
Soziale Arbeit "Oft reicht es zuzuhören" - Erfurter Bahnhofsmission hilft Reisenden und Gestrandeten
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19. August 2024, 09:11 Uhr
Bei ihrer Arbeit am Erfurter Hauptbahnhof begegnen die Mitarbeiter der Bahnhofsmission den unterschiedlichsten Menschen und Schicksalen. Manche sind nur auf der Durchreise und suchen lediglich eine Steckdose. Andere sind gestrandet und haben Probleme, die nicht so einfach zu lösen sind.
Noch ist Urlaubszeit und auf dem Erfurter ICE-Bahnhof entsprechend viel los. Reisende hasten über Treppen und Bahnsteige, um ihren Anschluss zu kriegen. Als erste Hilfe am Zug versteht sich die Bahnhofsmission. In Thüringen ist es die einzige.
Vor acht Jahren haben Freiwillige die ökumenische Bahnhofsmission Erfurt ins Leben gerufen, seitdem helfen rund 30 "Engel am Zug" mobil und zu unterschiedlichen Zeiten Reisenden beim Umsteigen und in vielen anderen (Not)Lagen.
Seit knapp zwei Jahren gibt es mit einem Pavillon auf Bahnsteig 3 auch einen festen Anlaufpunkt und der wird zunehmend mehr auch von Menschen aus dem Bahnhofsviertel genutzt.
Überfallen, ausgeraubt: "Ist bei euch alles okay?"
Auf der Treppe zum Bahnsteig 1 sitzt ein junges Pärchen. Von der Ferne wirkt die Situation befremdlich, als ob die junge Frau bedrängt wird. Karin-Susan Luther ist die Erfurter Bahnhofsmissionarin und hat längst einen Blick für das Geschehen auf dem Bahnhof und im Viertel. "Ist bei euch alles okay? Braucht ihr irgendwas?", fragt sie die zwei.
Die Arme des jungen Mädchens sind von oben bis unten geritzt. Die Umarmung des jungen Mannes lässt sie geschehen. "Wir versuchen, uns gerade anzunähern", meint der junge Mann in seiner orangefarbenen Bauarbeiterhose.
An seinem Arm entdeckt Luther ein Band, wie es für Krankenhauspatienten typisch ist. "Das würde ich noch abmachen", rät sie und bekommt sofort die Geschichte dazu. Er sei vor wenigen Tagen überfallen und ausgeraubt worden. Es seien ihm alle Papiere, auch der Staplerschein geklaut worden. Er habe mächtig eins ins Genick bekommen. Deshalb sei er im Krankenhaus gewesen. Sind beide auf Droge? Die Bahnhofsmissionarin fragt nicht. Sie sieht es.
Solche Geschichten gibt es viele auf dem Bahnhof mitten in Deutschland. Da sind, so erzählt Luther, die polnischen Bauarbeiter, die manchmal in der Tiefgarage schlafen, obwohl das verboten ist. Auch habe sie es mit immer mehr psychisch Kranken zu tun. Verwirrte, Gestrandete. Ein schwieriges Terrain.
Karin-Susan Luther ist ausgebildete Sozial-, Sonder- und Integrationspädagogin. Die Stelle in der Bahnhofsmission sei genau ihr Ding. "Oft reicht es, zuzuhören oder mal den einen oder anderen Tipp zu geben. Für Obdachlose gibt es in Erfurt ja das Haus Zuflucht. Da gibt es auch ein warmes Essen. Das gibt es bei mir nicht - aber immer etwas zu trinken."
Ehrenamt am "gefährlichen Ort"
Noch gebe es keine offene Drogenszene wie in Frankfurt am Main, sagt Hubertus Schönemann. Er ist der Vereinsvorsitzende und hat die Bahnhofsmission mitgegründet. "Ich erlebe hier Menschen, die ich sonst in meiner Blase nicht treffen würde. Das sehe ich als Gewinn. Nur so kann Gesellschaft doch funktionieren, sich achten, egal, was man ist und wie es einem geht."
Hubertus Schönemann leitet beruflich die Katholische Arbeitsstelle für missionarische Pastoral. Das Ehrenamt auf den Bahnsteigen bereichere, sagt er.
Menschen, die auf der Straße leben, stranden am Bahnhof. "Einige tauchen immer wieder auf, die kenn' ich dann schon. Die wollen gar nicht viel, meist reicht ein kleines Gespräch", sagt Luther.
Das Bahnhofsviertel ist im Wandel. Es ist von der Polizei seit Jahren als "gefährlicher Ort" eingestuft. Der Umgang mit Drogenabhängigen ist der 42-Jährigen nicht fremd. Sie weiß, wann es Sinn macht zu reden.
Der Bahnhof kriegt mich so schnell nicht wieder los.
Manchmal beobachtet sie Menschen, die in den Mülleimern nach Pfandflaschen suchen. Das ist verboten. Die Eimer sind geschlossene Behälter und man kann sich leicht verletzen. Außerdem weiß man nicht, was wirklich in den Flaschen noch drin ist. Manchmal gibt sie den Flaschensammlern zwei, drei Flaschen von sich.
Mamas, die stillen wollen oder Ruhe suchen
Bei ihrem Rundgang über die Bahnsteige bietet sie Reisenden ihre Hilfe an, sei es beim Koffertragen oder beim Finden eines Raumes, um das schreiende Baby zu stillen. Schulklassen toben herum. Da sucht sie die Lehrerin. "Es kann schnell auch einer unterm Zug landen."
Anderen sieht man die Vorfreude auf eine Urlaubsreise an. Dann plaudert sie mit ihnen über "Gott und die Welt", auch gern in Englisch. Der ICE-Knoten Erfurt ist längst auch ein internationaler Umstiegsplatz geworden und der Pavillon der Bahnhofsmission ist für viele Reisende ein Rückzugsort.
"Hierher kommt auch der Geschäftsreisende, der sein Handy aufladen muss, weil er darauf sein Bahnticket hat. Auf dem Bahnhof gibt es sonst keine weitere freie Steckdose. Ein großes Thema sind die Verspätungen und ausgefallene Züge." Da bekommt die 42-Jährige viel Frust ab. "Ein Bahnhof ist eine eigene Welt." Werden Reisende aggressiv oder jolen Betrunkene, springt ihr die Bahnpolizei bei.
Nichts sei ihr mehr fremd, seit sie auf dem Bahnhof arbeitet. An manche menschlichen Gerüche musste sie sich erst gewöhnen. "Aber ich mag das hier. Der Bahnhof kriegt mich so schnell nicht wieder los."
MDR (nir)
Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 16. August 2024 | 18:00 Uhr
Thommi Tulpe vor 33 Wochen
Ich war selber vor Jahren bei der Bahnhofsmission beschäftigt. Von daher weiß ich, dass man dort sehr viel an Elend und Traurigem erlebt. Abgesehen von Reisenden, denen man mal den Koffer und diese Leute selbst zum Zug oder Taxi begleitet, erlebt man im günstigsten Fall Leute, welche einfach in Gesellschaft mal ein bisschen reden, was essen, einen Tee oder Kaffee trinken möchten, weil ihnen zu Hause (so sie eins haben!) soziale Kontakte fehlen. Aber man erlebt leider auch viel mit Alkoholikern und Drogenabhängigen.
Ich bin immer so an diese Arbeit herangegangen, zu versuchen, Gutes für Menschen zu tun. Auch der Einsame, der Alkoholiker und der Drogenjunkie sind Menschen. Und ist aller Ehren wert, wenn sich Menschen um Menschen kümmern, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Auch wegen meiner eigenen Erfahrungen ziehe ich vor diesen sich Kümmernden immer wieder meinen Hut. Danke, dass es Euch gibt.
Graf von Henneberg vor 33 Wochen
Einfache Worte, aber die Richtigen.
D.L. vor 33 Wochen
Einfach danke!