Sahra Wagenknecht
Sahra Wagenknecht polarisiert – auch innerhalb der eigenen Partei. Bildrechte: imago images/Jan Huebner

Unter der Lupe – die politische Kolumne Die Linke bröselt und bröselt – aber zerfällt nicht

18. September 2022, 05:00 Uhr

Vor drei Monaten beschwor die Linkspartei auf dem Parteitag in Erfurt ihre Geschlossenheit. Nun fliegen in der Partei wieder die Fetzen. Wieder ist ein Auftritt von Sahra Wagenknecht der Auslöser. Zwar ist das Tuch zwischen ihr und großen Teilen der Partei längst bis auf einen letzten Faden zerschnitten. Doch beide Seiten wagen nicht den letzten Schritt, analysiert Hauptstadtkorrespondent Tim Herden.

  • Eine Spaltung der Partei wäre politischer Selbstmord
  • Der Grundkonflikt schwelt: Anpassung oder Opposition?
  • In der Partei stehen sich ein traditioneller Markenkern und ein neues Grundverständnis der Jungen gegenüber.

Eigentlich ist es immer wieder die gleiche Geschichte, der Streit in der Partei mit und um Sahra Wagenknecht. Dieses Mal war es ihr letzter Auftritt im Bundestag. Mit scharfer Polemik hatte sie dort erst Wirtschaftsminister Habeck für unfähig erklärt und dann noch die Sanktionen gegen Russland gegeißelt.

Ulrich Schneider, Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, gab nach dieser Rede sein Parteibuch zurück. Drei Genossinnen, Henriette Quade, Katharina König-Preuss und Juliane Nagel, wollen bleiben, aber dass Wagenknecht geht oder gegangen wird. In einem offenen Brief fordern sie deren Ausschluss aus der Fraktion und wenn möglich auch aus der Partei. Sie wüssten um die möglichen Konsequenzen. Wissen sie es wirklich?

Forderung nach dem Ausschluss könnte zur Spaltung der Fraktion führen

Offenbar gehen die drei Genossinnen davon aus, dass Wagenknecht, ähnlich wie einst Frauke Petry bei der AfD, nach ihrem Ausscheiden aus Partei und Fraktion allein auf einem Stuhl hinter den letzten Reihen des Parlaments Platz nimmt. Was aber, wenn, wie viele in Berlin vermuten, mit Sahra Wagenknecht noch andere Abgeordnete die Fraktion verlassen?

Es gibt einige Fraktionsmitglieder, die Wagenknechts Position stützen, wie Klaus Ernst oder Sevim Dagdelen. Dann gäbe es zwei Gruppen der Linkspartei im Bundestag. Eine kleine und eine größere. Die Konsequenz für beide: weniger Geld, weniger Mitarbeiter, weniger Redezeit, weniger Aufmerksamkeit. Es wäre politischer Selbstmord, den die drei Genossinnen in Kauf nehmen wollen. Nicht mehr und nicht weniger.

Kritik auch an Fraktionsspitze

Die drei Genossinnen wollen gleich den großen Schnitt: Auch das Fraktionsvorsitzenden-Duo, Amira Mohamed Ali und Dietmar Bartsch, soll gehen. Immerhin haben die beiden Wagenknechts Auftritt zugestimmt. Und wer soll dann die Fraktion führen? Man staunt ohnehin, dass sich die beiden dieses permanente Chaos in der Fraktion, gepaart mit unbändigem Hass zwischen den Mitgliedern, immer noch geben.

Wie sagte Gregor Gysi auf dem Göttinger Parteitag vor zehn Jahren: "Hass ist nicht zu leiten." Und was sollten die beiden gegen Wagenknecht tun? Redeverbot? Sich das Manuskript zur Korrektur vorlegen lassen und auf Verstöße gegen die Parteibeschlüsse überprüfen? Es gibt in Deutschland kein imperatives Mandat. Abgeordnete sind allein ihrem Gewissen verpflichtet, aber nicht den Parteibeschlüssen.

Im Osten beliebt, bei vielen Parteigenossen nicht

Andererseits muss sich auch Sahra Wagenknecht fragen, wie weit sie die Entfremdung von ihrer Fraktion und Partei treiben will. Getragen wird sie zwar immer noch vom Renommee der letzten Aufrechten bei vielen Mitgliedern in Osten. Bei den Umfragen ist sie die populärste und einzige Linken-Politikerin. Aber ist es noch ihre Partei?

Vor wenigen Jahren versuchte sie mit "Aufstehen" eine politische Bewegung neben und auch gegen die Partei auf die Beine zu stellen. Im letzten Jahr rechnete sie in dem Buch "Die Selbstgerechten" mit den Funktionären der eigenen Partei ab. Ein Bestseller. Aber für ein Parteimitglied gewagt. So etwas schreibt man nach dem Austritt, oder wenn man sich dazu entschieden hat.

Anpassung oder Opposition – Konflikt über Jahrzehnte nicht gelöst

Das Grundproblem der Partei: Über Jahrzehnte sind grundlegende Konflikte nicht gelöst worden. Vielmehr sind sie von der PDS nach der Vereinigung mit der WASG in der Linkspartei fortgeschrieben worden. Dabei geht es um die Frage, wie die Linke mit ihrem Markenkern, dem Kampf um soziale Gerechtigkeit, umgeht. Wie erreicht sie dieses Ziel? Durch politischen Pragmatismus und Anpassung oder durch Opposition? In diesen Auseinandersetzungen spielte Sahra Wagenknecht immer eine wichtige Rolle.

In den 1990er-Jahren wollten Bartsch und Gysi durch Tolerierungen oder Regierungsbeteiligungen ihre ostdeutsche Gefolgschaft aus der Rolle der politischen Outlaws durch das schwere Erbe der SED herausholen. Wagenknecht, damals Mitglied der kommunistischen Plattform, fürchtete dagegen, in Regierungsverantwortung zu viele Kompromisse gegen die eigene Überzeugung schließen zu müssen.

Nach der Vereinigung mit der WASG fand Wagenknecht in Oskar Lafontaine als neuem Parteichef einen Mitstreiter. Er wollte, wie sie, mit den Protesten gegen Hartz IV den linken Markenkern bewahren. Ihnen stellten sich die sogenannten Reformer entgegen. Sie glaubten, als Minister in ostdeutschen Landesregierungen Hartz IV abschwächen zu können und mussten dann doch durchsetzen, wogegen sie protestiert hatten.

Illusionen gibt es auf beiden Seiten

Nun gibt es eine deutliche Verjüngung der Mitgliedschaft. Diese neuen Mitglieder definieren soziale Gerechtigkeit nicht nur als Kampf um höhere Löhne, bezahlbare Mieten und gegen sozialen Abstieg, wie es noch Sahra Wagenknecht in der Tradition der ehemaligen Arbeiterparteien tut.

Für die Jungen ist Gerechtigkeit die Gleichberechtigung ethnischer, sexueller und sozialer Minderheiten und Gruppen. Damit wurde die Partei theoretisch passfähiger für Koalitionen mit Grünen und SPD auf Bundesebene. Praktisch ging die Rechnung bisher nicht auf. Sahra Wagenknecht sieht dieses Scheitern als Beweis für ihre politische Strategie, den Markenkern soziale Gerechtigkeit als traditionelle Arbeiterpartei zu bewahren. Nur gibt es das dazugehörige proletarische Bewusstsein in ihrer Zielgruppe längst nicht mehr. 

Mehr Hass, schlechtere Umfragewerte

Kompromisse zwischen beiden Seiten waren schon früher – aber nun erst recht – nicht möglich. Stattdessen tobt der Streit, wächst der Hass, verliert man dabei das Politische aus den Augen, sinken die Umfragewerte und alles zusammen ermüdet die Öffentlichkeit und auch viele Parteimitglieder, die sich in Kommunal- und Landesparlamenten, also an der Basis, für eine Verbesserung von Lebensverhältnissen einsetzen.

Vor wenigen Tagen hat der ehemalige Finanzexperte Fabio De Masi seiner Partei Folgendes hinterlassen: "Ich möchte nicht mehr in Verantwortung für das eklatante Versagen der maßgeblichen Akteure in dieser Partei in Verantwortung genommen werden, die eine große Mehrheit der Bevölkerung im Stich lassen, die eine Partei brauchen, die sich für soziale Gerechtigkeit und Diplomatie überzeugend engagiert."

Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | MDR AKTUELL | 15. September 2022 | 06:00 Uhr

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