Janett Werrmann lange Zeit ein vergleichsweise uneingeschränktes Leben führen. Sie und ihr Mann bekommen die Töchter Sandy und Daisy, sie selbst geht in ihrem späteren Beruf als Pflegerin für Demenzkranke voll auf. "Ich habe meinen Beruf geliebt", sagt sie.
Vor acht Jahren dann sacken Janett Werrmann mit einem Mal die Beine weg. Sie hat Krämpfe und Spastiken. Seitdem ist sie arbeitsunfähig, braucht Rollator und Rollstuhl sowie Tilo als ihren ständigen Begleiter. Es habe drei Jahre gebraucht, bis die Diagnose durch eine Genuntersuchung festgestellt worden sei, sagt Janett Werrmann.
Symptome seit dem 19. Jahrhundert bekannt
CMT ist eine relativ neue medizinische Entdeckung. Bekannt seien die Symptome der Krankheit aber schon durch Beschreibungen aus dem 19. Jahrhundert, sagt Zoya Ignatova. Wie die Molekularbiologin und Biochemikerin aus Hamburg erklärt, wurde CMT jedoch zusammen mit anderen Erkrankungen lange Zeit unter dem allgemeinen Begriff der Muskelschwächen zusammengefasst.
"Durch die Sequenzierung der Genome ist bekannt geworden, dass sich unter dem Begriff Muskelschwäche viele verschiedene Erkrankungen verstecken", sagt Ignatova. Seitdem man den Aufbau der Gene verstehe, könne man auch die durch Gendefekte verursachten Krankheiten besser einteilen.
Durch die Sequenzierung der Genome ist bekannt geworden, dass sich unter dem Begriff Muskelschwäche viele verschiedene Erkrankungen verstecken.
Bei dem Typ von CMT, den auch Janett Werrmann hat, seien zuerst die vom Gehirn am weitesten entfernten Extremitäten - also Hände, Füße und Beine - betroffen, erklärt Zoya Ignatova. "Im Laufe der Krankheit kann auch die Atmung erschwert sein. Aber das sind sehr fortgeschrittene Stadien". Ignatova erklärt, dass alle Krankheitstypen von CMT eine Sache gemeinsam hätten: die Feinmotorik verschwinde, Hände etwa seien nicht mehr kontrollierbar.
Lebensdauer der Erkrankten verkürzt
Das tückische an der Krankheit sei, dass sich die Symptome bei jedem anders zeigten, sagt Ignatova. "Von der Krankheit sterben sie nicht", erklärt die Biochemikerin. Dennoch könnten die Folgeerscheinungen tödlich verlaufen, etwa wenn die Atmung oder der Herzmuskel beeinträchtigt wird.
Schwerere Mutationen könnten auch schwerere Verläufe verursachen. Die Lebensdauer der Erkrankten wird laut Ignatova in jedem Fall verkürzt. Eindeutige statistische Zahlen zur Sterblichkeit gebe es nicht.
Gentherapie weckt Hoffnung
Ein Medikament gegen CMT gebe es aktuell noch nicht, sagt Ignatova. Nur die Symptome könnten derzeit gelindert werden. Doch die Molekularbiologin gehört zu einem Team von Forschern, die an einer Gentherapie arbeiten. "Diese Gentherapie ist aber noch in den Babyschuhen." Derzeit laufen vorklinische Studien in Zellkulturen und an Tieren. Danach sollen klinische Studien am Menschen folgen. "Es besteht die Hoffnung, dass wir wahrscheinlich in sehr naher Zukunft eine Therapie haben werden", hofft die Biochemikerin.
Es besteht die Hoffnung, dass wir wahrscheinlich in sehr naher Zukunft eine Therapie haben werden.
Risiko aufnehmen, um länger zu leben
Das ist jedoch die Zeit, die Janett Werrmann vielleicht nicht mehr bleibt. Sie würde sich sofort zur Verfügung stellen, wenn die klinischen Studien am Menschen beginnen. "Um etwas länger zu leben, da riskiert man auch etwas. Wenn man immer nur kämpft, will man auch mal Erfolg haben", sagt sie mit energischer Stimme. In den USA seien die Forschungen zu einer Gentherapie schon weiter, so Janett Werrmann. Deswegen suche sie dringend eine Therapiemöglichkeit in den USA.
Um etwas länger zu leben, da riskiert man auch etwas. Wenn man immer nur kämpft, will man auch mal Erfolg haben.
"Meine Frau ist eine Kämpfernatur", sagt der Tilo. Beide lernten sich schon mit 16 Jahren kennen - eine Jugendliebe. Bis die Krankheit es unmöglich gemacht habe, seien sie begeisterte Reisemenschen gewesen, sagt der 54-Jährige. Neben vielen Arztbesuchen bleibe dennoch Zeit für einen Wochenendspaziergang.
Meine Frau ist eine Kämpfernatur.
Endlich wieder altes Leben zurückhaben
Doch am liebsten hätte Janett Werrmann ihr altes Leben zurück. "Ich will wieder raus, über den Strand rennen und arbeiten gehen." Ihre Stimme zittert leicht: "Die Zeit rennt einem davon. Ich hoffe, dass endlich jemand kommt, der einem hilft." Tilo hilft seiner Janett zum Rollator - heute steht wieder ein Arztbesuch an. Janett lächelt in seine Richtung und sagt: "Ich bin so glücklich darüber, dass er seit 35 Jahren zu mir hält."