Europawahl Tschechien: Briefwahl? Fehlanzeige!
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08. Juni 2024, 16:00 Uhr
In Deutschland beliebt und unumstritten – in Tschechien nicht existent und hoch kontrovers: Vorab per Briefwahl abstimmen, falls man am Wahltag nicht persönlich ins Wahllokal gehen kann. Die tschechische Opposition stemmt sich dagegen, fürchtet sie doch politische Nachteile. Gerade, falls durch die Briefwahl mehr Auslands-Tschechen wählen würden.
Ganze zehn Stunden dauerte die Rede, die Tomino Okamura kürzlich im tschechischen Parlament hielt. Damit versuchte der Chef der rechten Gruppierung Freiheit und direkte Demokratie (Tschechisch: Svoboda a přímá demokracie – SPD) den Beschluss zur Briefwahl zu verzögern. Für ihn als Parteichef ist seine Redezeit im tschechischen Parlament nicht begrenzt. Auch die populistische Bewegung ANO des früheren Premiers Andrej Babiš lehnt die Briefwahl ab und griff zu einer vergleichbaren Verzögerungstaktik. Dass sie die Briefwahl früher selbst im Programm hatte, scheint jetzt nicht mehr wichtig. Die Regierungskoalition musste daraufhin auf einen Verfahrenstrick zurückgreifen, ließ bei diesem Thema die Redezeit beschränken und brachte somit die Vorlage in die nächste Lesung. Eine parteiübergreifende Gruppe von Abgeordneten der fünf Regierungsparteien hatte den Gesetzentwurf für die Briefwahl eingebracht.
Innerhalb der EU gehört Tschechien neben Kroatien und Malta zu einer kleinen Gruppe von Mitgliedsstaaten, in denen es bislang nicht möglich ist, per Brief abzustimmen. Frankreich zählt zwar im Grunde genommen auch dazu, doch dort kann man aus dem Ausland elektronisch wählen.
Auslands-Tschechen die Abstimmung erleichtern
Die von den jetzigen fünf Regierungsparteien unterstützte Briefwahl-Regelung ist in erster Linie für im Ausland lebende Tschechen gedacht. Bisher mussten sie, falls sie wählen wollten, die zuständige tschechische Botschaft oder ein Konsulat aufsuchen, um dort abzustimmen. In Staaten wie Australien oder Kanada, wo die Entfernungen sehr groß sind, war das allerdings für viele eine große, manchmal sogar unüberwindbare Hürde. Diese soll künftig entfallen, indem man sich Wahlunterlagen zusenden lassen kann und diese dann ausgefüllt an die zuständige Botschaft Tschechiens abschickt.
Und genau daran stößt sich die Opposition. Ihr Hauptargument gegen die Briefwahl ist, dass dadurch das Prinzip der geheimen Wahl nicht mehr gewährleistet würde. Die ausgefüllten Stimmzettel könnten angeblich deren Absendern zugeordnet werden.
Freie und geheime Abstimmung bei Briefwahl?
Diesem Argument kann auch der Verfassungsrechtler Ondřej Preuss etwas abgewinnen, obwohl er die Briefwahl im Prinzip unterstützt. "Hier wird tatsächlich der Grundsatz der geheimen Wahl geschwächt, weil man im Gegensatz zum traditionellen Wahlakt in einem Wahllokal hier nicht sicherstellen kann, dass die Wahlentscheidung eines Bürgers tatsächlich aus freien Stücken entstanden ist und ohne dass von außen jemand Druck ausgeübt hat", erläutert er im Gespräch mit dem MDR.
Es gibt Schätzungen, denen zufolge theoretisch bis zu einer halben Million Tschechen Gebrauch von der Briefwahl machen könnten. Hauptsächlich wären das wohl diejenigen, die schon seit längerer Zeit im Ausland leben, dazu würden wohl noch Bürger kommen, die sich am Wahltag außer Landes befinden. Zum Vergleich: Bei den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2021 haben lediglich 13.200 Auslands-Tschechen von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht. Bei den etwas mehr als fünf Millionen Stimmen, die insgesamt abgegeben wurden, fielen die von außerhalb Tschechiens abgegebenen beim Endergebnis nicht sonderlich ins Gewicht. Sie würden zusammengenommen nicht einmal für ein Parlamentsmandat reichen. Sollten allerdings deutlich mehr als einige Tausend der potentiell halben Million Wähler im Ausland ihre Stimme abgeben, wäre das ganz anders und es könnte schon zu Verschiebungen beim Kräfteverhältnis kommen.
Stimmen der Auslands-Tschechen wahlentscheidend?
Und darin liegt wohl der Hauptgrund, warum die Einführung der Briefwahl derart umkämpft ist. Die im Ausland lebenden Tschechen wählen nämlich traditionell und überproportional Parteien, die in der jetzigen Prager Mitte-Regierungskoalition von Premier Petr Fiala vertreten sind, also tendenziell bürgerlich und proeuropäisch. Die Populisten von ANO, wie auch der SPD, hätten das Nachsehen. Deshalb fragen sie auch sehr laut, warum Personen, die keinen realen Bezug zu Tschechien haben, weil sie längst im Ausland verwurzelt sind, die Möglichkeit bekommen sollten, auf das Geschehen im Land Einfluss zu nehmen?
Der Politikwissenschaftler Josef Mlejnek von der Prager Karlsuniversität hält diesen Einwand für übertrieben, weil seiner Meinung nach die Zahl der tatsächlich vom Ausland aus abstimmenden Menschen dank der Briefwahl nicht dramatisch ansteigen würde. Dennoch könne bei knappen Ergebnissen jede Stimme zählen: "Bei den letzten Parlamentswahlen von 2021 scheiterten zwei Gruppierungen, die Sozialdemokraten und die Bewegung des ehemaligen Polizisten Robert Šlachta knapp an der Fünf-Prozent-Hürde, da sie 4,5 Prozent der Stimmen bekamen. Wären sie ins Parlament eingezogen, sähe die Regierung jetzt wohl ganz anders aus", erklärt er dem MDR.
Lösungen für manche Probleme einfach
In den vergangenen Wochen sind die Regierungsfraktionen auf die wichtigsten Einwände gegen die Briefwahl eingegangen. Dabei ging es vor allem um die Frage, wie die per Brief abgegebenen Stimmen gezählt werden. Bislang war es so, dass vor den Wahlen ausgelost wurde, welchem der 14 tschechischen Wahlkreise die Stimmen aus dem Ausland zugerechnet werden. Die Wahlkreise sind allerdings unterschiedlich groß, in Karlovy Vary (Karlsbad), dem kleinsten, stimmten lediglich etwas mehr als 130.000 Wähler ab. Eine massive Zufuhr von Stimmen von außerhalb könnte dort die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellen. Der Kompromiss lautet daher, dass die per Brief abgegebenen Stimmen gleichmäßig auf die vier größten Wahlkreise verteilt würden, um den politischen Willen der dort Lebenden so wenig wie möglich zu verfälschen.
Diskussion nährt Misstrauen am Wahlprozess
Woran sich Politikwissenschaftler Mlejnek mehr stört als an den ausgetauschten Argumenten, ist die "Begleitmusik" bei der Briefwahl-Debatte: "Es ist erstens eine Abgeordneten-Initiative und keine Regierungsvorlage, was heißt, dass dieses Gesetz keiner ausführlichen Begutachtung durch Experten unterzogen wurde. Gerade bei so einem wichtigen Thema wäre das ganz besonders wichtig gewesen, auch mit dem Risiko, dass es mit der Verabschiedung etwas länger dauern würde." Zum anderen merkt Mlejnek an, für die Qualität der politischen Kultur im Land wäre es besser, wenn die neuen Regeln erst ab der übernächsten Wahl im Jahr 2029 und nicht schon für die nächste 2025 gelten würden.
Verfassungsrechtler Ondřej Preuss führt noch ein weiteres wichtiges Argument an, nämlich dass durch die ganze Debatte über die Briefwahl Misstrauen in Bezug auf den Wahlprozess an sich aufkommen könnten: "Wir hatten in Tschechien lange den Vorteil, dass wirklich niemand die Wahlen als solche in Zweifel gezogen hatte. Das könnte sich mit der Briefwahl ändern." Preuss führt insbesondere das Beispiel der USA an, wo bei den letzten Wahlen lange Zeit als zuverlässig angesehene Wahlprozeduren, wie die Briefwahl oder auch die elektronische Stimmabgabe in den Wahllokalen, auf einmal von einem nicht unwesentlichen Teil der Öffentlichkeit als nicht mehr vertrauenswürdig gesehen wurden.
Die Regierung hat für einige Probleme, die mit der Briefwahl entstehen könnten, Lösungen aufgezeigt. Ob das reichen wird, um im Parlament eine Mehrheit für die Abstimmung per Brief zu bekommen, wird sich zeigen. Ebenso, ob auch die letzte Lesung im Abgeordnetenhaus, die für Mitte Juni geplant ist, erneut von Blockaden begleitet werden wird.
MDR (usc)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 08. Juni 2024 | 07:22 Uhr