Impressionen von der Weimarer Tafel und eine Broschüre der Stadt für die ukrainischen Flüchtlinge.
Eine der etwa 40 Ehrenamtlichen bei der Weimarer Tafel. Bildrechte: Grit Hasselmann

Beispiel Weimar Ukraine-Flüchtlinge bei der Tafel: Befremden auf beiden Seiten

18. September 2022, 12:53 Uhr

Putins Krieg in der Ukraine hat tausende Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Mehr als 850 Flüchtlinge sind derzeit allein in Weimar gemeldet. Fast alle von ihnen sind auch Gäste der Tafel. Dort gibt es Ärger - offenbar wegen Sprachbarrieren, Missverständnissen und falschen Vorstellungen.

Autorenbild Grit Hasselmann
Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Seit vielen Jahren arbeitet Steffi ehrenamtlich bei der Tafel. Menschen zu helfen, war ihr immer schon ein Bedürfnis. 2015, als sehr viele Kriegsflüchtlinge aus Syrien kamen, kam sie fast an ihre Grenzen. Gemeinsam mit ihren Kollegen und Kolleginnen bewältigte sie aber auch das.

Doch jetzt überlegt sie aufzugeben. Sie kann einfach nicht mehr. "Wenn du nach jedem Dienst zu Hause sitzt und heulst, ist das doch nicht Sinn der Sache." Der Grund für ihre körperliche und psychische Erschöpfung liegt in der Betreuung der vielen neuen Kunden und Kundinnen aus der Ukraine.

Impressionen von der Weimarer Tafel und eine Broschüre der Stadt für die ukrainischen Flüchtlinge.
Diese Informationsbroschüre bekommen in Weimar die Flüchtlinge aus der Ukraine. Bildrechte: Grit Hasselmann

Am Anfang, als Putins Krieg die Menschen aus der Ukraine zu Tausenden vertrieb, war es vor allem die Zahl der neuen Kunden, die den Tafeln zu schaffen machte. Marco Modrow, Leiter der Weimarer Tafel, kann dazu Zahlen nennen: "Normalerweise betreuen wir hier etwa 1.400 Erwachsene und 700 Kinder. Inzwischen sind noch etwa 800 Menschen aus der Ukraine dazu gekommen."

Viele Überstunden und wenig Dank

Mit längeren Öffnungszeiten und viel mehr Arbeit war dieser Andrang zu schaffen. Aber immer häufiger erreichten Modrow Beschwerden seiner Mitarbeiter: "Die Tafel-Gäste aus der Ukraine waren pikiert, dass ihnen fremde Menschen die Tasche füllten, dass sie nicht selbst aussuchen konnten. Es gab Ärger, dass mal ein Apfel eine Druckstelle hatte oder das Mindesthaltbarkeitsdatum fast erreicht war."

Steffi wurde sogar einmal mit einem Salatkopf beworfen, der ein wenig welk war. "Wir werden hier fast täglich angepöbelt, weil jemandem irgendetwas nicht passt", erzählt sie. "Das haben wir bei den Syrern nie erlebt." Und auch mit dem Angebot, das sie hier vorfinden, sind viele der ukrainischen Flüchtlinge unzufrieden.

Prinzip der Tafeln nicht bekannt

31 Tafeln gibt es in Thüringen. Sie sammeln von Supermärkten, Bäckereien oder Lebensmittelherstellern nicht verkauftes oder gespendetes Essen ein und verteilen das gegen einen geringen Obolus an Bedürftige.

Möglicherweise, so Marco Modrow, sei den Ukrainerinnen und Ukrainern dieses System nicht bekannt. Außerdem kommen sie aus einem Land mit einem europäischen Lebensstandard. "Trotzdem ist es zumindest unsensibel, die zwei Euro hier bei der Tafel mit einem Hundert-Euro-Schein zu bezahlen. Das sind unsere Mitarbeiter nicht gewöhnt."

Zum Aufklicken: Die Weimarer Tafel

  • Gegründet wurde sie 1996, seit 2011 leitet sie Marco Modrow.
  • Unter dem Label "Sozialkontor" gib es dort die Lebensmittelausgabe, ein Sozialkaufhaus für Möbel und Haushaltsgeräte, eine Kleiderkammer, eine Holzwerkstatt, eine Spielzeug-Garage und eine Fahrradwerkstatt.
  • Das spendenfinanzierte Projekt "Tafel plus" existiert hier seit 2013 und bietet ein pädagogisches Angebot
  • Die Stadt Weimar stellt das Gelände kostenlos zur Verfügung.
  • Insgesamt arbeiten hier etwa 70 Leute, 40 davon ehrenamtlich, sechs bis acht mit festen Arbeitsverträgen (Vorarbeiter, Verwaltung, Leitung), es gibt Bundesfreiwillige, Ein-Euro-Jobs, Praktikanten und Sozialstunden-Leistende.
  • Die Diakoniestiftung Weimar - Bad Lobenstein ist Trägerin der Tafel und des Sozialkontors.

Impressionen von der Weimarer Tafel und eine Broschüre der Stadt für die ukrainischen Flüchtlinge.
Bei der Weimarer Tafel gibt es inzwischen weit mehr als nur Lebensmittel. Bildrechte: Grit Hasselmann

Für Unmut bei Stammkunden und Mitarbeitern sorgt auch, dass der Parkplatz des Sozialkontors neuerdings ganz anders aussieht. Eine Mitarbeiterin erzählt: "Manchmal kommt man kaum noch durch. Große, teure Autos sind dabei und alle haben ukrainische Nummernschilder. Man muss doch nicht mit dem SUV zur Tafel fahren!"

Auch hier versucht Marco Modrow zu besänftigen. Denn natürlich nimmt man sein Auto mit, wenn man eins besitzt und vor einem Krieg fliehen muss. "Aber unser Gelände hier ist öffentlich zugänglich. Und viele, die das sehen, bezweifeln dann die Bedürftigkeit der ukrainischen Flüchtlinge."

Die Vorsitzende der Tafeln Thüringen, Beate Weber-Kehr, sagt dazu: "Die Tafeln sind in erster Linie da, um Menschen in Not zu helfen. Deshalb muss man da schon mal nachfragen dürfen."

Der Hof der Weimarer Tafel. Der Leiter der Weimarer Tafel, Marco Modrow.
Mehrere SUV, Mercedes, BMW und VW sieht man neuerdings auf dem Tafel-Parkplatz. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Vermögensprüfung durch Krieg unmöglich

Das Problem: Die Tafeln prüfen nicht, ob ihre Kunden wirklich Hilfe brauchen. Das tun die Behörden, denn jeder, der Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch bezieht, kann bei der Tafel einkaufen. Erwerbsfähige ukrainische Frauen und Männer und ihre Familien werden seit 1. Juni 2022 vom Jobcenter betreut und haben Anspruch auf Hartz-IV-Leistungen.

Bei der Prüfung der Ansprüche werden sie nach Angaben des Thüringer Sozialministeriums genauso behandelt wie alle anderen Antragstellerinnen und Antragsteller: "Von daher gibt es keine Sonderregelungen für die Menschen aus der Ukraine - die anzuwendenden Rechtsvorschriften sind für alle gleich." Das gilt auch für Einkommen und Vermögen. Weiter heißt es aber, "dass in Kriegs- oder Krisenregionen bestehendes Vermögen wie insbesondere Immobilien in absehbarer Zeit faktisch nicht verwertbar sind".

Marco Modrow 19 min
Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann
19 min

Marco Modrow, Leiter der Weimarer Tafel, spricht im Interview über Geflüchtete als Kunden - und was seine karitative Einrichtung mit Ukrainern erlebt.

MDR FERNSEHEN Do 15.09.2022 16:30Uhr 18:30 min

https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/mitte-thueringen/weimar/tafel-aerger-ukrainer-fluechtlinge-100.html

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Entscheidung liegt beim Bearbeiter

Außerdem denken Menschen auf der Flucht vor Krieg ganz sicher nicht zuerst an ihre Konto-Auszüge. Deshalb sagt das Ministerium zum Einkommen: "Es ist zu prüfen, ob es der antragstellenden Person möglich ist, entsprechende Nachweise über Einkommen vorzulegen. Kontoauszüge zu einem Girokonto bei einer ukrainischen oder russischen Bank sind vorzulegen, soweit dies möglich ist. Nur wenn glaubhaft versichert wird oder Erkenntnisse bestehen, dass diese nicht beigebracht werden können, kann von einer Anforderung abgesehen werden. In diesem Zusammenhang reicht es aus, wenn nach Überzeugung der jeweiligen Bearbeiterin oder des jeweiligen Bearbeiters die Angaben der Antragstellerin oder des Antragstellers in der Anlage Einkommen zutreffen."

Beate Weber-Kehr sieht hier großen Handlungsbedarf: "Es müsste wirklich geprüft werden, ob tatsächlich alle diese Menschen so bedürftig sind." Gerade, weil die Probleme bei weitem nicht alle ukrainischen Flüchtlinge betreffen, warnt sie davor, sie unter den Teppich zu kehren: "Wir müssen wirklich aufpassen, dass hier nicht die verschiedenen Gruppen von Tafel-Kunden gegeneinander ausgespielt werden."

Probleme, an eigenes Geld zu kommen

Galina aus Nikolajew, die ich bei der Weimarer Tafel treffe, sagt, dass sie Probleme hat, von ihrem Konto Geld an den hiesigen Automaten abzuheben. Deshalb bleibe ihr gar nichts anderes übrig, als zur Tafel zu gehen. "Wir sind ja nur mit zwei Koffern hergekommen, wir müssen so viele Sachen neu anschaffen".

Laut dem Deutschen Sparkassen- und Giroverband sind von deutscher Seite keine Verbindungen "gekappt" worden. Wo die entsprechende Infrastruktur in der Ukraine noch störungsfrei läuft, sei der Konto-Zugriff wie in andere Länder auch möglich. "Dort, wo es Einschränkungen gibt, ist der Krieg in der Ukraine die Ursache."

Marco Modrow
Marco Modrow leitet seit 2011 die Weimarer Tafel. Bildrechte: MDR/Grit Hasselmann

Für Marco Modrow ist es völlig klar, dass den Menschen aus der Ukraine hier vor Ort schnell und unkompliziert geholfen werden muss. Aber, so sagt er, auch sie müssten zu Kompromissen bereit sein. "Wir haben schon oft Möbel zur Erstausstattung der neuen Wohnungen geliefert und die Mitarbeiter kamen mit dem vollen Lkw zurück, weil die Sachen den Leuten nicht gefallen haben." Es sei nicht möglich, es in einer solchen Situation allen recht zu machen.

Impressionen von der Weimarer Tafel und eine Broschüre der Stadt für die ukrainischen Flüchtlinge.
Die Tafeln rechnen damit, dass wegen der Inflation in den nächsten Wochen noch mehr Menschen zu ihnen kommen werden. Bildrechte: Grit Hasselmann

Auf keinen Fall will Modrow aber alle ukrainischen Flüchtlinge über einen Kamm scheren: "Natürlich betrifft das nicht alle. Aber es sind eben weit mehr als Einzelfälle. Und nicht darüber zu sprechen, hilft auch keinem."


Anmerkung der Redaktion: Auf diesen Beitrag haben viele Menschen reagiert - mit Zustimmung, aber auch Kritik. Die Tafel Deutschland äußerte sich am Dienstag beim Kurznachrichtendienst Twitter, dass es sich bei dem abgebildeteten, handgeschriebenen Zettel um einen Wunschzettel und nicht um einen Einkaufszettel handelt.

Auf Nachfrage teilte uns die Tafel Thüringen folgendes mit: Die ehrenamtliche Mitarbeiterin, die den erwähnten Einkaufszettel entgegengenommen hatte, war nicht darüber informiert, dass die Tafel bei den Geflüchteten nach speziellen Essenswünschen gefragt hatte. Beate Weber-Kehr, Vorsitzende der Tafel Thüringen: "Darüber hinaus lenkt die Diskussion um diesen Zettel aus meiner Sicht vom eigentlichen Problem ab. Nämlich, dass die Menschen mit falschen Vorstellungen und Erwartungen von den Behörden zu den Tafeln geschickt werden."

MDR (gh)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Nachrichten | 15. September 2022 | 13:00 Uhr

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