Nutztiere Wenn kein Tierarzt mehr da ist

16. Oktober 2023, 14:18 Uhr

Es gibt immer weniger Nutztierärzte, doch Nachwuchs ist kaum in Sicht: Die Arbeit in der Nutztierhaltung ist hart und körperlich anstrengend. Wie kann dieses Problem gelöst werden?

In Schwarz und Weiß stehen fünf Kühe vor Klaus-Ulrich Dressel. Der Tierarzt führt eine Nachuntersuchung durch, streift einen langen Gummihandschuh über. Vor wenigen Wochen haben die Tiere Kälber geboren. Es ist Alltag in einem Milchviehbetrieb im Norden Sachsen-Anhalts für den Tierarzt. In der Altmark ist Dressel seit 35 Jahren fürs große Vieh unterwegs - doch es ist kaum Nachwuchs in Sicht.

Dressel ist 62, in wenigen Jahren will er in Rente gehen. Aktuell betreut er 15 Milchkuhbetriebe mit rund 8.000 Rindern. Hinzu kommt: "Zum Jahresende gehen zwei Kollegen in Rente und zwei werden die große Praxis zum Jahresende auf null fahren und nur noch Kleintiere machen", beschreibt Dressel die Situation in der Altmark. "Es sind weniger Nachfolger im Nutztierbereich als aufhören."

Binnen zehn Jahren nahm in Sachsen-Anhalt die Zahl der niedergelassenen Nutztierärzte um rund 37 Prozent ab, und damit stärker als der Rinderbestand. Im gleichen Zeitraum sank auch die Zahl der Tierärzte, die sowohl Klein- als auch Großtiere behandeln, um ungefähr 15 Prozent. Im Gegenzug stieg die Zahl der Tierärzte, die ausschließlich Kleintiere behandeln: um rund 33 Prozent.

Lieber Hund und Katze als Kuh und Schwein?

Momentan übernehmen Dressel und seine Kollegen noch Betriebe, wo Tierärzte aufhören. Doch lange könne man das nicht mehr kompensieren. Dann befürchtet nicht nur er, dass es zu Versorgungsengpässen kommt. "Für uns ist das ein Riesenproblem", sagt Marko Kapahnke, der den Stall leitet, in dem Dressel die Kühe untersucht hat. Keiner wolle mehr große Tier behandeln. "Und einen neuen Tierarzt zu finden oder zu begeistern, ist sehr schwer."

Aber warum wollen immer weniger Tierärzte in den Nutztierbereich? Laut einer Studie können sich mehr Studierende aus dem ländlichen Raum vorstellen, im Nutztierbereich zu arbeiten. Doch das ist eine Minderheit, viele Studierende kommen aus der Stadt. Des Weiteren: Vergangenes Jahr waren deutschlandweit fast 90 Prozent der Studienanfänger Frauen. Sie gehen nach dem Studium vor allem in den Kleintierbereich.

Alexander Starke leitet die Klauentierklinik. Die Tierklinik an der Universität Leipzig ist eine von fünf veterinärmedizinischen Fakultäten in Deutschland und die einzige in Mitteldeutschland. Professor Starke macht die Erfahrung, dass viele Studierende die Arbeitsbedingungen in der Kleintierpraxis bevorzugen. Zudem hätten Nutztierpraxen oft einen Standortnachteil.

Unsere jungen Absolventen wollen einfach eine Familie gründen. Die wollen eine Möglichkeit zur Kinderbetreuung und die wollen geregelte Arbeitszeiten.

Alexander Starke Professor an der Klinik für Klauentiere in Leipzig

"Nutztierpraxen sind meist in ländlichen Regionen. Da sind teilweise leider Bedingungen, die es jungen Leuten unattraktiv machen, die vielleicht aus der Stadt kommen, aufs Land zu gehen", sagt Starke. Dabei gehe es um Infrastruktur, wie Kinderbetreuung oder Kultur. "Unsere jungen Absolventen wollen einfach eine Familie gründen. Die wollen eine Möglichkeit zur Kinderbetreuung und die wollen geregelte Arbeitszeiten."

Tierarzt arbeitet 60 Stunden pro Woche plus Wochenende

Geregelte Arbeitszeiten funktionieren besonders gut in der Kleintierpraxis, wo es feste Öffnungszeiten gibt und die Kunden zu einem kommen. Tierärzte wie Klaus-Ulrich Dressel hingegen müssen bei Wind und Wetter raus, bei Notfällen auch nachts. Seine Arbeitszeiten: "Ich würde mal sagen: zwölf Stunden am Tag mindestens", sagt er. Das sind unter der Woche bereits 60 Stunden - und dazu kämen noch die Wochenenden.

Ein Mann steht am Gatter mit einem Rind.
Tierarzt Klaus-Ulrich Dressel arbeitet mindestens zwölf Stunden am Tag. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Als selbstständiger Tierarzt ist er für seine 15 Höfe und 8.000 Rinder rund um die Uhr verfügbar. "Wenn eine Kuh nicht kalben kann in der Nacht, da kann der Landwirt nicht mit der Kuh irgendwo in eine Klinik fahren", so Dressel. Da müsse er dann zum Betrieb von seiner Praxis aus Kalbe hinfahren.

So geht der Trend bei den Tierärzten zum Angestelltenverhältnis statt der eigenen Praxis. Wie Dressel 60 Stunden und mehr zu arbeiten, kommt für viele junge Tierärzte nicht mehr infrage. Das belegen auch Zahlen der Bundestierärztekammer. Waren deutschlandweit 2010 rund 32 Prozent der praktizierenden Tierärzte angestellt, sind es 2022 bereits 47,6 Prozent.

Denn im Durchschnitt beträgt laut einer Studie die wöchentliche Arbeitszeit bei selbstständigen Tierärztinnen und Tierärzte 50 Stunden. Die durchschnittliche Arbeitszeit der angestellten Tierärztinnen und Tierärzte liegt bei 35 Stunden. Die geringere Stundenanzahl fehlt dann aber auch bei der Versorgung der Tiere.

Wie man Nachwuchs begeistern kann

Wie man es trotzdem schafft, den Nachwuchs für den Nutztierbereich zu gewinnen, zeigt eine Landpraxis für große und kleine Tiere im sächsischen Naundorf. Vor sechs Jahren übernahm Ines Leidel die Praxis von ihrem Vater. Neben Hund und Katze betreut das dortige Ärzteteam acht Milchviehhöfe sowie 30 kleinere landwirtschaftliche Betriebe. Sechs der sieben angestellten Tierärzte teilen sich die Arbeit am großen Vieh.

Eine Frau steht im Kuhstall.
Grit Kopke ist angestellte Tierärztin und kann so auch in Teilzeit arbeiten. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Eine davon ist Grit Kopke: Sie ist bereits seit sechs Jahren in der Praxis angestellt. Vor einem Jahr ist sie Mutter geworden. Aktuell arbeitet sie deshalb 20 Stunden in der Woche. "Gerade für junge Frauen, die Familienplanung anstreben, denke ich, ist es schon ein ziemliches Must-have, so was anzubieten", sagt die junge Frau. Doch das tun nur wenige Großtierpraxen.

Die Möglichkeit, in Teilzeit arbeiten zu können, war für Kopke ausschlaggebend, im Nutztierbereich zu bleiben. "Auch, dass sich die Arbeit durch unsere vielen Angestellten auf mehrere Schultern aufteilt und wir auch einen geregelten Nacht- und Notdienst haben, was für jeden umsetzbar ist." Hinzu kommt, dass Naundorf eine gute Autobahnanbindung hat - ein Standortvorteil. Vier Angestellte pendeln aus der nahen Großstadt aufs Land.

Was passiert, wenn es keine Lösung gibt

In unmittelbarer Nähe zur Altmark gibt es keine Großstadt. Dort schaut Klaus-Ulrich Dressel auf dem Weg zum nächsten Betrieb noch bei einem seiner Kleinkunden vorbei: Dieter Teek hält vier Dexter-Rinder aus Irland: "Ich halte die als reines Hobby und bearbeite die auch züchterisch", sagt der Rentner und schaut in das Gatter mit den vier schwarzen Tieren.

Wenn die Dichte der Nutztierpraxen weiter sinkt und die Wege länger werden, fallen nach Einschätzung des Tierarztes künftig Kleinkunden wie Dieter Teek als Erstes hinten runter. "Zeit ist Geld. Das sind die Ersten, die Probleme kriegen, eine adäquate vernünftige Versorgung ihrer Tiere gewährleistet zu bekommen", so Dressel.

Und dann fällt eben die Entscheidung, die Milchkühe abzuschaffen.

Klaus-Ulrich Dressel Tierarzt

Um den drohenden Tierärztemangel zu bekämpfen, müssen die Hochschulen mehr Tierärzte ausbilden, findet der Präsident der Tierärztekammer Sachsen-Anhalt, Wolfgang Gaede. Zwar würden weiterhin viele eine kleine Praxis in der Stadt eröffnen. "Aber die Zahl wäre einfach größer." So wären insgesamt mehr Tierärzte da. "Aber Hochschulausbildung kostet den Staat viel Geld. Und es ist die Frage, wer das Geld herbeizaubert."

MDR Investigativ fragt beim für die Universität Leipzig zuständigen sächsischen Wissenschaftsministerium nach. Die Antwort: "Im Bereich der veterinärmedizinischen Ausbildung geht es in Sachsen vor allem darum, […] die Zahl der angebotenen Studienplätze zu sichern, […] sodass es derzeit keine Pläne gibt, das Studienplatzangebot auszuweiten."

Es könnten harte Zeiten für Landwirte anbrechen, wenn seine Generation in den Ruhestand, befürchtet Tierarzt Dressel: "Es wird ja zumindest für den Tierbesitzer sehr schwierig, seine Tiere adäquat versorgen zu können. Und dann fällt eben die Entscheidung, die Milchkühe abzuschaffen."

Quelle: MDR Investigativ

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 11. Oktober 2023 | 20:15 Uhr

1 Kommentar

NochJemand vor 28 Wochen

Ich sehe eher einen Wertewechsel. Wer sich entschließt, Veterinär zu werden, hat heutzutage eine andere Haltung gegenüber Tieren als früher.

Tiere als bloße Ressource, als Nutzmaterial, das funktional und effizient gehalten werden soll, das war früher. Heute begreifen immer mehr Menschen das Tier als Lebewesen, das fühlt und denkt und einen Anspruch auf angst- und schmerzfreies, artgerechtes Dasein hat. Das ist in der Agrarindustrie mit ihrer Massentierhaltung aber nicht möglich. Die ohnehin rüde Haltung gegenüber den "Nutztieren" wird auch noch verschärft, weil bekanntlich viele Veterinäre einfach wegsehen, wo sie eigentlich schlimme Tierquälerei anprangern sollten.

Wer es ethisch nicht vertreten kann, der Massentierhaltung zuzuarbeiten, der wird eben Tierarzt für Haustiere wie Katze und Hund. Sehr verständlich.

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