Franckesche Stiftungen 5 min
Vor über 300 Jahren entstand in Halle das Konzept einer anschaulich erklärenden Schule – der Realschule. Die neue Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zeigt, wie das damals gelang. Bildrechte: imago/Steffen Schellhorn
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Vor über 300 Jahren entstand in Halle das Konzept einer anschaulich erklärenden Schule – der Realschule. Die neue Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen zeigt, wie das damals gelang. Von Anne Sailer.

MDR KULTUR - Das Radio Sa 23.03.2024 08:10Uhr 04:33 min

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Ausstellung "Total real. Die Entdeckung der Anschaulichkeit" Wie um 1700 in Halle die Realschule erfunden wurde

22. März 2024, 16:33 Uhr

Um 1700 entwarfen die Theologen und Pädagogen August Hermann Francke und Christoph Semler die Schule neu. Semler baute in einer Werkstatt Modelle, die zeigten, wie Maschinen funktionierten, wie Architektur gelang oder wie man sich das Weltall vorstellte. Im damals brandenburgisch-preußischen Halle entstand eine innovative Schule – die Grundlage der Realschule. Die "Anschaulichkeit" und die neuen Lehrmethoden stehen im Mittelpunkt der Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Halle, die am Samstag startet.

  • Die Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen Halle zeigt den Beginn innovativen Lernens um 1700.
  • Im Mittelpunkt der Schau steht die wertvolle Sammlung der ersten Unterrichtsmodelle aus der Werkstatt des Theologen, Astronomen und Pädagogen Christoph Semler.
  • Die Modelle machen auch noch heute Inhalte für die Schülerinnen und Schüler mit allen Sinnen begreifbar.

"Begreifen", also mit allen Sinnen erfassen und verstehen, das war ein neuer Lehransatz. Mit Experimenten, Exkursionen und Handfertigkeit schufen die beiden Pädagogen und Theologen August Hermann Francke und Christoph Semler um 1700 damit eine neuartige Schule in Halle.

Hier wurde nicht nur gebüffelt, die Kinder sollten mit allen Sinne lernen, fühlen, riechen, sehen und schmecken. "Anschaulichkeit" war das neue pädagogische Zauberwort. Damit sollte dem Nachwuchs das wachsende naturkundliche und technische Wissen jener Zeit mittels realer Dinge nachhaltig und vergnüglich nahegebracht werden. Ein moderner Ansatz, der an Aktualität nichts eingebüßt hat.

Zwei Hände mit weißen Handschuhen blättern in einem wertvollen historischen Buch.
Kurator Tom Gärtig präsentiert die Gründungsurkunde der ersten Realschule in Halle durch Christoph Semler. Damit wurden die Grundlagen für das Realschulwesen in Deutschland gelegt. Daneben ein Objekt, eine Uhr, aus der Werkstatt Semlers, der für Unterrichtszwecke Materialien anfertigte. Bildrechte: Anne Sailer

Christoph Semler legte mit seinen Schriften die Grundlage für das deutsche Realschulwesen heute. Landkarten, Skelette, Modelle von Maschinen, jede Menge Experimentiermöglichkeiten – all das bot die Schule in den Franckeschen Stiftungen ihren Schülerinnen und Schülern bereits damals. Damit ist die einzige europäische Wunderkammer des Barock, die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen, derzeit auch nicht vollständig. Viele Objekte sind bis Februar 2025 in der Jahresausstellung zu sehen.

Das Skelett eines Schäferhundes aus dem 19. Jahrhundert steht in einer Vitrine
Anhand des Skelettes eines Hundes konnten die Schüler bereits damals sehen, wie Wesen von innen aussehen. Bildrechte: Anne Sailer

Die Lehrwelt der Franckeschen Stiftungen aus der Werkstatt von Christoph Semler

Wertvolle Museumsstücke in der Ausstellung sind Leihgaben aus anderen Museen, berichtet der Kurator der Ausstellung, Tom Gärtig. So kann man sich eine zerlegbare Mumie aus dem Deutsche Hygiene-Museum Dresden ansehen. Es gibt Bootsmodelle, Lederstücke zum Anfassen. Ein Fachwerkhaus, bestehend nur aus dem Holzgerippe, ist ebenso zu sehen wie die kleinste Drechselmaschine der Welt.

Total Real - Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen Halle 3 min
Bildrechte: Anne Sailer

Daneben stehen filigrane Drechselarbeiten, die wahrscheinlich vor Jahrhunderten von Schülern der Franckeschen Stiftungen im Unterricht geschaffen wurden. Das wertvollste Stück der Ausstellung ist jedoch Gottfried Wilhelm Leibniz' Rechenmaschine von 1673.

Eine goldene Maschine steht in einer Glasvitrine. Eine Kurbel bringt den komplizierten Mechanismus in Gang. Dies ist eine Rechenmaschine aus dem 17. Jahrhuntert.
Der Nachbau von Gottfried Wilhelm Leibniz' Rechenmaschine aus dem Jahr 1673 kommt aus dem größten Computermuseum der Welt in Paderborn. Sie ist das wertvollste Stück der Ausstellung. Bildrechte: Anne Sailer

Die neue Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen hat fünf Themenräume. Im "Observatorium" ist es richtig dunkel. Dieser Raum widmet sich astronomischen Themen. Diese waren bereits zur damaligen Zeit enorm wichtig für die Gelehrten. Gezeigt werden optische Geräte, Messinstrumente und Vorrichtungen, die das Universum im Kleinen nachbilden sollten. Da Francke und Semler nicht nur Gelehrte, sondern auch Theologen waren, lehrten sie daher, wie Gott die Welt eingerichtet habe.

Eines von weltweit nur noch fünf Tellurien

Das Tellurium ist eine spezielle Planetenmaschine. Das Besondere an dem Ausstellungsstück des Museums Bautzen ist, dass es eine Mechanik besitzt, die wie ein Uhrwerk funktioniert und das Miniuniversum zum Laufen bringt. Leider kann das in der Ausstellung nicht vorgeführt werden. Eindrucksvoll ist es trotzdem und verschafft den Besuchern eine Vorstellung davon, was für ausgeklügelte Anschauungsobjekte es bereits Mitte des 17. Jahrhunderts gab.

Durch ein beleuchtetes rundes Fenster in einer schwarzen Wand ist ein Modell unseres Universums zu sehen.
Mechanisches Tellurium: Dieses Modell aus dem Jahre 1634, eine Leihgabe des Museums Bautzen, erklärt anschaulich den Lauf der Gestirne. Bildrechte: Anne Sailer

Die neue Jahresausstellung in den Franckeschen Stiftungen will natürlich nichts beschönigen. So wurden beispielsweise in der Experimentalphysik Maschinen verwendet, die bei heutiger Benutzung den Tierschutz alarmieren würden. Bei der Untersuchung des Elementes Luft kam eine so genannte Vakuumpumpe zum Einsatz. Im frühen 18. Jahrhundert hielt man den Kopf eines Tier in die Glasglocke und pumpte aus dieser Luft hinaus. Die Schülerinnen und Schüler beobachteten, wie das Leben aus dem Tier wich. Kurz vor dem Verenden wurde dem Tier dann wieder Luft zugeführt. Auch August Hermann Francke führte solche Experimente mit Hunden und Katzen durch.

Eine hölzerne Pumpe mit einer Glasglocke liegt in einer Museumsvitirine. Mit dem Pumpmechanismus konnte Luft aus dem daran befestigten Glasbehälter gepumpt werden.
Experimentelle Physik bedeutete damals, auch mit lebendigen Tieren zu arbeiten. Sie wurden unter eine Glasglocke gesteckt. Via Pumpe wurde dann Luft aus der Glocke gepumpt. Bildrechte: Anne Sailer

Wir leben in einer posthaptischen Zeit.

Holger Zaunstöck, Leiter der Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen Halle

"Wir leben in einer posthaptischen Zeit", konstatiert Holger Zaunstöck. Er ist der Forschungsleiter an den Franckeschen Stiftungen. Diesen Ausdruck habe man bei der Erarbeitung der Jahresausstellung "Total real. Die Entdeckung der Anschaulichkeit" eigens geprägt. Deswegen wagt diese am Ende des Rundgangs auch einen Blick in die Zukunft.

August Hermann Francke und seine Frau Anna Magdalena werden da unter anderem durch eine KI zum Leben erweckt. Gleichzeitig wird den Besuchern bewusst gemacht: Ohne die nötige Haptik und den Einsatz aller Sinne lernt es sich schwer. Erreicht die Ausstellung mit dieser Aussage Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrerinnen und Lehrer, ist viel geschafft.

Ein Mann steht vor einer Ausstellungststafel und einer runden Vitrine, in dem ein Modell des Universums zu sehen ist
Holger Zaunstöck, Leiter der Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen in Halle Bildrechte: Anne Sailer

Informationen zur Ausstellung

"Total real. Die Entdeckung der Anschaulichkeit"
Jahresausstellung 2024 der Franckeschen Stiftungen
Franckeplatz 1, 06110 Halle (Saale)
Haus 1 – Historisches Waisenhaus

23. März 2024 bis 2. Februar 2025

Öffnungszeiten:
Dienstag bis Sonntag, 10 bis 17 Uhr

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 23. März 2024 | 08:40 Uhr

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