Das Altpapier am 29. Juni 2022: Porträt des Altpapier-Autoren René Martens
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Das Altpapier am 29. Juni 2022 Mehr Moral wagen

29. Juni 2022, 10:38 Uhr

Inwiefern ist es heute noch vorstellbar, dass Journalisten, wie einst beim Geiseldrama von Gladbeck, zu Akteuren eines Verbrechens werden? Was sind das eigentlich für Menschen, die unentwegt gegen den "Moralismus", "Moral-Eliten" u.ä. zu Felde ziehen? Ein Altpapier von René Martens.

Karikatur des rasenden Reporters

Die Netflix-Dokumentation "Gladbeck. Das Geiseldrama" kam im Altpapier bisher nur zweimal relativ kurz vor, unter anderem gab es rund eine Woche nach dem Start einen Überblick über die ersten Rezensionen. Angesichts dessen, dass es zumindest in Deutschland bis zum Ende des Jahres wahrscheinlich keinen weiteren Film geben wird, der derart ausführlich Medienkritik vermittelt, ist es erfreulich, dass sich jetzt noch einmal ein Anlass bietet, umfänglich auf das Thema einzugehen.

Dieser Anlass ist der mit rund 15.000 Zeichen m.W. bisher längste Text zur "Gladbeck"-Doku. Simon Sahner hat ihn für "54 books" (€) geschrieben. Zum Stichwort Medienkritik muss man an dieser Stelle vielleicht noch einmal kurz betonen, dass der Film ausschließlich aus Archivmaterial besteht, Medienkritik hier also durch die Auswahl der Bilder und ihrer Montage stattfindet - mit der zusätzlichen Besonderheit, dass der Film "allein aus den Bildern besteht, die deren Protagonisten selbst erzeugt haben", wie Sahner es formuliert.

Über unsere Kolleginnen und Kollegen von 1988 schreibt er:

"Die Aufnahmen, die mehr über die Presseleute vor und hinter der Kamera aussagen als über die Täter*innen, weisen darauf hin, wie schal der heilige Ernst der journalistischen Pflichterfüllung ist, der im Habitus der Reporter*innen und Fotograf*innen mitschwingt. Ihre Aufgabe ist per se die Berichterstattung, ihr Verhalten macht sie vor allem selbst zu Hauptfiguren. Da ist Peter Meyer, damals Fotograf der Agentur AP, der aus nächster Nähe Hans-Jürgen Rösner fotografiert, ihn posieren lässt, sich angeregt mit ihm unterhält und dann aufgeregt berichtet, was Rösner fordert, dabei immer wieder grinsen muss. Da ist ein Mann mit dunklen Haaren und Schnurrbart im weißen T-Shirt, der Rösner höflich Feuer gibt – 'Mach mal die Hand davor', bittet Rösner, er tut wie geheißen – und sich kurz darauf selbst von dem Geiselnehmer die Zigarette anzünden lässt. Da sind all die Kameramänner und Reporter*innen, die Rösner umringen, ihn sich nicht nur inszenieren lassen, (…), sondern ihn selbst stellenweise dirigieren und ihn vor allem reden lassen (…) In den Gesichtern der Reporter*innen offenbart sich eine Begeisterung für das in diesem Moment entstehende Material, die beim Betrachten der Bilder kaum zu ertragen ist (…)."

Zu den von Sahner namentlich kritisierten Journalisten gehört neben dem Fotografen Meyer auch Carola Krause, damals Moderatorin der Regionalsendung "buten und binnen" bei Radio Bremen:

"Die Reporter*innen mittendrin statt nur dabei oder wie es (…) Krause ausdrückt: 'Das aufsehenerregende Geiseldrama von Gladbeck ist keineswegs zu Ende, besonders nicht für uns, im Gegenteil, denn heute kamen die Gangster nach Bremen.' Der Ton und die Aussage lassen die Täter*innen fast wie eine Attraktion erscheinen, die nun auch die eigene Stadt erreicht hat."

Das Fazit des Autors:

"Aus der zeitlichen Entfernung von über dreißig Jahren wirken nicht nur Rösner, Degowski und Löblich in diesen Aufnahmen manchmal wie Darsteller*innen der Verbrecher*innen und Mörder*innen, die sie wirklich waren, sondern auch die Akteure der Presse scheinen wie Menschen, die in diesem Moment eine Karikatur vom rasenden Reporter leben. Sie wirken wie Berichterstatter*innen, die unvorbereitet in einem Kriegsgebiet abgesetzt wurden, die keine Erfahrung mit gefährlichen Situationen haben, die in Rösner, Degowski und Löblich vor allem die Figuren einer Story sehen, die es zu beobachten und voranzutreiben gilt."

Zwar wären so einem Journalisten-Verhalten heute zumindest legale Grenzen gesetzt, weil kurz nach dem Geiseldrama beschlossen wurde, dass es fortan verboten ist, Interviews mit Personen zu führen, die gerade eine Straftat begehen. Und "eigenmächtige Vermittlungsversuche", wie es am Ende des Films heißt, sind auch nicht mehr erlaubt. Dennoch stellt sich die Frage: Inwiefern sind zumindest Teile des Quasi-Selbstverständnis "als Akteure in einem Verbrechen" (Sahner) und die Haltung, Gangster in gewisser Weise als Lieferanten von Material zu sehen, das man selbst weiter verarbeitet, weiterhin verbreitet?

Das letzte Gefecht der "Boring old farts"

"Für mich gibt’s kein Arbeiten und auch keine Moral und so 'ne Scherze", hören wir Geiselnehmer Hans-Jürgen Rösner in der Netflix-Dokumentation unter anderem sagen, was uns hier mal als hemdsärmeliger Übergang zum nächsten großen Themenblock dienen soll.

Der "Spiegel" hat gerade mit dem Schriftsteller und Journalisten Jörg-Uwe Albig über sein Buch "Moralophobia" gesprochen (€). Worum es in dem Buch geht - darüber hatte der Autor bereits am Wochenende in einem Essay für die "Spiegel"-Druckausgabe (€) geschrieben, in dem er Thesen aus seinem Buch aufgreift:

"Schon länger sieht es aus, als wäre das Wort 'Moral' in weiten Kreisen zum Fluch verkommen, zur Beleidigung, zum five-letter word. Als wäre die Ethik zum Ekelobjekt geworden, etwas, das man nur ungern anfassen möchte, ein Gegenstand des Abscheus oder der Phobien, wie Spinnen oder Clowns."

Im Interview fragt ihn Arno Frank nun:

"Was war denn der Anlass für dieses Buch? Ein Ärger?"

Albig antwortet:

"Eher ein Wundern. Ich habe plötzlich lauter Feuilleton-Beiträge gelesen gegen die 'Moralisierung der Politik', gegen die 'Moralkeule', die 'Moral-Eliten', gegen 'Moralismus' oder ganz altmodisch gegen 'Gutmenschen'. Ich habe entsprechende Breitseiten von Politikern gehört – aus dem ganzen Spektrum: die AfD sowieso mit ihren Plakaten gegen die 'Moraldiktatur', aber auch von Leuten wie Wagenknecht oder Spahn, von Lindner, Thierse oder Kretschmann (…) Das hat mich erstaunt, weil ich Moral als etwas grundsätzlich Positives abgespeichert hatte."

In einer Passage des Gesprächs geht es um die Frage, was 1968 von heute unterscheidet:

"Gibt es nicht auch ein Zuviel an Moral? Wenn etwa eine Musikerin von 'Fridays For Future' ausgeladen wird, weil sie Dreadlocks trägt? Es gab eine Zeit, da war Frisurkritik doch ein beliebtes Spiel reaktionärer Kräfte",

sagt Frank. Woraufhin Albig entgegnet:

"Damals ging es aber nicht um Moral. Da hieß es: 'Lange Haare sind weibisch' oder 'Was sollen die Nachbarn denken?'. Die Ausladung dieser Musikerin folgte aber dem moralischen Argument, dass man niemanden verletzen soll – in diesem Fall marginalisierte Menschen, die Dreadlocks tragen, um sich gegen ihre Unterdrückung symbolisch zur Wehr zu setzen."

Auf die Frage des Interviewers, ob hier "nicht eine Freiheit, für die die Achtundsechziger gekämpft haben, in ihr Gegenteil" kippe, sagt Albig:

"1968 ging es um persönliche Freiheit, sexuelle Selbstbestimmung, die Verfügung über den eigenen Körper und das eigene Leben. Das ging nur die Individuen selbst etwas an. Wenn aber heutige Moralfeinde gegen Tempolimits kämpfen, für das Recht, ungebeten Frauen anzugrapschen oder Geflüchtete im Mittelmeer ertrinken zu lassen, geht es um das Leben anderer Leute, dessen Beschädigung sie dabei in Kauf nehmen."

Wie sind jene, die man in Abwandlung einer ihrer langjährigen Lieblingsbegriffe vielleicht Schlechtmenschen nennen könnte, soziologisch einzuordnen? In seinem Essay greift Albig auf den Begriff "Boring old farts" zurück, den einst Punks benutzten - als Schlagwort, um jene zu beschreiben, gegen die man angetreten war. Um es maximal plakativ zu sagen: Die "Boring old farts" waren 1977/78 ungefähr das, was heute die "alten weißen Männer" sind. Wobei zur Pointe gehört, dass einige derer, die früher gegen "Boring old farts" gewettert haben, nun alte Fürze geworden sind. Albig schreibt:

"(Es) sind (…) nicht die Statuseinbußen, die den Moralskeptiker antreiben, sein Machtverlust in der Gesellschaft – sondern die schwindende Macht über sich selbst (…) Irgendwann schaut der Mensch in den besten Jahren sehnsüchtig zurück auf die besseren. Er ist nicht mehr der Abgehängte der Geschichte, sondern seiner eigenen Biografie. An diesen Endstationen der Sehnsucht treffen sich dann der alt gewordene Junge Wilde, der Kolumnist mit der immer spitzeren Feder und der immer flacheren Karrierekurve, der einst als subversiver Frechdachs gefeierte Pop-Philosoph, dessen Frechheiten seit seiner Emeritierung von der Technischen Universität in Clausthal-Zellerfeld sich immer mehr denen seines ungeliebten Onkels Günther beim Grillfest annähern. Aber wer wäre er, wenn er sich von diesem Kretin seinen Humor wegnehmen lassen würde?"

Neben einer aktuellen Einordnung nimmt Albig auch eine historische vor, etwa in einem weiteren auf dem Buch basierenden Essay, der in der Juni-Ausgabe von "Geo" (Blendle-Link) erschienen ist:

"Jeder Fortschritt hat seine Maschinenstürmer – zornige Beharrer wie die englischen 'Ludditen', von der Industrialisierung überrollte Handwerker, die im 18. und 19. Jahrhundert in gerechtem Zorn Wollschermaschinen, Strumpfwirkstühle und mechanische Sägemühlen zertrümmerten. Die Anti-Moralisten sind so etwas wie die Ludditen des Zivilisationsprozesses – immer in Gefahr, mitsamt dem verhassten Spinnapparat das ganze Stadtviertel abzufackeln. Der Prozess der Zivilisation kennt viele solcher Trotzigen, Überforderten, Zurückgelassenen, die sich mit raptoreskem Furor ihrer eigenen Überholtheit entgegenstemmen."

Womit dann auch klar wird, weshalb Albig vor wenigen Tagen im SWR-2-Magazin "Lesenswert" auf die Frage des Moderators, ob "Mehr Moral wagen" die Devise der Stunde sein müsste, sagte:

"Ja, sonst fliegt uns der ganze Laden hier um die Ohren."


Altpapierkorb (Streik in Frankreich, die finanziellen Perspektiven von Arte, die möglicherweise nicht mehr zeitgemäße Trennung von Werk und Autor, Feindbild Journalist, "Comeback der Nato?")

+++ Gegen die Absicht der französischen Regierung, die Öffentlich-Rechtlichen nicht mehr durch den Rundfunkbeitrag zu finanzieren, sondern mit Steuermitteln (siehe dazu ausführlich diesen rund zwei Wochen alten "Faktenfinder"-Beitrag) haben "Beschäftigte öffentlich-rechtlicher Sender am Dienstag mit einem Streik (…) protestiert", berichtet u.a. das Redaktionsnetzwerk Deutschland via dpa. Nach Ansicht der Streikenden führe die Umstellung der Finanzierung "zu einer Verarmung der Fernseh- und Radiosender".

+++ Was diese "Verarmung" für den deutsch-französischen Sender Arte bedeuten würde - unter anderem darum geht es in einem Interview, das die "Süddeutsche Zeitung" (€) mit Claudia Tronnier, der Filmchefin des Senders, geführt hat: "Arte wird von deutscher und französischer Seite paritätisch finanziert. Wenn eine Seite, also die französische, weniger einbringt, müsste sich die deutsche Seite anpassen und ebenfalls weniger Geld geben. Die Statuten sehen vor, dass beide Gesellschafter gleich viel Geld in den Sender geben."

+++ Die Auseinandersetzung um die geschlechterpolitischen Thesen der Schriftstellerin Joanne K. Rowling ab 2019 (Altpapier) nimmt Johannes Franzen in der aktuellen Ausgabe seines Newsletters "Kultur & Kontroverse" zum Anlass, die "Trennung von Werk und Autor", also einer der "etablierten Dogmen der Literaturwissenschaft", in Frage zu stellen: "Leser:innen nutzten die digitale Öffentlichkeit, um sich und das geliebte Werk von der ungeliebten Autorin zu distanzieren (…) Die Fans der Harry-Potter-Bücher wurden mit der schmerzhaften Erkenntnis konfrontiert, dass die Erfinderin ihres geliebten fiktionalen Universums in einem extremen politischen Widerspruch zu ihnen stand. Diese Erfahrung, die sich in einer massenhaften Performanz schockierter Entgeisterung zum Ausdruck brachte, kann durch den etablierten Verweis darauf, dass man zwischen Werk und Autor trennen muss, nicht befriedet werden. Ereignisse wie der Konflikt zwischen Rowling und ihren Fans zeigen, wie stark es sich bei dieser Trennung um eine Vorschrift handelt, Teil einer präskriptiven Theorie, die mit der Realität der Rezeption oft wenig zu tun hat."

+++ Dass die Polizei in Deutschland Journalistinnen und Journalisten allzu oft als Feinde betrachtet, ist seit 2020 am Rande zahlreicher Demonstrationen gegen die Corona-Politik deutlich geworden. Amerikanische Kolleginnen und Kollegen, die über den Massenmord an einer Grundschule in Uvalde, Texas berichten wollten, haben nun in einem anderen Kontext ähnliche Erfahrungen gemacht. "The police were not letting us work. We were seen as enemies”, sagte ein Fotograf gegenüber der "Washington Post". Diese schreibt weiter: "A month after 19 children and two educators were killed at Robb Elementary School, a picture is emerging of a disastrous police response (…) But journalists who have flocked to Uvalde, Tex., from across the country to tell that story have faced near-constant interference, intimidation and stonewalling from some of the same authorities (…) Journalists have been (…) barred from public meetings and refused basic information about what police did during the May 24 attack."

+++ Die "Süddeutsche" bespricht die ZDF-Dokumentation "Comeback der Nato?", die in der Nacht zu Donnerstag im linearen Programm läuft. Das ZDF habe "als erstes TV-Team im Nato-Archiv drehen" dürfen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Donnerstag.

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