Harald Horvath, Nicoline Schubert, Marian Kindermann, die drei Schauspieler lehnen an Teilen der Bühne (eine Taverne und eine Straßenlaterne) und schauen direkt in die Kamera
Auf der Bühne findet eine Party statt - zwischen Drogen, Geprahle und Lügen ergessen die dreißigjährigen Ichs ihre Gegenwart. Bildrechte: Falk Wenzel

Bühne Rave und Selbstfindung: "Wasted" am Neuen Theater Halle

20. Oktober 2023, 11:01 Uhr

"Wasted" - zu Deutsch "Verschwendet" - hat am Neuen Theater Halle seine Premiere gefeiert. Geschrieben hat es Kae Tempest, eine englische nicht-binäre kunstschaffende Person, den Text ins Deutsche übertragen hat Judith Holofernes. Unter der Regie von Krzysztof Minkowski war der Premierenabend laut unserem Kritiker Matthias Schmidt jedoch das Gegenteil von verschwendet - auch, weil die große Musikalität des vorgetragenen Textes etwas ganz Besonderes ist. Eine Inszenierung, welche die Fragen einer ganzen Generation aufgreift.

  • In "Wasted" hadern drei junge Menschen mit ihrem Lebensweg - unterstrichen mit besonderer Musikalität.
  • Das Stück des polnischen Regisseurs Krzysztof Minkowski behandelt universelle Themen einer jungen Generation.
  • Eine sehr gelungene Bühne und gute schauspielerische Leistungen, findet unser Kritiker Matthias Schmidt.

Manchmal muss man einfach mit dem Fazit beginnen. Es lautet: Wie schön, dass das neue hallesche Schauspielteam dieses Stück von Kae Tempest aus dem Jahr 2013 entdeckt und auf den Spielplan gesetzt hat! Zu erleben sind 75 Minuten frisches, freches, ernstes, trauriges und humorvolles Theater. Im Grunde ist, was Kae Tempest schreibt, mehr als "nur" Theater. Jahrgang 1985 und seit 2019 eine nichtbinäre Person, ist Tempest erfolgreich nicht nur als Dramatiker*in, sondern auch mit Lyrik, Rap und Performances. All das steckt auch in dieser Inszenierung in der Kammerbühne des Theaters.

Kae Tempest
Kae Temepst begann mit 21 Jahren an Poetry Slams teilzunehmen. Im Jahr 2021 erhielt Tempest dann bei der Biennale di Venezia den Silbernen Löwen in der Theatersparte. Bildrechte: IMAGO / Matteo Gribaudi

Zwischen Rave und Rap, Pop und Poesie

In "Wasted" geht es um drei junge Leute aus London, die sich zehn Jahre nach dem Tod eines Freundes wiedertreffen - um zu gedenken, um sich an ihn zu erinnern. Was dann geschieht, ist aber etwas ganz anderes: Sie ziehen persönlich Bilanz. Was ist aus ihnen selbst geworden, was aus den Träumen von damals? Sie dürften Kae Tempests Jahrgang sein, also um die 30 Jahre alt, und richtig glücklich ist keiner von ihnen geworden. Sie hadern mit ihrem Berufsalltag als Lehrerin oder Buchhalter. Der dritte will Rockstar werden, aber schafft den Durchbruch nicht. Sie dabei zu begleiten, ist einfach wunderbar.

Harald Horvath, Nicoline Schubert, Marian Kindermann, die drei Schauspieler stehen eng bei einander, sehen schockiert aus und haben die Köpfe beieinander
Die drei Schauspieler*innen Harald Horvath, Nicoline Schubert und Marian Kindermann verkörpern drei junge Menschen. Bildrechte: Falk Wenzel

Von Anfang an ist die große Musikalität des Textes spürbar. Rave-Musik läuft, als die drei Schauspieler ihre Texte zu sprechen beginnen. Doch schnell wechseln sie in eine Art Rap. Die Texte haben einen Rhythmus, man erkennt streckenweise, dass sie wie Gedichte geschrieben sind. In einer bildstarken Sprache, die der Gegenwartsdramatik leider oft fehlt. Das ist Literatur! Teilweise ist sie auch derb und obszön, die Sprache der Straße, die Sprache von jungen Leuten in der Metropole London. Zugleich ist das ganze Stück kunstvoll und poetisch.

Universelle Themen einer jüngeren Generation

Inszeniert hat den Abend der polnische Regisseur Krzysztof Minkowski, der auch bereits mit mehreren Arbeiten am Theater Magdeburg zu erleben war. Er bettet diese Tempest-Sprache, auch die Dialoge, in eine Musikcollage ein, welche die jeweilige Stimmung unterstreicht. Da gibt es ekstatische Momente und emotionale Momente, bedrückende und heitere - der ganze Abend ist eine gut durchkomponierte Achterbahn der Gefühle.

Die Bühne ist in einer blauen Farbe erleuchet, zwei Schauspieler schreien sich wütend an.
Am zehnten Todestag des vierten Freundes Tony treffen sich Ted, Charlotte und Danny wieder. Bildrechte: Falk Wenzel

Was die drei jungen Leute in London beschäftigt, sind universelle Fragen. Das erinnert an die junge britische Dramatik der späten 90er-Jahre. Zum Beispiel an Sarah Kane, die zwar dunkler und böser war (aber mit "Blasted", auf Deutsch "Zerbombt", sogar ein ähnlich klingendes Stück geschrieben hat). Oder an Mark Ravenhills "Shoppen und Ficken", ein Erfolgsstück um die Jahrtausendwende. Was sie mit Tempest verbindet, ist die Sinnsuche einer jüngeren Generation. Die Fragen, die sich die drei Personen im Stück stellen, hat sich fast jeder schon gestellt: Was habe ich erreicht? Bin ich zufrieden? Habe ich noch Träume? Oder groß gefragt: Bin ich glücklich? An diese Fragen kann jeder andocken, ob in London oder Leuna.

Die Bühne als Sinnbild: Atemlos an der Laterne

Harald Horvath spielt Ted den Buchhalter, der sich beruflich ebenso langweilt wie in seiner Partnerschaft. Er sagt einmal sinngemäß: Warum kann man nicht glücklich sein mit dem, was man hat? Marian Kindermann, im Stück ein erfolgloser Musiker, ergänzt: Wenn wir alle sein könnten, was wir sein wollen, dann wären hier doch alle Rockstars, oder? Schließlich Nicoline Schubert, die eine frustrierte Lehrerin gibt: Sie schmeißt alles hin, sie kündigt. Sie will einfach mal wegfliegen für ein paar Jahre, weil sie feststellt, dass sie noch nicht einmal auf der anderen Seite des Flusses war. Diese drei spielen den emotionalen Ritt auf der Rasierklinge souverän und sich dabei wirklich verausgabend.

Ein Sinnbild ist auch die Bühne. In ihrer Mitte steht ein leicht in die Jahre gekommener englischer Klinkerbau, eine Kneipe namens "Dream Tavern". Vor der Taverne: eine Laterne. Da tanzen und suchen sie also, die drei jungen Leute, bei der Laterne, nur viel wilder als einst Lili Marleen. Eine gelungene Bühne, sie teilweise sehr intensiv bespielt wird, regelrecht aufgeputscht. Sicher auch, weil oft Drogen im Spiel sind. Manchmal vielleicht etwas zu hysterisch (starke Texte werden durch mehr Lautstärke nicht immer besser).

Die Schauspielerin scheint sich zu drehen, ihre Haare fliegen, hinter ihr ist die Bühne mit einem großen Gesicht in scwarz-weiß beleuchtet.
Im Stück werden berauscht Pläne geschmiedet und Entscheidungen für die Zukunft gefällt. Bildrechte: Falk Wenzel

Aber letztlich geht das Konzept auf, am Stück und komprimiert die verschiedensten Emotionen erlebbar zu machen. Zu diesen Emotionen zählt auch Humor - es wird viel gelacht, vielleicht auch, weil man sich in bestimmten Szenen wiedererkennt. Sogar eine Liebesgeschichte hat noch Platz in diesem atemlosen Stück, dessen Besuch das Gegenteil von "verschwendeter Zeit" ist. Im Grunde wie bei den drei Figuren, Charlotte, Ted und Dan. Auch sie bemerken schließlich, dass ihr Leben so "Wasted", wie sie am Anfang dachten, bisher gar nicht war.

"Wasted" ("Verschwendet") von Kae Tempest, aus dem Englischen von Judith Holofernes
Regie: Krzysztof Minkowski

neues theater
Große Ulrichstraße 51, 06108 Halle (Saale)

Termine:
20. Oktober um 20 Uhr (nt-Kammer)
22. Oktober um 18 Uhr (nt-Kammer)
12. November um 18 Uhr (nt-Kammer)
25. November um 20 Uhr (nt-Kammer)
26. November um 20 Uhr (nt-Kammer)
16. Dezember um 20 Uhr (nt-Kammer)
17. Dezember um 20 Uhr (nt-Kammer)

Redaktionelle Bearbeitung: as

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 20. Oktober 2023 | 08:40 Uhr

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