Menschen liegen auf dem Boden vor der Frauenlirche in Dresden.
Vor der Frauenkirche haben nach Organisatorenangaben rund 300 Menschen am Sonnabend auf die Folgen der Krankheit ME/CFS aufmerksam gemacht. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Demo für mehr Anerkennung Schwerstkranke bei Liegend-Demo in Dresden

09. März 2024, 18:50 Uhr

Die Zahl der an ME/CFS-Erkrankten geht in Deutschland in die Hunderttausende. Trotzdem ist die Krankheit kaum erforscht. Für Betroffene gibt es kaum medizinische Hilfe, viele von ihnen sind ans Bett gefesselt. Ihr Leben wird zur Qual, sobald sie es normal leben wollen. Mit stillen Demos wollen Erkrankte und ihre Familien mehr Interesse bei Forschung und Ärzten bewirken.

Eine Mutter fährt ihre 22-jährige Tochter im Rollstuhl über den Dresdner Altmarkt. An der Seite der Erkrankten laufen auch ihr Vater, die Schwester und eine Freundin. Sie tragen Plakate, auf denen zu lesen ist: "ME/CFS - Schwerstbetroffene lebend begraben unter Schmerzen, Leid, Stille, Dunkelheit" oder "ME/CFS - Wir verlieren unser Leben, ohne zu sterben." Die junge Frau im Rollstuhl trägt eine Sonnenbrille und hat die dicken Kopfhörer am Hals schon griffbereit. Denn jeder Sinnesreiz kann für Finja zur Qual werden. Sie hat ME/CFS.

Was ist ME/CFS?

Die Myalgische Enzephalomyelitis/das Chronische Fatigue Syndrom ist eine schwere neuroimmunologische Erkrankung, die oft zu einem hohen Grad körperlicher Behinderung führt. Weltweit sind etwa 17 Millionen Menschen betroffen. In Deutschland wurde die Zahl ME/CFS-Betroffener vor der Corona-Pandemie auf etwa 250.000 geschätzt, darunter 40.000 Kinder und Jugendliche. Experten gehen davon aus, dass sich die Zahl der Erkrankten durch Corona verdoppelt hat. Die WHO stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein.

Welche Beschwerden haben ME/CFS-Erkrankte?

ME/CFS-Betroffene leiden unter einer schweren körperlichen Schwäche, die die Aktivität erheblich einschränkt. Charakteristisch ist eine ausgeprägte und anhaltende Verstärkung aller Symptome nach geringer körperlicher oder geistiger Anstrengung. Folgen sind eine starke Schwäche, Muskelschmerzen, grippale Symptome und eine Verschlechterung des allgemeinen Zustands. Schon kleine Aktivitäten wie das Zähneputzen, Duschen, Kochen oder wenige Schritte gehen können zur Tortur werden oder zwingen Betroffene zu tagelanger Bettruhe. Symptome können auch Herzrasen, Schwindel, Benommenheit und Blutdruckschwankungen sein. Viele Betroffene können dadurch für längere Zeit nicht mehr stehen oder sitzen. Weitere Beschwerden sind Muskel-, Gelenk- und Kopfschmerzen. Hinzu kommen Muskelzuckungen und -krämpfe, massive Schlafstörungen sowie Konzentrations-, Merk- und Wortfindungsstörungen. Viele reagieren zudem überempfindlich auf Sinnesreize.

Kann ME/CFS geheilt werden?

Die Behandlung von ME/CFS erfolgt derzeit nur symptomorientiert. Eine Therapie, die ME/CFS heilt oder den Zustand maßgeblich verbessert, gibt es bisher nicht. Einzelne Symptome zu behandeln, kann jedoch Linderung verschaffen und die Lebensqualität der Erkrankten partiell verbessern.

Beschwerden von Ärzten nicht ernst genommen

Die 22-jährige Finja hält ein Plakat in der Hand. Eine Person ist darauf zu sehen, die unter schweren Gewichten, Hanteln und Ketten auf dem Bett liegt. So fühle sie sich sehr oft, sagt Finja. "Ich habe Tage erlebt, da konnte ich vor Schmerzen kaum aus dem Bett", erklärt sie. Finja demonstriert hier in Dresden mit ME/CFS-Erkrankten und deren Angehörigen, um die Krankheit bekannter zu machen.

Menschen halten Transparente in dier Höhe.
Zum sogenannten Trauergang kann Finja nur mit dem Rollstuhl gefahren werden. Aus Solidarität tragen auch ihre Freundin Ashley, Schwester Livia, Mama Anna und Papa Bernd (v.l.n.r) Sonnenbrillen. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Ich habe Tage erlebt, da konnte ich vor Schmerzen kaum aus dem Bett.

Finja an ME/CFS erkrankt

Vor vier Jahren habe sie das Pfeiffersche Drüsenfieber gehabt - eine Virusinfektion, durch die ME/CFS ausgelöst werden kann. Obwohl ihre Symptome immer schlimmer wurden, hätten viele Ärzte ihre Beschwerden nicht ernst genommen. "Man hat mir unterstellt, dass ich eine Posttraumatische Belastungsstörung habe", erzählt Finja. Ein Stigma, mit dem viele ME/CFS-Erkrankte kämpften. Denn viele Ärzte sprächen schnell von psychosomatischen Ursachen, wohl auch aus Unwissenheit über die Krankheit.

60 Prozent der ME/CFS-Erkrankten arbeitsunfähig

Freundin Ashley steht neben Finja und streichelt über ihre Schulter. "In der Schule wurde Finja als Drama-Queen abgestempelt", sagt sie. Laut einer Studie der Aalborg Universität ist die Lebensqualität von ME/CFS-Erkrankten im Durchschnitt niedriger als die von Multiple Sklerose-, Schlaganfall- oder Lungenkrebspatienten. Ein Viertel aller Erkrankten können nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS das Haus nicht mehr verlassen. Viele sind demnach bettlägerig und auf Pflege angewiesen. Schätzungsweise über 60 Prozent seien arbeitsunfähig.

Auch Finja musste ihre Ausbildung zur Orthopädie- und Reha-Technikerin abbrechen. "Seit zwei Jahren lebt sie wieder bei uns zu Hause in Oderwitz", sagt Mutter Anne. Für Finja ist die Demonstration in Dresden eine schwere Belastung. Ein sogenannter Crash könnte folgen, bei dem sie unter Schmerzen für Tage im Bett liegt. "Ich bezahle den Preis des Ruhens, um auf die Krankheit aufmerksam zu machen", sagt Finja. Ihre Stimme wird kurz zittrig, Tränen laufen ihr über die Wange: "Ich bin so dankbar, dass so viele hier sind."

Kaum erforschte Krankheit bekannter machen

Den an ME/CFS-Erkrankten eine Stimme geben - das ist das Anliegen von Cornelia Reichstein aus Radebeul. Sie hat den "Trauergang" und die Liegend-Demo mitorganisiert. "Wir wollen damit auf unsere Trauer aufmerksam machen und zeigen, dass wir endlich gesehen werden", sagt Reichstein. Denn ME/CFS sei so gut wie nicht erforscht, Hilfe für Betroffene gebe es keine. "Wir wollen erreichen, dass die Krankheit mehr erforscht und anerkannt wird", so Reichstein.

eine Frau mit einem Mädchen auf dem Altmarkt in Dresden
Für Cornelia Reichstein ist ihre zehn Jahre alte Tochter Tamika eine große seelische Unterstützung. "ME/CFS-Erkrankte brauchen mehr Aufmerksamkeit", sagt die Mutter von fünf Kindern. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Wir wollen erreichen, dass die Krankheit mehr erforscht und anerkannt wird.

Cornelia Reichstein will die Krankheit ME/CFS bekannter machen

Die 45-Jährige erkrankte nach einer Corona-Infektion und Long Covid selbst an ME/CFS. "Mittlerweile habe ich den Status schwerbehindert und gehbehindert - ich bin nicht mehr arbeitsfähig", so Reichstein. Die Demo habe sie vom Sofa aus organisiert. Sie stehe unter starken Medikamenten, um den Tag in Dresden durchzustehen, erzählt Reichstein.

Stille Liegend-Demo an der Frauenkirche

Der Trauergang setzt sich in Bewegung. Langsam laufen die 300 Teilnehmenden vom Altmarkt zum Neumarkt. Vor der Frauenkirche legen sie sich für ein paar Minuten symbolisch auf den Boden. Viele sind stellvertretend für Erkrankte hier, die zu Hause in ihren Betten liegen. Sie halten Fotos von den Kranken in die Luft. Viele tragen Sonnenbrillen - aus Solidarität oder wegen der Krankheit. Leise erklingt Pianomusik aus einem Lautsprecher, sonst herrscht Stille rund um das Luther-Denkmal.

Menschen liegen auf dem Boden vor der Frauenkirche.
An der Frauenkirche halten Demo-Teilnehmende Fotos von Erkrankten in die Luft. Sie können wegen ihrer starken Beschwerden bei der Liegend-Demo nicht selbst dabei sein. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Tochter wird zum Pflegefall

Auch Elena Lierck hält ein Foto ihrer 14 Jahre alten Tochter in der Hand. "Meine Tochter Kalea ist vor vier Jahren erkrankt", erzählt die 42-jährige Mutter von vier Kindern. Kalea sei früher sehr aktiv gewesen. Mittlerweile sei sie ein Pflegefall, sagt Mutter Elena: "Sie kann seit einem Jahr nicht mehr laufen, gehen und stehen. Sie ist zu 100 Prozent auf uns angewiesen." Elena Lierck engagiert sich im Verein "NichtGenesenKids". Die Anlaufstelle betreut Lierck zufolge mehr als 600 Eltern von Kindern mit Corona-Folgeerkrankungen und ME/CFS.

Eine Frau und ein Junge stehen vor der Kamera.
Elena Lierck und ihr siebenjähriger Sohn Ede stehen stellvertretend für die kranke Kalea auf dem Dresdner Neumarkt. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Gerne wieder arbeiten können

Vor der Frauenkirche stehen ein Mann und eine Frau Arm in Arm. Sie tragen Sonnenbrillen. "Ich würde gerne wieder arbeiten", sagt Cora Brandner. Nach Long Covid kämpfe sie seit zwei Jahren mit ME/CFS, erzählt die Lehrerin. Die Krankheit habe den Alltag der Familie umgeworfen, sagt ihr Mann Torsten, der aus Solidarität ebenfalls eine Sonnenbrille trägt. "Neben einem 40-Stunden-Job, habe ich den Haushalt und die Versorgung der Kinder übernommen", erklärt Torsten.

Mesnchen posieren vor der Dresdner Frauenlirche.
Torsten und Cora Brandner machen mit der Blauen Schleife auf ME/CFS aufmerksam. Bildrechte: MDR/Philipp Brendel

Auch Cora Brandner wird sich nach der Liegend-Demo zu Hause lange hinlegen müssen. Doch Aufmerksamkeit zu schaffen, sei heute das Entscheidende: "Ich bin froh, hier heute so viele Leute zusammen mit uns zu sehen."

Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR um 4 | 20. Februar 2024 | 17:00 Uhr

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