V.l.n.r.: Jules Armana, Lukas Franke und Susan Ihlenfeld in einer Spielszene im Stück "Das große Heft" am Theater der Altmark in Stendal 7 min
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Am Theater der Altmark in Stendal sollte am Samstag Premiere sein: Brecht-Enkelin Johanna Schall inszenierte "Das große Heft". Doch nach der Pause kam es zum Abbruch. Wolfgang Schilling über einen dramatischen Abend.

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"Das große Heft" Echtes Drama in Stendal: Wie ein bewegender Theater-Abend plötzlich endete

28. Januar 2024, 16:42 Uhr

Am Theater der Altmark in Stendal erlebte das Publikum am Samstagabend eine bewegende Aufführung. Johanna Schall, Enkelin von Bertolt Brecht und Helene Weigel, brachte ein Stück auf die Bühne, das zeigt, was der Krieg aus Menschen macht: "Das große Heft" nach dem gleichnamigen Roman von Agota Kristóf. Doch nach der Pause kam es zum Abbruch der Premiere. Intendantin Dorotty Szalma teilte sichtlich erschüttert mit, drei Schauspieler seien mit schweren Verätzungen im Gesicht auf dem Weg in die Klinik.

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Es hätte alles so schön sein können. Das kleine Theater der Altmark in Stendal hatte sich etwas ganz Großes vorgenommen und dafür eine Theaterfrau mit einem bekannten Namen engagiert. Johanna Schall, die Tochter von Barbara Brecht-Schall und Ekkehard Schall, die Enkelin von Bertolt Brecht und Helene Weigel. Seit über 40 Jahren selbst als Schauspielerin und Regisseurin in Deutschland unterwegs. Landauf, landab hat sie an bislang 23 Theatern gearbeitet, das Theater der Altmark ist Neuland für sie.

Regisseurin Johanna Schall in Stendal

Wie auch der Stoff, den sie hier inszeniert hat. Nach dem Roman "Das große Heft" von Agota Kristóf, einer aus Ungarn stammenden Autorin, die dieses Werk in Französisch verfasst hat, der Sprache ihres Exils. Nachdem sie den Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Besatzung in ihrer ungarischen Heimat erlebte, flüchtete sie nach dem Ungarn-Aufstand 1956 als junge Mutter in die Schweiz, wo sie 2011 gestorben ist. Hinterlassen hat sie mit "Das große Heft" ein Werk, das mit ungeschönter Härte und einer kunstvoll emotionslosen Sprache – weil nicht in ihrer Muttersprache verfasst – vorführt, was der Krieg mit Menschen macht.

"Es war wie ein Schlag in den Magen", sagt Johanna Schall in einem Interview über das ihr unbekannte Buch. "Ich hatte es nicht gelesen, und ich hatte auch den Namen, ehrlich gesagt, bis dahin nicht gehört."

Bewegende Inszenierung: "Das große Heft"

Beste Voraussetzungen also für ein Theaterabenteuer. Johanna Schall schrieb die Theaterfassung und machte sich mit einem augenscheinlich hoch motivierten Ensemble an die Arbeit. In einer an Brecht geschulten Stilistik wird die Geschichte von einem Zwillingspaar erzählt, dass in einem Krieg von ihrer Mutter aus der großen Stadt zur Großmutter aufs Land gebracht wird. Eine harte Frau, die im Dorf die Hexe genannt wird und bei der die beiden Kinder nichts zu lachen und auch kaum was zu essen haben. Um diese Härte zu überleben, härten sie sich ab. Quälen sich selbst bis aufs Blut und schreiben in einem großen Heft alles auf, was sie erleben. Das ist verbale und körperliche Gewalt und vor allem auch sexuelle Erfahrungen, die in ihrer Drastik kaum auszuhalten sind.

V.l.n.r.: Hannes Liebmann, Siri Wiedenbusch, Paul Worms, Katrin Steinke, Susan Ihlenfeld, Lukas Franke und Jules Armana in einer Spielszene: "Das große Heft" am Theater der Altmark in Stendal
Regisseurin Johanna Schall inszenierte das Stück "Das große Heft", es war ihre erste Arbeit für das Theater der Altmark in Stendal. Bildrechte: Nilz Böhme

Obwohl die Regisseurin und das Ensemble dafür künstlerisch sehr überzeugende, niemals naturalistische Bilder und Formen des Erzählens finden, geht einem das Geschehen an die Nieren.

Premieren-Abbruch nach der Pause

Nach einer guten Stunde konnte das Publikum durchatmen. Erstmal Pause, das tat gut. Und von den meisten im Premierenpublikum unbemerkt, tat sich auch etwas vor dem Theater. Ein Rettungswagen der schnellen medizinischen Hilfe brachte drei Schauspieler ins Krankenhaus.

Warum, erfuhr das Publikum, das nach der Pause größtenteils ahnungslos wieder Platz genommen hatte, von der Intendantin des Theaters Dorotty Szalma, die mit der Regisseurin und dem Rest des Ensembles auf die Bühne kam und sichtlich erschüttert verkündete, dass die Vorstellung nicht fortgesetzt werden könne. Bei drei Darstellern hätte die verwendete Schminke zu so schlimmen Hautreaktionen im Gesicht geführt, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden mussten.

Schauspieler erleiden Verätzungen, Ermittlungen eingeleitet

Von der schockierten Regisseurin und Theatermitarbeitern war zu erfahren, dass die Ursache offensichtlich eine als Schminke verwendete Mischung aus Heilerde, Asche und Wasser war. Während sich das Theater langsam leerte, nahm die Polizei erste Ermittlungen im Theater auf. Auf telefonische Nachfrage später am Abend teilte die Intendantin mit, die Verletzungen seien so schwerwiegend, dass die Notaufnahme des Stendaler Johanniter Krankenhauses dies veranlasste. Die drei Verletzten wurden noch am Abend von Stendal aus in ein Krankenhaus nach Halle verlegt.

Nach aktuellem Stand der Dinge hat die Polizei am Sonntag eine Strafanzeige gegen das Theater erstattet. Über den weiteren Verlauf des Geschehens und auch den Gesundheitszustand der drei verletzten Schauspieler will die Intendantin die Öffentlichkeit in Abstimmung mit dem Träger des Theaters, der Stadtverwaltung Stendal am Montag informieren.   

 Quelle: MDR KULTUR, Redaktionelle Bearbeitung: ks

 

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