Teasergrafik Altpapier vom 25. März 2021: Porträt Autor René Martens
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Das Altpapier am 25. März 2021 Nonstop nonsens

25. März 2021, 12:35 Uhr

Wenn eine Nachrichtenagentur ministerpräsidiale Äußerungen widerlegt. Wenn ein Polizist einem Journalisten die Maske runterreißt. Wenn Redaktionen den Namen einer toten Person nicht so schreiben, wie sie es sich gewünscht hätte. Ein Altpapier von René Martens.

Ministerpräsidenten im "Faktencheck"

Am Montag haben wir hier die plakative und mindestens stark überspitzte Frage aufgeworfen, ob die aktuelle Realitätsverweigerung deutscher Politiker vergleichbar sei mit der Realitätsverweigerung von Trumpisten - woraufhin der freie US-Kulturkorrespondent Jürgen Kalwa bei Twitter zu Recht auf die US-spezifischen Rahmenbedigungen des Trumpismus verwies.

Versuchen wir es heute also ein bisschen vorsichtiger: Die Realitätsverweigerung von Politikern hier zu Lande hat innerhalb weniger Tage ein Ausmaß angenommen, das man bis vor kurzen nur von Politikern anderer Länder kannte oder zu kennen glaubte. Und der mediale Umgang mit dieser Realitätsverweigerung hat eine nicht für möglich gehaltene Stufe erreicht. Die Kacke muss schon zeitlich heftig dampfen, wenn die dpa sich bemüßigt sieht, mit einem "Faktencheck" auf günstigstenfalls als kindsköpfig oder weltfremd einzustufende Wortmeldungen zweier Ministerpräsidenten (Armin Laschet und Volker Bouffier) zu reagieren. Laschet sagte Folgendes:

"Wir alle hatten die Hoffnung, aus der Erfahrung des letzten Jahres, dass wenn der Frühling kommt, es wärmer wird, die Virus-Ansteckung zurückgeht und die Zahlen sinken."

Wir alle? Wahrscheinlich meinte er: Ich und mein Hamster. Und Bouffiers Beitrag zur aktuellen "Nonstop nonsens"-Show? Der trompetete:

"Jeder, der behauptet, das hätte man alles schon vor acht Wochen wissen müssen - mit sowas will ich mich nicht auseinandersetzen."

Der dpa-Faktencheck ist unter anderem erschienen bei Zeit Online, der Frankenpost und der Saarbrücker Zeitung.

Maske runter

Was treibt einen Polizisten dazu, einem Journalisten die Maske runterzureißen? Unter anderem diese Frage wirft ein Artikel über eine Demonstration gegen die Räumung einer linken Kneipe in Berlin-Kreuzberg, den Julius Geiler und Madlen Haarbach für den Tagesspiegel geschrieben haben. Der betroffene Journalist ist Enzo Leclercq "von der renommierten Ostkreuz-Schule für Fotografie". Im Text heißt es weiter:

"Leclercq (…) versucht, nach eigenen Angaben (eine) Festnahme zu dokumentieren, als er plötzlich von einem Polizisten am Arm gepackt wird. Die Kamera des Fotografen fliegt durch die Luft, der Blitz zerbricht. Kurz darauf geht ein weiterer Beamter auf den Journalisten los und reißt ihm seine Maske vom Gesicht. Obwohl Leclercq immer wieder ‚Presse‘ schreit, wird er festgenommen. Der Vorwurf: versuchte Gefangenenbefreiung."

Wer einen Blick auf das in den Artikel eingebettete Video zum Vorfall wirft, wird sich über diesen Vorwurf mindestens wundern. Bei Supernova (gehört zum ND) verliest Leclerq ein Statement zu den Polizeiattacken. Erik Peter weist für die taz noch darauf hin, dass "die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union in der Gewerkschaft Verdi am Mittwochmorgen in einem Brief an Polizeisprecher Thilo Cablitz Angriffe auf Jour­na­lis­t*in­nen durch einen Polizeibeamten kritisierte".

Zur Zukunft der Spartenkanäle

Die FAZ hat für ihre heutige Medienseite ein Interview mit der rheinland-pfälzischen Medienstaatssekretärin Heike Raab (€) geführt, und zwar zu den Ergebnissen der Rundfunkkommissions-Sitzung am Mittwoch vergangener Woche (siehe Altpapier). Raab sagt:

"Wir wollen den Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder zu ihrer Jahreskonferenz im Oktober 2021 einen Entwurf staatsvertraglicher Regelungen zu Auftrag und Struktur der öffentlich-rechtlichen Anstalten vorlegen. Bisher sind die Rundfunkanstalten für ihre jeweiligen Fernsehprogramme von den Ländern durch den Rundfunk- beziehungsweise Medienstaatsvertrag beauftragt worden. Das wollen wir so nicht weiterführen. Künftig sollen nur noch die Hauptprogramme festgeschrieben werden. Die Entscheidung über die Spartenkanäle, wie One oder ZDFinfo, soll in der Verantwortung der Sendergruppen liegen."

Vereinfacht gesagt, bedeutet das: Wenn die ARD ihren Kanal One einstellen oder auf einen Online-only-Status umswitchen möchte, dann müsste sie gemäß dem beschriebenen Entwurf nicht mehr darauf warten, bis sämtliche Landesparlamente dem zustimmen. Ob der Kika und Phoenix "auch in Zukunft linear beauftragt" werden, also zumindest in diesem Sinne dann keine Spartenkanäle wären - darüber sind sich die Länder laut Raab noch uneinig.

Wenn im Kontext der Veränderung des öffentlichen-rechtlichen Auftrags das Stichwort "Spartenkanäle" fällt, bietet es sich an, noch einmal auf den vor einigen Wochen erschienenen epd-medien-Artikel des HR-Justiziars Jürgen Betz hinzuweisen, in dem er darauf einging, dass One und ZDFneo eigentlich nur lineare Mediatheken seien (Altpapier) bzw. "sich weit von ihren Konzepten entfernt" und "weitestgehend zu Abspielstätten von Wiederholungen und vor allem Krimis" entwickelt hätten (Altpapier).

Das heißt, es ist ohnehin überfällig, die Konzepte bestimmter Spartenkanäle zu überarbeiten. Theoretisch möglich wäre natürlich auch, dass ARD und ZDF sich dazu entschließen, die bestehenden, von Betz in seinem Text skizzierten Konzepte umzusetzen, aber wer glaubt, dass sie das tun, glaubt womöglich auch an den Osterhasen.

Mal wieder über DT64 reden

Christian Bartels hat sich für seine Medienkorrespondenz-Kolumne mit dem neuen Arbeitspapier "Schreiben Medien die Teilung Deutschlands fest?" beschäftigt. Er spricht von "einem Schnelldurchlauf durch deutsch-deutsche Medien-Zeitgeschichte. Vieles dürfte eher westdeutsch geprägten Zeitgenossen kaum präsent sein". Das gilt zum Beispiel für "die Auseinandersetzungen" um das Jugendradio DT 64, "das seinen Namen (…) dem von der FDJ organisierten 'Deutschlandtreffen der Jugend' anno 1964 verdankte und trotz oder wegen eines "rasanten Selbstermächtigungsprozesses" im Herbst ’89 in Deutschland-einig-Vaterland dann doch nicht überleben durfte.

Wer mehr erfahren will zur Geschichte dieses Jugendradios, dessen Quasi-Nachfolger MDR Sputnik ist: Der auch schon als Altpapier-Jubiläums-Gastbeitragsautor in Erscheinung getretene Medienjournalist Jörg Wagner betreibt das "Erinnerungsblog" MeinDT64.

Und wer mehr über andere Aspekte der deutschen Ost-West-Mediengeschichte erfahren will: Siehe die Forschung Mandy Trögers zu der Frage, "wie westdeutsche Verlage 1989/1990 den Osten eroberten" (Altpapier), und ein Interview zur nicht ausreichenden Repräsentation Ostdeutschlands in den überregionalen Medien, das die Kollegen der Altpapier-Dachredaktion MEDIEN360G mit Marieke Reimann geführt haben.

Lana Kaiser für tot erklärt

Vor rund zweieinhalb Wochen sind wir an dieser Stelle auf eine Würdigung Lana Kaisers bei 54books eingegangen. Weil Kaiser nun für tot erklärt wurde, gibt es einen erneuten Anlass, folgende Passage zu zitieren:

"Als vor zwei Jahren über das Kreuzfahrt-Unglück geschrieben wurde, nahmen die Berichte und Nachrufe, sei es bei BILD oder bei der BBC, keinerlei Notiz von der geschlechtlichen Identität, zu der Kaiser sich mehrmals öffentlich und zuletzt auf Instagram bekannt hatte. Warum eigentlich nicht? 2018 ließ sich bereits ein Mindestmaß an Aufklärung und Sensibilität von den Redaktionen erwarten."

An dieser "Sensibilität" scheint es aber auch im März 2021 zu fehlen, jedenfalls bei den Nachrichtenagenturen dpa und AFP bzw. jenen Journalist:innen, die die entsprechenden Meldungen für Zeit Online, Spiegel und Ostthüringer Zeitung ins Netz gehoben haben.


Altpapierkorb (mehr zur "Lovemobil"-Affäre, "Unsere Mütter, unsere Väter", Presseanfragen beantwortende Anwälte, die rassifizierende Dimension von Unterhaltung, WDR-Beschwerdestelle)

+++ Die Debatte in Sachen "Lovemobil" (u.a. Altpapier von Mittwoch) geht weiter. Die wichtigste Meldung in dem Kontext: Die Regisseurin Elke Lehrenkrauss hat den Deutschen Dokumentarfilmpreis zurückgegeben, wie man unter anderem beim SWR nachlesen kann, der diesen Preis vergibt. "Mir ist klar, dass ich die entstandene Frustration und Enttäuschung bei Preisgebern, Juror*innen und Kolleg*innen damit nicht rückgängig machen kann. Das bedauere ich sehr. Ich entschuldige mich in aller Form bei allen Beteiligten, sowie allen Zuschauer*innen", sagt Lehrenkrauss. Die FR fragt in einem meinungsstarken, aber ohne Autorennamensnennung auskommenden Beitrag: "In jedem Fall führt uns dieser Film ein Dilemma der gegenwärtigen Dokumentarfilmkultur vor Augen: Warum wünschen sich Fernsehredaktionen und Festivals Dokumentarfilme, die aussehen wie Spielfilme?". Ich habe mich für Zeit Online ebenfalls mit dem Thema befasst.

+++ Dass das ZDF nach einem Urteil eines Berufungsgerichts in  Krakau eine Entschuldigung veröffentlichen soll, weil sein History-Gassenhauer "Unsere Mütter, unsere Väter" die "Persönlichkeitsrechte von polnischen Partisanen verletzt" habe, "indem er ihren Verband als antisemitische Organisation" beschrieb - das kommentiert der Spiegel. Willi Winkler nimmt in der SZ das Urteil zum Anlass, sich noch einmal mit der ideologischen Botschaft des Dreiteilers zu befassen: "Es ist die bewährte Schicksalserzählung, dass die lieben jungen Menschen in den Mahlstrom der Geschichte geraten. Selbst wenn sie Juden verraten, sind sie doch nicht so schlimme Schurken wie die SS-Männer, die in eingespielter Weise böse SS-Männer spielen. Das erste Opfer des Krieges, daran ließ die Ufa-Produktion keinen Zweifel, waren die Deutschen gewesen." Man fragt sich aber, wie Winkler darauf kommt, dass es bei der Erstausstrahlung nicht zu "größeren Diskussionen gekommen" sei.

+++ Beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) scheint die Portokasse gut gefüllt zu sein - jedenfalls gut genug, um einen Anwalt einer mindestens weltberühmten Berliner Medienrechtskanzlei dafür zu bezahlen, Anfragen von Journalisten zu beantworten. Der investigative Sportpolitikjournalist Jens Weinreich dokumentiert die freundlichen Antworten, die er von einem der Top-top-top-top-Juristen dieser Kanzlei erhalten hat: "Unsere Mandantschaft beantwortet regelmäßig auch kritische Fragen der Presse, soweit mit einer journalistisch objektiven Berichterstattung zu rechnen ist", schreibt der Anwalt unter anderem. Und: "Insbesondere die jüngste Vergangenheit (zeigt), dass mit einer sachorientierten und objektiven Berichterstattung durch Sie nicht zu rechnen ist." Zur Frage, was die Praxis des DOSB für den Journalismus bedeutet, siehe diesen Weinreich-Thread.

+++ An dieser Stelle lange nichts gelesen über die vermaledeite, Z-Wort-lastige Ausgabe der WDR-Show "Die letzte Instanz" (Altpapier)? Susanne Regener greift für Geschichte der Gegenwart einen Aspekt auf, der "erstaunlicherweise völlig unberücksichtigt blieb in dieser Debatte: die rassifizierende Dimension von Unterhaltung", nämlich "die Belustigung auf Kosten anderer". Die Teilnehme der Sendung hätten "Sint:izze und Rom:nja zu Objekten der Unterhaltung" gemacht, und dafür gebe es historische Vorbilder.

+++ WDR (II): Ich habe für die Medienkorrespondenz über das Scheitern der Beschwerdestelledes WDR geschrieben, die anhand eines Übermedien-Textes bereits Thema im Altpapier war. Mein Eindruck: "Der WDR ist nicht in der Lage oder vielleicht auch gar nicht willens, Konflikte auf eine friedliche und für alle Beteiligten gesichtswahrende Lösung beizulegen." Spoiler: Süffig ist der Text nicht!
 

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

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