Justiz Verdacht auf Missbrauch in Erfurter Kindergarten: Früherer Praktikant angeklagt

27. April 2023, 11:30 Uhr

Die Staatsanwaltschaft Erfurt hat einen früheren Praktikanten eines katholischen Kindergartens in Hochheim angeklagt. Dort soll er ein Kind sexuell missbraucht haben. Weitere Verdachtsfälle werden nicht weiter verfolgt.

Es geht um Formulierungen wie "Aussagentüchtigkeit", "suggestive Einflüsse" oder "Konfabulationsneigung". Sie alle finden sich in den Einstellungsverfügungen der Staatsanwaltschaft Erfurt wieder, die in den vergangenen Wochen bei einem knappen Dutzend Eltern eingegangen waren. Einige konnte MDR THÜRINGEN einsehen. Darin wird den Eltern mitgeteilt, dass der Fall ihres Kindes nicht angeklagt, sondern eingestellt wird.

Somit wird am 11. Mai vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Erfurt eine Anklage wegen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in zwei Fällen und der Besitz von kinderpornografischen Bildern verhandelt. Angeklagt ist ein heute 18-Jähriger, der zwischen September 2021 und Februar 2022 in dem katholischen Kindergarten in Erfurt-Hochheim gearbeitet hatte.

Aussagen der Kinder vor Gericht nicht zuverlässig

Die genannten Formulierungen stammen von einer Gutachterin, die sich die Aussagen aller von der Polizei vernommenen Kinder auf mitgeschnittenen Videos angeschaut hatte. Ihr Gutachten ist am Ende die Grundlage dafür, dass der Großteil aller Vorwürfe gegen den Ex-Praktikanten fallen gelassen wurden. Denn sie kommt zu dem Schluss, dass die Aussagen der Kinder vor Gericht aller Wahrscheinlichkeit nach nicht als echte Beweise herangezogen werden könnten.

Sie bezweifelt unter anderem, dass die Aussagen der Kinder aufgrund ihres jungen Alters zwischen drei und fünf tatsächlich zuverlässig sind und dass ihre Darstellungen der Geschehnisse frei von der Suggestion durch andere sein könnten, zum Beispiel ihrer Eltern oder der vernehmenden Polizeibeamten.

Angeklagter legt in einem Fall Geständnis ab

Die Vorfälle im katholischen Kindergarten Erfurt-Hochheim hatten im vergangenen Jahr für Aufsehen gesorgt. Ein kleiner Junge hatte sich Ende Februar 2022 seinen Eltern anvertraut. Danach rollte eine Welle durch den Kindergarten. Am Ende waren es zwölf Kinder, bei denen der Verdacht bestand, dass der Praktikant sich an ihnen vergangen haben könnte. Am Ende bleiben zwei Fälle mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs an einem Kind übrig, bei dem es sich aber nicht um den Jungen handelt, der als erster seinen Eltern davon erzählt hatte.

Angeklagt werden die beiden Fälle offensichtlich deshalb, weil der junge Mann sie gegenüber der Staatsanwaltschaft gestanden haben soll. Die anderen Vorwürfe bei den restlichen elf Kindern leugnet er vehement. Aus diesem Grund wurden die Einschätzungen der Gutachterin hinzugezogen, die zu den Schlüssen kommt, die Grundlage für die Einstellung der knapp ein Dutzend weiteren Fälle sind.

Nach MDR THÜRINGEN-Informationen soll ein überwiegender Teil der Kinder über sexuellen Missbrauch am gleichen Ort und zur gleichen Zeit, also im Gruppenraum und in der Mittagspause, ausgesagt haben.

Schwierige Ermittlungen in solchen Fällen

Das Ganze zeigt im Kern die Grundproblematik bei Ermittlungsverfahren wie diesen: Wie glaubwürdig sind Aussagen von kleinen Kindern über sexuellen Missbrauch, wenn es keine anderen Beweise als ihre Darstellung gibt? Dabei stoßen Ermittler, aber auch Eltern an ihre Grenzen. Besonders die Staatsanwaltschaft muss abwägen zwischen dem Aufklärungsinteresse und dem Schutz der Kinder.

Wenn ein Angeklagter die meisten Fälle bestreitet, wie in diesem Verfahren, dann ist es in der Hauptverhandlung vor Gericht oft notwendig, die Kinder erneut anzuhören. Was nicht selten dazu führt, dass ihre Aussagen nicht glaubwürdiger und die psychologische Belastung für die Kinder nicht kleiner werden.

Ein Mann und eine Frau stehen nebeneinander und sehen in die Kamera 24 min
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Jura-Experte: Staatsanwaltschaft hat Spielraum

Edward Schramm kennt die Probleme in solchen Verfahren gut. Der Professor für Strafrecht an der Universität Jena sagte MDR THÜRINGEN, dass Staatsanwaltschaften einen breiten Spielraum bei der Einstellung nach Paragraf 170, Absatz 2 hätten, der auch in den elf Fällen angewandt wurde. Der Paragraf sage aus, dass es keinen hinreichenden Tatverdacht gebe oder aus tatsächlichen Gründen eingestellt werde, zum Beispiel, wenn die Beweise nicht eindeutig genug seien.

Am Ende laufe es auf eine Prognose der Staatsanwaltschaft hinaus, wie wahrscheinlich eine Verurteilung ist. Paragraf 170, Absatz 2 werde in der deutschen Justiz in fast einem Drittel aller Ermittlungsverfahren angewandt, erklärte Schramm. Die Betroffenen, Anzeigenerstatter oder Nebenkläger in den Verfahren könnten sich, so Schramm, gegen die Einstellung des Verfahrens wehren. In bestimmten Fällen mit einem sogenannten Klageerzwingungsverfahren.

Nach Schramms Worten kommt es gerade bei sexuellem Missbrauch von Kindern und Jugendlichen immer wieder zu solchen Klageerzwingungen, die dann zum Teil auch erfolgreich seien.

Eltern wollen sich in dem Fall wehren

Genau das will offenbar ein Teil der Eltern auch tun und hat als erstes Beschwerden gegen die Einstellung eingelegt. Die Mütter und Väter wollen vor allem nicht stehen lassen, dass die Aussagen ihrer Kinder als so unglaubwürdig eingestuft würden.

Die Staatsanwaltschaft ist in dem gesamten Komplex zurückhaltend mit Statements, vor allem aus dem Grund, dass der Angeklagte zum Tatzeitpunkt minderjährig war und deshalb ein besonderer Persönlichkeitsschutz gelte. Deshalb wird das Verfahren auch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Bestätigt wird durch die Staatsanwaltschaft die Erhebung der Anklage in drei Fällen. Zwei zum Nachteil eines Kindes, einer wegen des Besitzes einer Datei mit kinderpornografischen Bildern. Der Anwalt des Angeklagten teilte auf MDR THÜRINGEN-Anfrage mit, dass sein Mandant sich nicht dazu äußern wolle.

Verfahren gegen Kita-Leiter eingestellt

Neben dem angeklagten jungen Mann gab es in dem ganzen Ermittlungskomplex auch ein Verfahren gegen den Kita-Leiter. Er war von Eltern angezeigt worden, da er die Fürsorge- und Aufsichtspflicht verletzt haben soll. Grundlage dabei war vor allem der Vorwurf, dass der betroffene Praktikant immer wieder mit den Kindern alleine gewesen sein soll, besonders in den Mittagspausen.

Nach MDR THÜRINGEN-Recherchen ist das durch Aussagen von betroffenen Erzieherinnen in den polizeilichen Vernehmungen bestätigt worden. Der Kita-Leiter selbst hatte die Vorwürfe gegen sich stets bestritten. Das hat wohl auch die Staatsanwaltschaft so gesehen und das Verfahren gegen ihn eingestellt.

Der Kita-Leiter teilte auf Anfrage mit, dass er, seine Familie, sein Arbeitgeber und die Einrichtung die Einstellung der Staatsanwaltschaft erleichtert zur Kenntnis genommen hätten. Er sagte weiter: "Dennoch sind wir nach wie vor schwer erschüttert über die Vorwürfe und versuchen alles in unserer Macht Stehende zu tun, um einerseits eine Aufklärung herbeizuführen und andererseits vor allem im engen Kontakt und Austausch mit der Opferfamilie zu bleiben und Präventionsarbeit zu betreiben." Zu weiteren Fragen wollte er sich nicht äußern.

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MDR (co)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 27. April 2023 | 18:05 Uhr

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