Lebenshilfe Stendal Wie Menschen mit Behinderung um ihren Arbeitsplatz bangen müssen

06. März 2024, 05:00 Uhr

Eine Werkstatt der Lebenshilfe Stendal war überbelegt, bemängelten Behörden bereits vor Jahren. Nun verweigern die Behörden die Anerkennung des teuren Neubaus als Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Für die Beschäftigten ist das ein großes Problem und eine Lösung nicht in Sicht.

"Wir wollen kämpfen, dass wir hierbleiben dürfen", sagt eine Beschäftigte, die in der neuen Werkstatt der Lebenshilfe Stendal arbeitet. Deren Bau hat fast sieben Millionen Euro gekostet. Die Menschen mit Behinderung fühlen sich darin wohl. Dort sei es ruhiger als in der Hauptwerkstatt in Tangerhütte. Die war seit Jahren überbelegt, wie auch die Agentur für Arbeit bemängelte. Doch nun verlangen die Behörden in Sachsen-Anhalt, dass die Beschäftigten genau dorthin zurückkehren sollen.

Blick in eine Produktionsstätte: Portrait zweier Frauen
"Wir wollen kämpfen", erklärt die Frau. Bildrechte: MDR exakt

Als die Post von den Kreisbehörden Stendal im Briefkasten von Renate Diehl landete, fühlte die Mutter eine große Verunsicherung. Ihr Sohn Frank arbeitet seit Anfang Januar in der neuen Werkstatt in Stendal und spart sich so auch die täglichen 15 Kilometer Fahrt bis zur alten Werkstatt in Tangerhütte. Er hatte einen frühkindlichen Hirnschaden, der sich auf die Nerven auswirkte und vielfache körperliche Schäden hervorrief. Die Arbeit gibt seinem Tag Struktur und Inhalt, und er ist mit Freude dabei.

In dem Schreiben wurde Renate Diehl nun mitgeteilt, dass es für den Neubau keine Anerkennung als Werkstatt für behinderte Menschen gebe. "Und außerdem steht ja auch noch geschrieben: Erfordernisse von Arbeitsschutz und Unfallverhütung obliegen damit nicht der Kontrolle des Trägers der Eingliederungshilfe. Das beängstigt mich total!", so Diehl. "Das würde ja heißen, dass ich meinen Jungen wieder in die Werkstatt noch Tangerhütte geben muss, um mehr Sicherheit zu haben!"

Werkstatt in Tangerhütte seit Jahren überbelegt

Die Hauptwerkstatt in Tangerhütte ist seit Jahren heillos überlegt. Obwohl für 190 Plätze ausgelegt, waren dort bis zu 266 Menschen beschäftigt. Schon im Jahr 2018 wurde durch die Agentur für Arbeit in Magdeburg behördlich festgestellt: "Ein Großteil der durchzuführenden Tätigkeiten ... erfolgt unter räumlich sehr beengten Verhältnissen und erscheint unter Berücksichtigung der Qualitätssicherung und der Arbeitssicherheit generell nicht weiter akzeptierbar."

Seit mehr als 50 Beschäftigte in der neuen Außenstelle in Stendal untergebracht sind, ist es für alle Beschäftigten besser geworden: mehr Platz, weniger Gedränge, mehr Ruhe. Doch jetzt, nachdem die Behördenbriefe kamen, ist die Verunsicherung bei allen groß.

In Tangerhütte versuchte Geschäftsführerin Dörthe Wallbaum, das Geschehen gegenüber den Beschäftigten zu erklären: "Wir bekommen keine Anerkennung für den Erweiterungsbau. Wir sind schon anerkannt, und wir möchten das einfach nur mit einbeziehen - aber die Agentur gibt uns das nicht!" Nun seien alle Mitarbeiter in Stendal angeschrieben worden, dass der Versicherungsschutz fehle und deshalb alle nach Tangerhütte zurückkehren sollten.

Wir sind schon anerkannt, und wir möchten das einfach nur mit einbeziehen - aber die Agentur gibt uns das nicht!

Dörthe Wallbaum Geschäftsführerin

Für die Menschen mit Beeinträchtigung, darunter auch psychisch und seelisch Kranke, ist das nur schwer zu akzeptieren. "Wenn es ganz dicke kommt, ist meine Meinung, dann muss man dagegen was machen", sagt Mitarbeiter Daniel. "Dann muss man streiken! Die andern, die Bauern, die streiken auch. Also können wir das auch!" 

Es fehlt an einer Zustimmung durch Behörden

Die Kosten für den Neubau von 6,9 Millionen Euro hat die Lebenshilfe Stendal - ein gemeinnütziger Verein - mit Krediten finanziert. Die Beschäftigten fühlen sich dort wohl, so wie auch Frank Diehl. Die Näherei und Wäscherei sind dorthin umgezogen.

Als Begründung dafür, dass alle Beschäftigten nach Tangerhütte zurückkehren sollen, teilt das sachsen-anhaltischeSozialministerium MDR Investigativ mit: "Hintergrund sind immense Baukosten in Höhe von circa 6,9 Millionen für die Errichtung dieses Werkstattstandortes, der ohne Zustimmung […] gebaut wurde. Demzufolge erfolgt derzeit auch keine Refinanzierung der entstandenen Baukosten."

Dabei geht es nicht um die Baugenehmigung. Die hatte die Lebenshilfe. Es geht um die behördliche Anerkennung als Werkstatt für Menschen mit Behinderungen - und damit die Voraussetzung der Refinanzierung der Baukosten durch den Staat. Es geht also auch um Geld.

Brandschutzmängel in altem Gebäude in Tangerhütte

Andererseits: Wenn die Beschäftigten zurück nach Tangerhütte müssen, wird die alte Überbelegung wiederhergestellt. Die hatte schon lange schwerwiegende Folgen - denn die Enge hatte dazu geführt, dass ein weiteres großes Gebäude zusätzlich als Werkstatt genutzt werden musste. Doch bei dem Haus bemängelten die zuständigen Kreisbehörden bereits 2018: "Die Brandmeldeanlage überwacht nicht alle Bereiche. Ohne flächendeckende Überwachung kann sich unbemerkt ein Brand entwickeln und ausbreiten."

Das heißt, die Leute müssten wieder in die Räume, die schon vor sechs Jahren vom Brandschutz eindeutig als nicht angemessen angesehen wurden.

Dörte Wallbaum

Eine Behebung dieses Mangels wäre sehr teuer und hätte die Überbelegung nicht genügend entschärft, heißt es seitens der Lebenshilfe. Wenn die Mitarbeiter wirklich wieder nach Tangerhütte zurückkehren, werde es schwierig, heißt es im Umfeld. "In der Hauptwerkstatt habe ich da keinen Platz", sagt Geschäftsführerin Wallbaum. "Das heißt, die Leute müssten wieder hier in diese Räume, die schon vor sechs Jahren vom Brandschutz eindeutig als nicht angemessen angesehen wurden. Und schriftlich protokolliert ist, dass da auch eine Gefährdung besteht, wenn ich die Leute hier wieder in diese Räume gebe."

Für die Geschäftsführerin der Lebenshilfe dürfte das Risiko bestehen, dass sie haftet, wenn etwas passiert. "Aber, wenn hier wirklich was passiert, da geht es um die Gesundheit, um das Leben von Menschen mit Beeinträchtigung. Das macht mir mehr zu schaffen als meine Haftung oder das, was mir dann passieren könnte", sagt Dörte Wallbaum.

Sind die Beschäftigten in Stendal nicht versichert?

Das war es, was Renate Diehl und viele andere Empfänger der Behördenbriefe so verunsichert: dass in den Schreiben nahegelegt wurde, es bestehe in der neuen Werkstatt in Stendal für die dort Beschäftigten kein Versicherungsschutz. Stimmt das?

Die Leitung der Lebenshilfe Stendal geht davon aus, dass es nicht stimmt. Dort sagt man: "Die Berufsgenossenschaft bezieht sich auf die Gesamtanerkennung Lebenshilfe Region Stendal. 303 Beschäftigte! Die sind bei der Berufsgenossenschaft gemeldet - und damit auch versichert!"

MDR Investigativ hat bei der Zentrale der gesetzlichen Unfallversicherung BGW (Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege) in Magdeburg nachgefragt. Die Antwort lautet, dass eine Prüfung laufe und im Augenblick noch keine definitiv verbindliche Auskunft gegeben werden könne. Das Schreiben ist aber offenbar so zu verstehen, dass man von einem bestehenden Versicherungsschutz ausgeht: "Sofern [also] Menschen mit Behinderungen in unveränderter Rechtsbeziehung zur Werkstatt tätig werden, entfällt der Versicherungsschutz nicht dadurch, dass sie an einem anderen Ort tätig werden."

Die Frage nach der Verantwortung

Klar ist, dass man sich in Stendal in einer schwierigen Situation befindet. Es stellt sich die grundsätzliche Frage: Wie lässt sich rechtfertigen, Menschen mit Beeinträchtigungen in Räumlichkeiten mit mangelhaftem Brandschutz zurückzuschicken? Und wie wollten die Behörden das Problem lösen? Das hat MDR Investigativ das Sozialministerium in Sachsen-Anhalt gefragt  - doch diese Fragen wurden nicht beantwortet.

Das ist wirklich eine unsägliche Untätigkeit, die dort vorliegt!

Nicole Anger Linken-Landtagsabgeordnete

Die Landtagsabgeordnete der Linkspartei Nicole Anger, die auch Mitglied im Sozialausschuss des Landtages Sachsen-Anhalt ist, nennt das Vorgehen des Ministeriums völlig inakzeptabel: "Ich sehe in dem Fall eine Untätigkeit der Sozialagentur und des Ministeriums - eine wirklich rigorose Untätigkeit, die hier zutage tritt! Seit 2018 sind die Problemlagen bekannt." Dennoch sei jahrelang nichts geschehen, obwohl enormer Handlungsbedarf bestehe. "Das ist wirklich eine unsägliche Untätigkeit, die dort vorliegt!" 

Vor Gericht: Entscheidung kann dauern

Der Versorgungsauftrag für die Menschen mit Beeinträchtigungen liegt letztlich beim Land. Die Überbelegung und daraus resultierende Probleme beim Brandschutz sind erhebliche Probleme, die seit Langem bestehen. Das Land lehnt die Lösung, die von der Lebenshilfe umgesetzt wurde - nach mehrjährigem Hin und Her - ab. Aber noch mal: Welche Lösung für die Probleme hat das Land?

MDR Investigativ hatte den Landesbehindertenbeauftragten von Sachsen-Anhalt, Dr. Christian Walbrach, um seine Sicht auf den Vorgang gebeten. Seine Antwort erreichte uns erst nach der Ausstrahlung des TV-Beitrags über die Pressestelle des Sozialministeriums: "Es hat für mich oberste Priorität, dass in der gegenwärtigen Situation die betroffenen Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt stehen und in einer vollumfänglich sicheren Arbeitsstätte einer geregelten Tätigkeit nachgehen können." Die Verunsicherung unter allen Beteiligten müsste schnell und nachhaltig aus dem Weg geräumt werden.

"Dafür setze ich mich gern mit ein und bin dazu unter anderem auch mit den Verantwortlichen der Region, so zum Beispiel der kommunalen Behindertenbeauftragten, im engen Dialog", so Walbrach weiter. "Ich weiß, dass auch das Ministerium derzeit alle Möglichkeiten prüft, den Menschen mit Behinderungen ein optimales Umfeld zu ermöglichen."

Im Augenblick jedoch verweigert das Ministerium der neuen Werkstatt in Stendal weiterhin die Anerkennung und fordert die Beschäftigten zur Rückkehr nach Stendal auf. Der Lebenshilfe-Verein Stendal ist dagegen vor das Sozialgericht gezogen, mit der Hoffnung, dass das Land zur Anerkennung des Neubaus als Werkstatt für Menschen mit Behinderungen verpflichtet wird. Wie lange es dauert bis zu einer Entscheidung - völlig offen.

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 28. Februar 2024 | 20:15 Uhr

8 Kommentare

Maria A. vor 9 Wochen

Ich habe ja angemerkt, dass mich vorrangig das Schicksal der Betroffenen bewegt hat. Dazu bleibt auch die Frage unbeantwortet, was eigentlich mit dem Gebäude danach angedacht ist.

Hallo vor 9 Wochen

Ich kann Ihre Gedanken sehr wohl nachvollziehen. Aber hier geht es um unverantwortliche Maßnahmen der Lebenshilfe. Wie andere Kommentatoren schon ausführte, ich kann nicht bauen, ohne mir die Kosten zu genehmigen lassen. Das ist einfach unprofessionell oder dreist. Hinterher auf die Mitleidschiene zu setzen ist schäbig und unaufrichtig. Der Fehler liegt eindeutig bei der Lebenshilfe. Da hat man bereist damit gerechnet, da es um Behinderte geht, wird schon jemand zahlen. Für mich unterste Schublade. Vielleicht sollte man sich auch mal die Struktur und die Vergütungen der Lebenshilfe anschauen. Ich habe da so ein Gefühl.

Huxley vor 9 Wochen

Letztendlich ist die Lebenshilfe hier erst mal selbst schuld.
In diesem Geschäft kommt sämtliches Geld für die Fixkosten des Betriebs von Dritten. Von daher kann man da nicht einfach mal was machen und dann darauf hoffen, dass die das schon absegnen werden. Solch einen Vorgang dann wieder gerade zu ziehen dauert eben. In einem Bereich in dem es NUR um Menschen mit Behinderung geht braucht man schon mehr Argumente als, dass es sich doch um Menschen mit Behinderung handelt.

Das Zweite Problem ist es Fördermittel für einen Bau im Nachgang zu bekommen, nachdem man diejenigen die einen fördern sollen vorher nicht ausreichend einbezogen hat.

Mehr aus der Region Stendal

Mehr aus Sachsen-Anhalt

eine Frau im OP-Saal mit Kindern 3 min
Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK