FAKT IST! Mitteldeutschland vor dem Fluchtwinter – Schaffen wir das?
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15. November 2022, 08:05 Uhr
Der Winter steht vor der Tür und die Zahl der Geflüchteten in Deutschland hat mittlerweile das Niveau von 2015/16 erreicht. Die Aufnahmekapazitäten vieler Kommunen sind erschöpft. Bleibt die Frage: Schaffen wir das?
- Die Landräte fühlen sich von der Politik im Stich gelassen und finden, dass Kontrollinstrumente fehlen
- Der Minister betont, dass die Aufnahme Geflüchteter eine Daueraufgabe ist
- Migrationsforscherin konstatiert, dass unterschiedliche Flüchtlingsgruppen verschieden behandelt werden
- Eine Ukrainerin stellt fest, dass die meisten Probleme aus fehlender Beratung resultieren
Marko Rößler bringt es auf den Punkt: "Die Frage ist eigentlich nicht, ob wir das schaffen, sondern wie." Aus seiner Sicht hätte man sich viel früher Gedanken darüber machen müssen. "Es wird immer nur reagiert. Die Politik hat sich da auf dem bürgerschaftlichem Engagement ausgeruht", sagt er. Anfang Novemeber waren in Thüringen 33.178 Geflüchtete gemeldet, davon 29.710 aus der Ukraine. (Quelle: Landesverwaltungsamt)
Landräte sehen Politik in der Pflicht
Werner Henning, CDU-Landrat im Landkreis Eichsfeld, fehlt eine Art "Generalmanagement" seitens des zuständigen Ministeriums. Die versprochenen Mittel seien bis heute nicht bei ihm angekommen: "Das Geld hat einfach parat zu sein, es kann nicht sein, dass wir immer wieder darum feilschen müssen."
Henning hatte kürzliche den Mietvertrag für eine Halle, in der Flüchtlinge untergebracht werden sollten, wieder gelöst, nachdem ihn "anonyme Schreiben" der Anwohner erreicht hatten. "Da wurden Sorgen und Ängste formuliert, zwischen den Zeilen habe ich die Angst gelesen, dass das alles zu viel wird und die Menschen überfordert. Wir können diesen Weg aber nur mit der Bevölkerung gemeinsam gehen."
Auch SPD-Landrat Matthias Jendricke aus Nordhausen ist sauer auf die Landesregierung. Das Modell "jeder bekommt sofort eine Wohnung" sei vor die Wand gefahren, dafür gebe es nirgendwo im Land ausreichend Wohnraum. Er plädiert für mehr Gemeinschaftsunterkünfte.
Schließlich könne man dort auch sehr viel einfacher informieren, es gäbe kürzere Wege für Anträge und Sozialarbeit, außerdem könnten die Geflüchteten sich dort mit ihren Landsleuten austauschen und gegenseitig helfen.
Jeder zweite Thüringer Kreis nimmt keine Flüchtlinge mehr auf
Der Thüringer Migrationsminister Dirk Adams (Grüne) will mehr Kontinuität in der Flüchtlingsarbeit: "Die Aufnahme Geflüchteter ist eine Daueraufgabe, kein Projekt, das irgendwann zu Ende ist." Das bedeute, dass auch in den Kommunen geeignete Flüchtlingsunterkünfte dauerhaft zur Verfügung stehen müssten.
11 von 22 Thüringer Landkreisen, so der Minister, melden derzeit, keine Flüchtlinge mehr aufnehmen zu können. Aber dass die Aufnahme bei den Landkreisen und kreisfreien Städten liegt, sei ja keine Thüringer Idee, das sei bundesweit so geregelt.
Momentan gebe es in Thüringen etwa 2.500 Wohnungen, die in drei bis fünf Monaten verfügbar wären, so Adams weiter. Wenn die hergerichtet würden, kostet das pro Wohnung etwa 10.000 Euro. "Darüber hinaus brauchen wir für die Erstankunft größere Einheiten. Wir gehen von 200 bis 400 Menschen aus, die pro Woche hier ankommen werden."
"Größter Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg"
Und Viola Worsch ergänzt: "Wir müssen lernen, dass immer Flüchtlinge herkommen werden. Egal, ob Klimaflüchtlinge oder Kriegsflüchtlinge. Wir müssen hier lernen, dass wir mit diesen Menschen teilen müssen, sonst gibt es eine Katastrophe. Und wir überlassen den Populisten das Feld, wenn wir nicht ehrlich darüber reden."
Das bestätigt die Migrationsforscherin Professor Birgit Glorius von der TU Chemnitz. "Europaweit beobachten derzeit wir den größten Flüchtlingsstrom seit dem Zweiten Weltkrieg". Aus ihrer Sicht sind Gemeinschaftsunterkünfte durchaus am Anfang sinnvoll. Dann aber müsse man die Menschen in Wohnungen bringen. "Sonst kann man sich einfach kein neues Leben aufbauen."
Gerade im ländlichen Raum gibt es viele Ängste und Vorurteile, sagt ein Zuschauer. Aus seiner Sicht bräuchte es engagierte Leute, um die abzubauen. Und um zu informieren, fügt Viola Worsch hinzu. Sie engagiert sich schon seit 2015 in der Flüchtlingshilfe. im Frühjahr hat sie mit Gleichgesinnten Geld gesammelt, um ukrainische Flüchtlinge aus Moldawien abzuholen.
Unterschiede zwischen verschiedenen Flüchtlingsgruppen
"Aber die Anspruchshaltung ist schon eine andere als 2015." Nur 13 Menschen aus dem Bus waren damals mit nach Ilmenau gekommen, alle anderen hatten andere Ziele in Deutschland. "Das war ein Schlag ins Gesicht für alle, die sich bemüht und alles vorbereitet hatten."
Dazu komme, so Birgit Glorius, "dass wir unterschiedliche Flüchtlingsgruppen verschieden behandeln. Ein Flüchtling aus Afghanistan hat ein längeres Asylverfahren, kann nicht an seiner Zukunft arbeiten, keine Sprachkurse belegen. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind laut Paragraf 24 sofort den anerkannten Flüchtlingen und den Deutschen gleichgestellt."
Was ist das vereinfachte Verfahren nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes
Ein vereinfachtes Verfahren nach § 24 des Aufenthaltsgesetzes hat für die Schutzsuchenden und deren Integration verschiedene Vorteile: So erhalten sie ähnliche Leistungen (finanzielle Unterstützung und Zugang zu medizinischer Versorgung) wie im klassischen Asylverfahren. Anders als im klassischen Asylverfahren haben sie jedoch von Anfang an:
- das grundsätzliche Recht zu arbeiten
- die grundsätzliche Möglichkeit, an Integrationskursen teilzunehmen (Sprach- und Orientierungskurs)
- die grundsätzliche Möglichkeit, eine private Unterbringung zu suchen (im Asylverfahren besteht zunächst eine Pflicht, in einer Flüchtlingssammelunterkunft zu wohnen)
- gegebenenfalls auch die Möglichkeit eines "Spurwechsels" in einen anderen Aufenthaltstitel (z. B. zur Aufnahme von Arbeit oder Studium) – wobei hier weitere Voraussetzungen gelten
Dagegen ist ein klassischer Asylantrag ein langwieriges Verfahren, während dem die Personen weder Deutsch lernen noch arbeiten oder ihr Studium fortsetzen können
Die Forscherin erklärt, dass es sich dabei um eine EU-Regelung handelt, die seit 2001 existiert. "Man hätte sie 2015 auch auf die syrischen Kriegsflüchtlinge anwenden können, hat man aber nicht."
Konflikte im Zusammenleben
Die Folge sei, so ein syrischer Zuschauer, dass man die verschiedenen Flüchtlingsgruppen gegeneinander ausspiele, was zu Problemen im Zusammenleben führt. "Aber die anderen Flüchtlinge sind auch Menschen, die haben auch Gefühle", sagt der Mann.
Die unterschiedliche Behandlung betreffe nicht nur das Geld oder die Wohnung. Ukrainer dürften reisen, Syrer nicht. Das Ganze gehe soweit, dass die einen Haustiere haben dürften, die anderen nicht. "Das kann man doch keinem mehr erklären!"
Minister Adams stellt nicht in Frage, dass die EU diese Richtlinie im Fall des Ukraine-Krieges aktiviert hat. "Aber ich bin traurig, dass sie das 2015 nicht gemacht hat."
Regeln sind nicht ausreichend bekannt
Matthias Jendricke ärgert sich darüber, dass es nicht möglich sei zu prüfen, wer überhaupt noch hier sei: "Wir stehen fest an der Seite der Ukraine. Aber wenn wir feststellen, dass zehn Prozent der Leute nicht mehr hier sind, muss man sich dieser Situation auch stellen."
Landrat Werner Henning bestätigt das und stellt fest, dass es schwierig sei, die ukrainischen Geflüchteten in den Arbeitsmarkt zu integrieren: "Sie sind kaum für den Arbeitsmarkt greifbar, weil die üppige finanzielle Ausstattung über das Jobcenter es nicht nötig macht, zu arbeiten."
Mehr Beratung nötig
Die Ukrainerin Nataliya Vorbringer-Dorozhovets lebt seit zwanzig Jahren in Deutschland und kümmert sich derzeit engagiert um ihre Landsleute und kennt auch die Probleme. "Es gibt keinen Rauch ohne Feuer, aber das sind einzelne Fälle."
Natürlich wollen, so sagt sie, die Ukrainerinnen auch ihre Männer oder erwachsenen Söhne sehen, die im Krieg sind. Und es sei ja auch erlaubt, zu reisen. "Aber die Sache mit dem An- und Abmelden, überhaupt die ganze Bürokratie, das verstehen viele einfach nicht."
Marko Rößler sieht nach all dem immer noch keine Lösung. Allerdings dürfe man eines nicht vergessen: "Man muss sich mal in die Lage der Leute versetzen. Die fliehen vor einem Krieg. Da stehen Schicksale dahinter." Und deshalb, so ergänzt Birgit Glorius, müssten wir das einfach schaffen. Es bliebe nur die Frage nach dem Wie.
MDR (gh)
Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | FAKT IST! aus Erfurt | 14. November 2022 | 22:10 Uhr
schwester65 am 16.11.2022
Ganz ehrlich, die Spaltung in der Gesellschaft zeigt sich in den Kommentaren zu diesem Thema mal wieder besonders extrem. Ich bin kein Rassist und ich helfe gern, aber als Krankenschwester auf einer Intensivstation weiß ich auch, daß ein regelrechter schon pathologischer Helferkomplex unweigerlich zu Erschöpfung und ins Burnout führt.
Was ich hier in Deutschland aktuell erlebe führt für mich in genau dieses Burnout und zwar emotional und auch finanziell in unseren Sozialsystemen. Sicher ist in einer aktuellen Krise eine Anstrengung der Gesellschaft möglich, aber sowas kann nicht Dauerzustand werden, so wie wir es seit 2015 erleben.
An die grenzenlosen Befürworter dieser Politik und die Politiker selbst hätte ich abschließend noch eine Frage. Wie weit würden Sie persönlich, ganz persönlich gehen, um das zu schaffen? Wie viele Steuern, Krankenkassenbeiträge in die GKV und Rentenbeiträge wären Sie bereit zu zahlen, um das zu schaffen?
Nur große Reden schwingen kann nämlich jeder.
Ralf G am 15.11.2022
Die Zuwanderung der ukrainischen Kriegsflüchtlinge ist für Thüringen eine Chance. Diejenigen die bleiben wollen sind gut integrierbar. Probleme gibt es wegen mangelnder Kompetenz des grünen Migrationsministers. Das hat Adams schon bei den Unruhen im Erstaufnahmeheim Suhl gezeigt.
emlo am 15.11.2022
"Schaffen wir das?" - Das wird wirklich schwer. Zum einen, weil die Herausforderung wirklich groß und Ressourcen (sowohl menschliche als auch materielle) begrenzt sind, zum anderen aber auch, weil wieder jeder der Verantwortlichen auf den anderen zeigt, statt gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Und dann kommen noch die Dauerschleifen-Nörgler dazu, die glauben irgendwie zu kurz zu kommen und damit natürlich auch nicht hilfreich sind. Im Gegenteil, mit Brandanschlägen und Drohungen wird es nur noch schwieriger!