Zwei Kolleginnen sprechen sich miteinander ab. Sie halten einen Handschuh.
Kleine und mittelständische Unternehmen brauchen Aufklärung, was es für Vorteile hat, Menschen mit Behinderung einzustellen. Laut Matthias Morfeld von der Hochschule Magdeburg-Stendal müssten mehr Anreize für einen inklusiven Arbeitsmarkt geschaffen werden. Bildrechte: MDR/Maximilian Fürstenberg

Experte im Interview Werkstätten für Menschen mit Behinderung abschaffen?! – Die Vision vom inklusiven Arbeitsmarkt

25. Juni 2023, 14:00 Uhr

Die UN-Behindertenrechtskonvention sieht einen inklusiven Arbeitsmarkt vor. Werkstätten für Menschen mit Behinderung sind eigentlich das glatte Gegenteil. Sollte man sie deshalb abschaffen? Nicht unbedingt, sagt ein Experte. Wichtig sei vor allem, dass kleine und mittelständische Unternehmen stärker mit den Vorteilen konfrontiert werden, die die Anstellung von Beschäftigten mit Behinderung hat. Ein Interview.

Deutschland hat im Jahr 2009 der UN-Behindertenrechtskonvention zugestimmt. Sie schreibt vor, dass Menschen mit Behinderung eine selbst gewählte Teilhabe an der Gesellschaft und das Erarbeiten eines Lebensunterhalts zusteht. Werkstätten für Menschen mit Behinderung werden kritisiert, weil sie dem eher exklusiv entgegenstehen. Im Juni 2023 wurde ein weiteres Gesetz verabschiedet – das Gesetz für einen inklusiven Arbeitsmarkt.

Behindertenwerkstätten vor der Abschaffung?

Die Folge: Werkstätten könnten dadurch sogar abgeschafft werden. Doch was dann? Matthias Morfeld von Hochschule Magdeburg-Stendal erklärt im Interview mit MDR SACHSEN-ANHALT, was es für einen inklusiven Arbeitsmarkt braucht.

MDR SACHSEN-ANHALT: Herr Morfeld, an der Hochschule Magdeburg-Stendal lehren Sie im Bereich der Rehabilitationspsychologie unter dem Schwerpunkt Sozialpolitik und Sozialrecht. Sind Werkstätten für Menschen mit Behinderung Ihrer Meinung nach rechtens?

Matthias Morfeld: Wenn wir auf die ganz klassische deutsche Verwaltungs- und Rechtssituation schauen, dann sind Werkstätten natürlich fest etabliert. Sie tauchen im Sozialgesetzbuch auf und ihre Aufgaben sind fest definiert. Sie haben vor dem rechtlichen Hintergrund absolut ihre Berechtigung.

Ein Mann lächelt in die Kamera.
Matthias Morfeld lehrt Rehabilitationspsychologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Für ihn ist klar: Es muss ein inklusiver Arbeitsmarkt geschaffen werden. Bildrechte: MDR/Matthias Morfeld

Wenn wir den Blick weiten und auf internationales Recht schauen, dann wird die Sache brisanter: Wir gehen davon aus, dass die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ganz deutlich das Recht auf Teilhabe und Partizipation für alle Menschen mit und ohne Behinderung zum Ziel hat. Das "Institut für Menschenrechte" in Berlin hat die Aufgabe übernommen, den Umsetzungsstand zu monitoren. Von dort heißt es dann auch, dass das Ziel sein muss, exklusive Einrichtungen – zu denen auch die Werkstätten gehören – abzuschaffen. Das kann man natürlich als politische Forderung nehmen.

Welche Rolle spielt an dieser Stelle der Arbeitsmarkt? Wer ist bereit, Menschen mit Behinderungen einzustellen?

Das Problem werden nicht große Firmen wie Intel in Magdeburg sein. Von denen habe ich die große Hoffnung, dass sie die Fantasie und Weitsicht haben, ihre Firmen nicht nur ökologisch und digital, sondern auch inklusiv zu begreifen.

Wir müssen den Arbeitsmarkt der kleinen und mittelständischen Unternehmen sehen, denn die kennen zum Teil die ganzen Fördermechanismen nicht. Sprich: Was es an Unterstützung geben würde, wenn ich jemanden mit einer Schwerbehinderung einstelle.

Das bedeutet natürlich auch, dass wir da in der Verantwortung sind, gemeinsam kreative Lösungen zu finden. Also, möglichst ausreichend Arbeitsplätze für möglichst viele Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt aus den Werkstätten zu finden. Wir brauchen Lösungen aus einer Hand und die gehören politisch diskutiert und vor allem unter Einbezug mit Menschen mit Behinderung.

Nehmen wir mal an, es käme zu einer Abschaffung der Werkstätten: Welche Vor- und Nachteile hätte das Ganze dann?

Hier geht es um Bildung und freizuwählende Arbeitsplätze. Wir bringen Menschen vor dem Hintergrund der Inklusion und der Selbstbestimmung alle auf Augenhöhe. Nachteile sind auch klar: Wir haben in den vergangenen Jahrzehnten riesige Investitionen getätigt in die Werkstätten. Das sind ja kleine Städtchen für sich, die ein unglaublich großes Know-how angesammelt haben in Bezug auf Pädagogik und Integration. Das kann natürlich auch genutzt werden für eine inklusive Welt.

Wir brauchen jetzt erstmal etwas, das zwischen der Exklusivität einer Werkstatt und dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegt. Also, etwas, das auf das Leistungsvermögen von Menschen mit Behinderungen ganz konkret Rücksicht nimmt.

Matthias Morfeld Dozent Hochschule Magdeburg Stendal

Was hier aber auf keinen Fall passieren darf, wenn wir anfangen würden das System der Werkstätten von Hundert auf Null abzuschaffen. Wir brauchen jetzt erstmal etwas, das zwischen der Exklusivität einer Werkstatt und dem allgemeinen Arbeitsmarkt liegt. Also, etwas, das auf das Leistungsvermögen von Menschen mit Behinderungen ganz konkret Rücksicht nimmt. Ähnlich ist es mit der Diskussion über einen gleichen Lohn für die Vier-Tage-Woche – kann man das nicht weiterdenken? Gäbe es nicht etwas an das Leistungsvermögen angepasstes für Menschen mit Behinderung aus den Werkstätten?

Was müsste da passieren, dass so viele wie möglich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt kommen und nicht zu Hause sitzen und Däumchen drehen, wenn es keine Werkstatt mehr gibt?

Das wäre eine mittlere bis große Katastrophe. Es wäre vielleicht gut, in einer definierten Region anzufangen und kleine und mittelständische Unternehmen zu beraten, ob sie die Möglichkeiten kennen, wenn sie Menschen mit einer Behinderung einstellen.

Ich bin auch der festen Überzeugung, dass Arbeitsplätze entstehen können, vor allem auch für Menschen, die kein einhundertprozentiges Leistungsvermögen haben. Für die können bestimmt auch neue Aufgaben gefunden werden. Wir müssen uns nur umschauen: Wir haben einen Notstand in der Pflege, der Gastronomie und im Baugewerbe. Wir müssen da innovativ anfangen und abgespeckte Berufsfelder entwickeln.

Der Leitspruch Sachsen-Anhalts in der Inklusion ist: "Einfach machen". Das sollten wir tun und dann gucken, was passiert und schauen, wo gibt es Reibung und wo nicht. Wir wollen ja nicht schon wieder ein Sondersystem schaffen, sondern wir wollen ein System entwickeln und darüber nachdenken, was alle Menschen auf einer Höhe glücklich macht.

Wenn das System der Werkstätten – sagen wir mal – langsam heruntergefahren werden soll, wäre da ein Mindestlohn in den Werkstätten ein Anfang?

Mindestlohn ist wichtig, aber wenn ich in den Werkstätten den Mindestlohn bezahle, hat das immer noch nicht den Aufbruch eines exklusiven Systems zur Folge. Es ist immer noch ein geschützter Raum, in dem gearbeitet wird, nur diesmal mit dem Unterschied des Mindestlohns. Ich glaube, das würde die Diskussion erheblich verkürzen und würde sie auch nicht in die Richtung bringen, in die wir eigentlich hinwollen – nämlich den inklusiven Arbeitsmarkt.

Damit das aber funktioniert, muss mit dem Thema Inklusion schon in den Bereichen von Kita, Schule und Hort angefangen werden.

Matthias Morfeld Dozent Hochschule Magdeburg-Stendal

Damit das aber funktioniert, muss mit dem Thema Inklusion schon in den Bereichen von Kita, Schule und Hort angefangen werden. Aktuell haben wir natürlich eine Generation in den Werkstätten, die sich beschützt und gesichert fühlt. Sie empfinden etwas außerhalb der Werkstatt unter Umständen als bedrohlich.

Dieses Denken ist natürlich etabliert und das macht etwas mit den Menschen. Sozialisierte Ideen, Gedanken und Lebensstile aufzubrechen, ist eine Herkulesaufgabe und meistens in einer Generation gar nicht zu erledigen. Das ist ein Systemwechsel und der dauert lange und ist aufwendig.

Vielen Dank für das Gespräch, Herr Morfeld.

Die Fragen stellte Maximilian Fürstenberg.

Ein junger Mann im Rollstuhl 17 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

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MDR (Maximilian Fürstenberg)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 25. Juni 2023 | 19:00 Uhr

4 Kommentare

kleinerfrontkaempfer vor 46 Wochen

Im Durchschnitt erwirtschaften WfbM 25% des Gewinns durch eigene Produktion/Fertigung. Der Rest ist Förderung/Zuschuß. Wichtig dabei sind auch die Ausgleichsabgaben die Betriebe bei Nichtbeschäftigung von menschen mit Handicap zahlen. Kann bei evtl. Auftragserteilung an WfbM gegengerechnet werden. Also ein finanzielles System das es in sich hat.
Bei einigen 100tausend Menschen mit Handicap wird die Umsetzung in "normale" Produktionsverhältnisse nicht klappen in diesem land.
Es bereitet ja schon Schwierigkeiten Frauen auskömmliche Vollzeitarbeit zu schaffen. Oder Menschen mit Langzeitarbeitslosigkeit, ohne Schul/Berufsabschlüsse einzugliedern. Statt dessen Geschrei zum "Fach/Arbeitskräftemangel". Die WfbM werden weiter bestehen. Was hier abläuft ist Pseudodebatte. Wie man es kennt, landauf-landab.

Seniorin erinnert sich vor 46 Wochen

I Have a Dream [Martin Luther King, die er am 28. August 1963]

Aktuell fühlen sich Generation Besondere in geschützten Werkstätten, statlich beschützt. Denen würde Welt zusammen brechen wenn sie sich in freier Wirtschaft bewerben sollten. Das wär psychisch kathastrophal und nicht machbar. Denkbar dagegen die nächste Generation vorbereiten und gleichzeitig Klein- und Mittelständische Unternehmen die Fördermittel offenzulegen, damit Inklusion ermöglicht wird. Betreutes Wohnen sollte Beibehalten werden und der Erfahrungsaustausch untereinander hilft wie die psychologischer Austausch aktueller Assistenten mit den Unternehmen was wie gestantet werden kann um Inklusion Wirklichkeit werden zu lassen, wird es Jahre dauern.

hilflos vor 46 Wochen

Ich kann mir nur in den seltensten Fällen eine Wettbewerbsfähigkeit dieser Werkstätten vorstellen. Zumal oft bauliche Voraussetzungen, wie Barrierefreiheit, zusätzliche Betreuung der Menschen usw Voraussetzungen sind und somit auch auf der Kostenseite zu Buche stehen.
Ja, aber dann ist es eben so. Man stelle sich vor, dass für Waffenlieferungen und -geschenke unendlich viel Geld vorhanden ist, da sollten die Mittel für diese wichtigen Einrichtungen sicher und dauerhaft verfügbar sein.

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