Ein Mann steht vor einem Taxi und blickt in die Kamera.
Taxi-Fahrer Daniel Waclawczyk erlebte das Halle-Attentat hautnah. Bildrechte: MDR/Simon Köppl

Werkstatt in Wiedersdorf Auge in Auge mit dem Halle-Attentäter: Dieser Taxifahrer verfolgte Stephan B.

21. Juni 2020, 08:00 Uhr

Den 9. Oktober 2019 wird Daniel Waclawczyk wohl nie vergessen. Eigentlich wollte er Winterreifen wechseln, als ihm Halle-Attentäter Stephan B. das Taxi klaute. Eine Begegnung mit Folgen. Daniel Waclawczyk nahm die Verfolgung auf. Im anstehenden Prozess ist er Nebenkläger.

Daniel Waclawczyk wartet mit seinem Taxi am Reileck in Halle. Der 41-jährige ist Chef einer Taxi-Firma. Sieben Fahrzeuge gehören ihm. In einem der Autos versucht der Halle-Attentäter Stephan B. im Oktober 2019, in Wiedersdorf vor der Polizei zu flüchten. Davor hatte er vergebens versucht, einen Anschlag auf die jüdische Synagoge in Halle zu verüben. Auf seiner Flucht erschoss B. zwei Menschen und verletzte zwei weitere schwer.

In Wiedersdorf im Saalekreis lässt Waclawczyk seine Autos von Werkstatt-Chef Kai H. reparieren. Am 9. Oktober 2019, dem Tag des Anschlags, sind Waclawczyk und sein Bruder mit zwei Fahrzeugen vor Ort. Die Winterreifen sollen aufgezogen werden.

Ein Knall, als wäre eine Leiter umgefallen

Gegen 13 Uhr hören sie einen Knall, können das Geräusch aber nicht zu ordnen. "Da hat Kai noch gesagt: 'Vielleicht ist ne Leiter umgefallen oder irgendwas'. Kurz danach haben wir auch undeutliche Rufe gehört. Im Nachhinein wussten wir, dass es Hilferufe waren", erinnert sich Waclawczyk. Die beiden schauen raus auf die Straße, sehen aber niemanden und gehen wieder in die Werkstatt.

Kurz darauf wird Daniel von seinem Bruder nach draußen gerufen. Da sei jemand, der ein Taxi wolle. Daniels erster Eindruck von Stephan B. ist wenig überzeugend: "Im ersten Augenblick habe ich ihn überhaupt nicht für voll genommen. Als Taxikunden oder generell. Er war liederlich angezogen und hatte 'ne Wunde am Hals."

"Ich habe schon zwei Leute angeschossen"

Daniel erinnert sich, dass B. ganz ruhig auftritt, geradezu höflich. Er sagt: "Ich bin ein gesuchter Schwerverbrecher, ich brauche ein Taxi." Daniel weist darauf hin, dass sie gerade die Räder machen, er solle doch einfach den Bus nehmen. Doch Stephan B. lässt nicht locker. "Ich will nicht dasselbe machen, wie ich mit euren Nachbarn gemacht hab. Ich habe schon zwei Leute angeschossen. In dem Moment sagt Kai zu mir: 'Daniel, der hat eine Waffe.' Und erst da ist mir bewusst geworden, dass der uns eine Waffe vorgehalten hatte." 

Daniels Bruder hatte einen der beiden Wagen direkt vor den Werkstatteingang gefahren, um die Reifen leichter verladen zu können. "Und da habe ich dann nur noch gesagt: Ja, aber das Auto, was jetzt direkt vor der Einfahrt steht, nimmst du nicht. Das ist relativ neu. Du nimmst das da hinten an der Bushaltestelle. Da hat er mich nur gefragt, ob das vollgetankt ist und ob das überhaupt fährt. Ich sage: Ja, das ist vollgetankt, natürlich."

"Gebt mir bitte noch zehn Minuten Zeit"

Daniel übergibt Stephan B. den Autoschlüssel, der greift in seine Hosentasche und will ihm 50 Euro geben. Daraufhin sagt Daniel nur: "Nimm dein Geld und verschwinde." Stephan B. lässt auf der Straße noch mal 50 Euro fallen und macht ein paar Schritte Richtung Auto. "Dann hat er gesagt: Ich weiß, ihr ruft so oder so die Polizei. Aber gebt mir bitte noch zehn Minuten Zeit."

Die Männer verschanzen sich im Werkstattbüro, während B. anscheinend Probleme hat, das Taxi mit Automatikschaltung zu starten. Er fährt noch mal an der Werkstatt vorbei und ist verschwunden.

Du hast null Gefühle gehabt in dem Moment. Du hast da weder Angst, du bist da nicht aufgeregt. Uns kam auch nicht in den Sinn, den zu überwältigen oder irgendwas, weil das machst du nicht, wenn du mit 'ner Waffe bedroht wirst. Also warum wir so ruhig geblieben sind, keine Ahnung. Das war wahrscheinlich auch unser Glück.

Daniel Waclawczyk Taxiunternehmer aus Halle

Während sich Kai um seine angeschossenen Nachbarn kümmert, fasst Daniel einen tollkühnen Plan. Er lässt sich von seinem Bruder dessen Taxi geben und fährt Stephan B. hinterher. "Ich verdiene mit dem Auto mein Geld und wollte einfach nur wissen, wo fährt er mit dem Auto hin? Die Polizei kommt hier nicht innerhalb von fünf Minuten her, im normalen Fall." Mit Hilfe eine App, die in den Taxis als Fahrtenschreiber dient, kann Daniel das gestohlene Taxi und Stephan B. orten. Er ist auf dem Weg nach Wiedemar, Richtung A9. Daniel fährt hinterher.  

Kurz vor der Autobahnauffahrt in Wiedemar trifft er auf einen Polizeiposten. Aber die Beamten halten noch nach dem alten Fluchtfahrzeug Ausschau. Von dem Punkt ist die Autobahn nicht einsichtig. Ist der Stephan B. Richtung Berlin oder Richtung München geflüchtet? Die Ortung funktioniert nicht mehr. Das Handy im Taxi hat B. aus dem Fenster geworfen. Der Täter ist entkommen. Waclawczyk zündet sich erstmal eine Zigarette an und überlegt.

Karte mit der chronologischen Abfolge des Terroranschlags in Halle
Bildrechte: MDR/Manuel Mohr

Autohersteller ortet den Attentäter

"Wenn du jetzt einen Unfall hast oder in einen Straßengraben fährst oder vor einen Baum, geht ja auch so ein SOS-Signal an die Zentrale von Mercedes-Benz." Mit etwas Überredungskunst – der Dienst ist nicht offiziell freigeschaltet – lässt sich Daniel den Standort geben. Da ist Stephan B. gerade an der Abfahrt Weißenfels. Dort auf der B91 nimmt die Polizei ihn fest.

Waclawczyk erhält sein Taxi zurück. Bei dem Unfall entstand ein Schaden am Scheinwerfer und an der Karosserie in Höhe von 14.000 Euro. Die Versicherung zahlt anstandslos. Doch für die Ermittlungen lässt die Polizei das Navigationsgerät ausbauen. Ohne ist das Fahrzeug nicht einsatzfähig. Als es um die Erstattung der Kosten geht, schieben LKA und BKA die Rechnungen hin und her. Am Ende zahlt der Generalbundesanwalt. Dadurch kann Daniel Waclawczyk das Taxi fast zwei Monate nicht einsetzen und fordert eine Entschädigung.

Attentäter soll die "richtige Strafe" bekommen

Deshalb ist er auch Nebenkläger beim Prozess gegen Stephan B. "Also wichtig ist uns, dass er die richtige Strafe bekommt und das auch die Familien von den zwei Getöteten ihr Recht durchsetzen können. Ja und alle anderen, die da involviert waren in diesem Verbrechen, dass denen einfach Genüge getan wird. Und dann hoffe ich natürlich, dass ich meinen wirtschaftlichen Schaden ersetzt kriege irgendwann", so Waclawczyk.

Hätte er sich anders verhalten, wenn er gewusst hätte, was Stephan. B. in Halle angerichtet hat? Diese Frage beschäftigt ihn noch heute. Sie wird ihm wieder durch den Kopf gehen, wenn am 21. Juli in Magdeburg der Prozess gegen Stephan B. beginnt. Bis dahin ist Daniel Waclawczyk weiterhin mit seinem Taxi in Halle unterwegs. Seine Heimatstadt ist seit dem 9. Oktober nicht mehr dieselbe.

Über den Autor Simon Köppl stammt aus Sachsen, aber da ist es ja nach Sachsen-Anhalt nicht weit. Er hat Soziologie und Kommunikationswissenschaften in Dresden und Leipzig studiert. Nach seinem Studium hat er beim MDR in Leipzig ein Volontariat gemacht. Dabei hat er seinen Abschlussfilm über einen Grafikdesigner aus Dessau-Rosslau gemacht und ist dem Bundesland treu geblieben. Für MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er regelmäßig als Fernsehreporter an Themen aus Politik, Kultur und Gesellschaft.

Als sächsisches Elbkind freut er sich, dass die Elbe auch durch Magdeburg fließt. Die hat er gut im Blick beim regelmäßigen Joggen durch den Stadtpark. Ansonsten mag er die Weite der Altmark und den Käsekuchen aus Quedlinburg.

Quelle: MDR/ld

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 20. Juni 2020 | 19:00 Uhr

4 Kommentare

Haller am 22.06.2020

Vier Panzersoldaten waren es, lange ist es her.

Daniel Waclawczyk; Einzelunternehmer?
Statt der rührenden Geschichte wäre etwas von der Polizeiarbeit in Wiedersdorf zu erfahren wünschenswerter.

jenser am 21.06.2020

Wieder mal typisch für dieses bürokratische Deutschland.Der kleine Mann überführt waghalsig einen Straftäter.Und was macht die Justiz?Sie lassen ihn im Knast vermeintlich beinahe flüchten.Und als Krönung wird dann ein Verantwortlicher(garantiert mit einem guten Gehalt)in den einstweiligen Ruhestand versetzt.Ohne Worte wie krank dieser Staat ist.

otto7 am 20.06.2020

Das ist ja eine rührende Story. Warum ist der Held dieser Geschichte nicht darauf gekommen sofort!! Den Polizei-Notruf zu wählen?. Was soll das private Rumgejuckel.. Kann ich überhaupt nicht verstehen.

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