mehrere Packungen Antibiotika.
Die Zahl der Betroffenen mit Antibiotika-Resistenzen nimmt immer mehr zu. Bildrechte: Colourbox.de

Interview mit Mediziner Multiresistente Keime bekämpfen: Phagentherapie mit Bakterienfressern

14. Juli 2023, 13:59 Uhr

Wenn Antibiotika keine Wirkung zeigen, sind oft multiresistente Erreger der Grund. Es gibt Viren, die solche Erreger auf natürliche Art bekämpfen können: in der Phagentherapie. In Deutschland wird noch daran geforscht. Prof. Christian Kühn, Leiter des Zentrums für Phagentherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, ist daran beteiligt und erklärt, was Phagen machen und warum sie bei uns noch nicht zugelassen sind.

Es kann eine Wunde sein, die sich nicht schließen will oder ein neues künstliches Gelenk, das nicht einheilen will – hinter derartigen Dauerentzündungen kann im schlimmsten Fall eine Infektion mit multiresistenten Keimen stecken. Dann sind Bakterien in den Körper gelangt, gegen die oft nicht einmal Antibiotika ausreichend wirken. Hoffnung für solche schweren Fälle könnte eine Therapie mit speziellen Viren, sogenannten Phagen, sein. Sie werden umgangssprachlich auch "Bakterienfresser" genannt. Wir haben mit Prof. Christian Kühn, Leiter des Zentrums für Phagentherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover, über den aktuellen Stand der Forschung gesprochen.

1) Was passiert bei einer Phagentherapie?

Professor Christian Kühn: Im Prinzip kann man sich das so vorstellen, dass für jedes Bakterium ein bestimmter Phagen-Stamm als natürlicher Gegenspieler wirkt. Das ist vergleichbar mit dem Schlüssel-Schloss-Prinzip: Es gibt eine Menge von Schlüsseln, die aber nur für ganz bestimmte Schlösser passen. So ist es mit den Bakteriophagen und den Bakterien auch. Man muss auf Subspezies-Ebene unterschiedliche Phagen testen, um den geeignetsten Phagen mit der stärksten Kapazität, ein Bakterium zu zerstören, zu identifizieren.

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2) Bei welchen Erkrankungen könnte eine Phagentherapie sinnvoll sein?

Im Prinzip kann bei allen akuten oder chronischen Infektionen mit Bakterien eine Phagen-Therapie durchgeführt werden. Voraussetzung ist eine vorherige Testung der krankmachenden Bakterien mit einer Sammlung von Bakterienphagen. Es gibt allerdings auch einige wenige Bakterienstämme, gegen die wir bisher noch keine geeigneten Bakteriophagen identifizieren konnten.

Je nach Lokalisation der Infektion können die Phagen oral als Inhalat verabreicht werden, zum Beispiel bei Lungenentzündungen. Bei Weichteil- oder Implantat-Infektionen können sie lokal aufgetragen werden. Zurückhaltend sind wir mit der intravenösen Gabe von Bakteriophagen, da wir zu den immunologischen Reaktionen im Blut noch keine ausreichenden Ergebnisse haben.

3) Warum ist die Behandlung in Deutschland nicht zugelassen?

Bisher waren sich die regulierenden Behörden in Deutschland unsicher, wie die Phagen-Therapie zu klassifizieren sei. Aktuell gibt es auf europäischer Ebene Bestrebungen, die Phagenherstellung und -therapie zu regulieren, sodass wir hoffen, in Zukunft mehr Patienten behandeln zu können.

Phagen haben praktisch keine Nebenwirkungen und sind im weitesten Sinne "Naturmedizin". Wo liegen die Bedenken des Gesetzgebers?

Bisher fehlen für viele Prozessschritte in der Phagenherstellung und -isolierung einheitliche Standards. Im Rahmen der europäischen Initiative sollen diese nun bearbeitet werden.

4) Warum setzen Sie auf die Phagen-Forschung?

Im Bereich der Antibiotikatherapie zur Bekämpfung schwerer bakterieller Infektionen laufen wir langsam, aber kontinuierlich in eine Versorgungslücke hinein. Die Industrie hat die Neuerforschung von Antibiotika aufgrund der enormen Entwicklungskosten drastisch heruntergefahren, sodass wir nach Alternativen und Ergänzungen suchen müssen, um nicht in eine Post-Antibiotika-Ära – also eine Ära ohne wirksame Antibiotika – hineinzulaufen. Da bietet sich die bakterielle Phagen-Therapie geradezu an, da Phagen die natürlichen Gegenspieler von Bakterien darstellen und wir uns das Motto "Der Feind meines Feindes ist mein bester Freund" zunutze machen.

Wie viele Patienten haben Sie selbst mit Phagen behandelt, und wie erfolgreich war das?

Bisher haben wir an der Medizinischen Hochschule in Hannover 34 Patienten mit Bakteriophagen behandelt. Das waren Patienten, die medikamentös ausbehandelt waren. Durch die Phagen-Therapie konnten wir in über 90 Prozent der Fälle den krankmachenden Erreger eliminieren.

Könnte theoretisch jeder Mediziner eine Phagenbehandlung vornehmen?

Im Rahmen von individuellen Heilversuchen kann diese Behandlung jeder Mediziner durchführen, der im Besitz geeigneter Bakteriophagen ist.

Wo bekommen Mediziner die Phagen her?

Als natürliche Gegenspieler findet man Phagen überall dort, wo auch viele Bakterien vorkommen. Die meisten Mediziner, die Phagen einsetzen, haben eine eigene Phagen-Bank. Ansonsten kann man auch mit der DMSZ, der Deutschen Sammlung von Mikroorganismen und Zellkulturen GmbH in Braunschweig, in Kontakt treten, die in Deutschland wahrscheinlich die größte Phagen-Sammlung besitzen.

4) Wann könnten in Deutschland Phagentherapien zugelassen sein?

Gegenwärtig ist dies sehr schwer abzuschätzen. Wünschenswert wäre auf nationaler Ebene eine politische Unterstützung sowie die Beteiligung von Patientenverbänden, um eine zügige und patientenorientierte Regulierung der Phagen-Therapie herbeizuführen.

5) Wie viele Menschen in Deutschland könnten von einer Phagen-Behandlung profitieren?

Für Deutschland geht das RKI aktuell von etwa 50.000 Neuinfektion pro Jahr mit multi- oder panresistenten (also resistent gegen alle Antibiotika) Erregern aus. Da wir uns aktuell auf dieses Patientenkollektiv beschränken, kann man also von einer derartigen Größenordnung ausgehen. Möglicherweise liegt die Dunkelziffer aber bedeutend höher.

Für Deutschland geht das RKI aktuell von etwa 50.000 Neuinfektion pro Jahr mit multi- oder panresistenten (also resistent gegen alle Antibiotika) Erregern aus.

Prof. Christian Kühn, Leiter des Zentrums für Phagen-Therapie an der Medizinischen Hochschule Hannover

MDR (cbr)

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | Hauptsache Gesund | 06. Juli 2023 | 21:00 Uhr

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