Kämpfer auf einem Militärfahrzeug
Gemeinsame Übung von Wagner-Söldnern und regulären belarusischen Streitkräften im Juli 2023 – nach dem Tod von Jewgeni Prigoschin fragen sich viele, wie es mit der Wagner-Truppe in Belarus weitergeht. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Belarus Neue Reisepässe für Wagner-Söldner in Belarus?

02. September 2023, 16:08 Uhr

Prigoschins Leben ebenso wie sein Tod schienen einem Drama entsprungen – extrem brutal und gewalttätig. Im Ukraine-Krieg war Jewgeni Prigoschin zu einer Kultfigur aller Extremisten in Russland avanciert. Nun ist er tot, doch seine Wagner-Gruppe existiert weiter. Viele Söldner sollen sich noch in Belarus aufhalten. Das sorgt für Unruhe in Polen und im Baltikum.

Das neuste Kapitel in der unendlich erscheinenden Wagner-Saga: Nach Ansicht des belarusischen Oppositionspolitikers Pawel Latuschko erhalten die Söldner momentan neue Reisepässe vom Innenministerium in Minsk. Dabei, so sagte es der frühere Kulturminister am Montag der polnischen Nachrichtenagentur PAP, handelt es sich um echte Dokumente, mit neuen Vor- und Nachnamen. Damit könnten die Wagner-Kämpfer leichter in die EU einreisen und dort Terroranschläge verüben.

Soldaten der belarussischen Streitkräfte und der Wagner-Gruppe
Seite an Seite: Ende Juli 2023 hielten Soldaten der regulären belarusischen Armee und Wagner-Söldner eine gemeinsame Übung ab. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Die Wagner-Gruppe war 2014 vom Ex-Offizier und Neonazi Dmitri Utkin (Spitzname: Wagner) im Donbas geschaffen worden, um dort, die "Drecksarbeit" zu erledigen, mit der die russische Führung nicht in Verbindung gebracht werden wollte. Und genau mit solchen verdeckten Aktionen hybrider Kriegsführung rechnen Polen und die baltischen Staaten nun auf ihrem Territorium, solange sich eine große Anzahl der Wagner-Söldner im Nachbarland Belarus aufhält.

Dass die Befürchtung nicht völlig unbegründet ist, zeigte Utkin am 19. Juli 2023, bei seinem letzten öffentlichen Auftritt auf einem belarusischen Stützpunkt der Wagner-Truppen. "Das ist nur der Anfang des größten Werks der Welt, das sehr bald weitergehen wird", verkündete er und beschloss seine Rede mit den Worten: "Willkommen in der Hölle."

Wird die Wagner-Truppe an die Kandare genommen?

Mit der Wagner-Gruppe, wie sie bisher fast täglich Schlagzeilen produzierte, ist es allerdings vermutlich längst vorbei. Das glaubt auch der belarusische Historiker Alexander Friedman: "Die gesamte Führung ist ja tot. Im abgestürzten Flugzeug waren neben Prigoschin auch Waleri Tschekalow, der für Operationen in Syrien zuständig war, und Dmitri Utkin, der militärische Chef der Gruppe. Vermutlich wird das russische Verteidigungsministerium nun die restlichen Kämpfer übernehmen, und dann wird Wagner bloß noch eine ganz normale Einheit der russischen Streitkräfte sein."

Vereidigung russischer Soldaten
Vereidigung russischer Rekruten in Moskau – nun sollen auch die Wagner-Söldner einen Eid schwören, wenn sie in den Diensten der russischen Armee agieren. Bildrechte: IMAGO/ITAR-TASS

Dass Friedman richtig liegen dürfte, legt ein von Putin unterzeichnetes Dekret nahe, welches der Kreml nur einen Tag nach Prigoschins Absturz auf seiner Internetseite veröffentlicht hat. Der Erlass, welcher sofort in Kraft trat, verpflichtet jeden, der im Auftrag des Militärs arbeitet oder an der von Moskau sogenannten "militärischen Spezialoperation" in der Ukraine teilnimmt, einen förmlichen Treueeid vor der russischen Staatsflagge abzulegen. Personen, die den Eid ablegen, geloben neben der Treue zum Staat auch, Befehle von Kommandeuren und Vorgesetzten strikt zu befolgen.

...oder zwecks Diversion in den Westen geschickt?

Damit verbaut sich der Kreml allerdings eine Option, welche der belarusische Politanalyst Alexander Klaskowski im belarusischen Online-Medium Pozirk angedeutet hatte: Innerhalb der NATO, aber auch unter unabhängigen Analytikern sei intensiv darüber diskutiert worden, wie groß die Gefahr sei, dass Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Söldner dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln.

"Das hätte ungefähr so aussehen können, dass Wagner-Söldner für etwas Unruhe im Grenzgebiet um Terespol oder im Suwałki-Korridor gesorgt und Putin danach in bester Tschekisten-Art beteuert hätte, dass ihm diese 'Wildgänse' gar nicht unterstehen würden, sie ja unlängst sogar einen Putsch gegen ihn angezettelt hätten", so Klaskowski. Jetzt, wo alle Wagner-Soldaten einen Treueeid auf den russischen Staat abliefern müssen, lässt sich diese Geschichte allerdings kaum noch erzählen.

Polen und Baltikum machen sich Sorgen

PK von Polens Verteidigungsminister zur Wagner-Truppe in Belarus
Polens Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak widmete der vermeintlichen Gefahr durch Wagner-Söldner in Belarus eine aufwendig inszenierte Pressekonferenz direkt an der Grenze. Bildrechte: IMAGO / ZUMA Wire

Für Polen und die baltischen Staaten ist das allerdings kaum ein Grund, sich wesentlich sicherer zu fühlen. Erst am Montag, also kurz nachdem Prigoschins Tod bestätigt worden war, erklärte Polens Innenminister Mariusz Kaminski gemeinsam mit seinen Amtskollegen aus Litauen, Lettland und Estland bei einem Treffen in Warschau: "Wir haben das Regime Lukaschenko aufgefordert, die Gruppe Wagner sofort auszuweisen."

Damit reagierten die Länder auch auf entsprechende Sticheleien, die der Machthaber aus Minsk in gewohnt paradoxer Form Ende Juli in Richtung seiner Nachbarn geschickt hatte. Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg erklärte Lukaschenko, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn "langsam belasten" und angeblich einen "Ausflug nach Warschau und Rzeszów" planen. Das war insofern delikat, als dass sich in Rzeszów ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine befindet.

Alexander Lukashenko und Wladimir Putin
Eine Männerfreundschaft? Alexander Lukaschenko half Wladimir Putin, nach dem Aufstand der Wagner-Truppe das Gesicht zu wahren, indem er die Söldner und ihren Chef Jewgeni Prigoschin nach Belarus einlud. Bildrechte: picture alliance/dpa/POOL

Später schwächte Lukaschenko seine verbale Attacke wieder ab, indem er sagte, in Warschau solle man "ruhig beten", dass Belarus die Wagner-Truppen "aufhält und versorgt". Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Und das, so Kalikowski, wäre für das Regime "kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko".

Bereits vor zwei Jahren hatte sich Lukaschenko unwissend gegeben, als die Grenze zur EU von Migranten bestürmt worden war. Vor einer Verschärfung der Sanktionen gegen sein Regime hatte ihn das nicht gerettet. Sollten nun Diversions- und Spionagetruppen der Wagner-Gruppe von belarusischem Boden aus nach Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen.

Werden Wagner-Söldner aus Belarus abgezogen?

Zeltlager der Wagner-Truppe in Belarus
Zeltlager der Wagner-Truppe in Belarus Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Bleibt die Frage, wie stark die Wagner-Gruppe in Belarus überhaupt noch ist. Bis zu 10.000 Kämpfer sollen es nach Aussage von Lukaschenko gewesen sein. Ein mit Wagner verbundener Telegram-Kanal ging von 7.000, unabhängige Beobachter von 5.000 Söldnern aus. Nach Einschätzung von Alexander Friedman ist die Gruppe momentan zwischen Russland und Afrika weit verstreut und zumindest in Belarus scheint sie derzeit keine schweren Waffen zu haben. "Das ist ein Riesenunterschied zum Aufstand vor zwei Monaten", so der Historiker.

Trotzdem seien die belarusischen Streitkräfte und Spezialkräfte bereits einen Tag nach Prigoschin und Utkins Tod in Alarmbereitschaft versetzt worden. "Offenbar wollte man sich für den Fall wappnen, dass die Wagner-Truppen in Belarus tatsächlich rebelliert und einen neuen Marsch auf Moskau geplant hätten." Es gibt allerdings auch glaubhafte Berichte, so Friedman, wonach die Kämpfer derzeit aus Belarus abgeholt und Richtung Afrika transportiert werden.

Die These von der Verlegung der Wagner-Kämpfer stützen auch eine Beobachtung, von der der belarusische Dienst von Radio Free Europe/Radio Liberty berichtete: Demnach sollen in den vergangenen Wochen im Feldlager der Wagner-Truppen in Ossipowitschi nahe der Bezirkshauptstadt Mogilew zunächst 273 Zelte auf- und wenig später 101 wieder abgebaut worden sein. Alexander Lukaschenko aktuellste Aussage zum Thema lautet allerdings: "Wagner wird in Belarus weiterleben." Die Truppe befände sich in ihren Lagern und sei nirgendwohin unterwegs. "Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen." Für Polen, die baltischen Länder, die Ukraine und selbst für Belarus bleibt die bange Frage: Von wem werden die Befehle für die momentan kopflose Wagner-Gruppe kommen und was werden diese beinhalten?

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten – Der Osteuropa-Podcast | 02. September 2023 | 07:17 Uhr

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