Mariupol
Donezk-Region: Busse mit deportierten Ukrainern und Militar. Das Foto entstand im Mai, aufgenommen von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass. Bildrechte: picture alliance/dpa/TASS | Peter Kovalev

Krieg gegen die Ukraine Deportiert: Wie Ukrainer nach Russland entführt werden

01. Juli 2022, 13:24 Uhr

Im März hatte Moskau damit begonnen, Ukrainer gegen ihren Willen nach Russland zu bringen. Vor dem Grenzübertritt gibt es in sogenannten Filtrationslagern einen Gesinnungscheck. Eine betroffene Ukrainerin erzählt.

Nach ukrainischen Regierungsangaben sind seit Beginn des russischen Angriffskrieges vom Februar rund 1,2 Millionen ukrainische Staatsbürger nach Russland verschleppt worden – darunter auch die 24-jährige Darija Sahajdatschna. Ihren richtigen Namen möchte Darija zum Schutz ihrer Verwandten in der Ukraine nicht nennen. Autorin Olesya Yaremchuk hat sie mehrere Stunden lang gesprochen. Darijas Geschichte kann hier nur gekürzt wiedergegeben werden.

Überleben im Luftschutzbunker

Im Mehrfamilienhaus am Stadtrand von Mariupol gab es keinen Luftschutzbunker. Darija Sahajdatschna* flüchtete mit ihrer Mutter wenige Tage nach Beginn des russischen Angriffskrieges in den Luftschutzbunker des nahegelegenen Kulturhauses.

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Bildrechte: MDR / Erhard Bühler

Drei Wochen blieben sie dort, es mangelte an Essen, an Wasser, an Platz, am Nötigsten fürs Leben. Nur Frauen erlaubten es die russischen Soldaten, hin und wieder tagsüber in die eigenen Wohnungen zu gehen, um nach Essbarem zu suchen. Wenn sie zurückkamen, erzählten sie von russischen Soldaten, die in ihren Wohnungen Alkohol tranken und in die Luft schossen. Im Luftschutzbunker war es oft dunkel, die Handys längst entladen, die Kerzen aufgebraucht. Hin und wieder konnten sie mit einem Feuerzeug etwas Licht machen. Im Bunker gab es viele Kinder. Wie sie ernähren, wie weiterleben?, fragte sich Darija immer wieder.

Sie streicht über ihr blondes Haar, sie spricht ruhig, sie erzählt die Ereignisse chronologisch, wie aus einem Geschichtslehrbuch. Über Emotionen möchte sie nicht reden, sie nicht zulassen, denn all das Erlebte würde sie noch viel zu sehr schmerzen.

Deportation ins vermeintlich Ungewisse

Am 15. März hieß es vom russischen Militär in Mariupol, dass Frauen und Kinder den Luftschutzbunker verlassen sollten. Das sei ein Befehl. Die Leute gerieten in Panik. "Wir hatten nicht das Gefühl, dass wir uns widersetzen können", erinnert sich Darija. "Ich dachte, wir würden jetzt alle erschossen werden." Die russischen Soldaten sprachen von "einer Evakuierung", in Wirklichkeit war es eine Deportation.

90 Menschen mussten auf russische Militär-Lastkraftwagen steigen, wo sie auf der Ladefläche zusammengepfercht saßen, später mussten sie in einen Bus umsteigen. "Uns wurde nicht gesagt, wohin sie uns bringen. Da habe ich verstanden, dass sie mit uns machen können, was sie wollen", sagt Darija. Es war eine Reise ins Ungewisse,  auf der man mitzukommen und dem Militär zu gehorchen hatte. Niemand durfte den Konvoi verlassen. "Alles was ihr wissen müsst, ist, dass ihr an einen warmen Ort gebracht werdet", entgegnete ihnen ein Mann, der sich als Vertreter vom "Ministerium für Notfälle der Donezker Volksrepublik" vorstellte. Mitreisende sagten, sie wollten zurück nach Mariupol – es wurde ihnen verweigert.

Filtrationslager unweit der russischen Grenze

Stattdessen wurden sie nach Bezimenne gebracht, einem Dorf, das pro-russische Militärs im Donbass schon 2014 unter ihre Kontrolle gebracht hatten und das gut 25 Kilometer entfernt von der russischen Grenze liegt. An einem Kontrollpunkt dahin hieß es, dass die Gruppe in ein Filtrationslager gebracht werden solle. Zum ersten Mal hörte Darija dieses Wort: Filtrationslager.

Mehr als 1.000 Menschen warteten bereits in Bezimenne, sie hatten zuvor in Mariupol gelebt. Die "Filtration" in einem von pro-russischen Militärs gesicherten Zelt lief für alle gleich ab: Man wurde von allen Seiten fotografiert. Abdrücke von Fingern und Handflächen wurden genommen, alle Handys inspiziert. Dann folgte das Verhör, Darija wurde nach ihrer Einstellung zum ukrainischen Militär gefragt, zur ukrainischen Politik, zur Regionalpolitik von Mariupol. Nach dem Verhör mussten die Verschleppten bei Minusgraden eine Nacht im Bus ausharren, die Toilette war im Schützengraben. Zum ersten Mal erfuhren sie von den Soldaten, dass sie nach Russland gebracht würden. Alle schwiegen, als sie erfuhren, wohin es ging.

Im Verhör nach Faschismus befragt

Stunden später erfolgten weitere Verhöre, sie glichen einem Gesinnungscheck. Diesmal wurde nur einige Personen ausgewählt, Darija war darunter. Ein russischer Mann in Zivil fragte sie aus, vermutlich war er vom Geheimdienst FSB, vorgestellt hatte er sich nicht. "Wie stehst du zum Faschismus?", fragt er Darija. "Schlecht", antwortete sie. "Detaillierter!", entgegnete er ihr barsch. Darija erwiderte: "Er entspricht nicht meinen Werten." Der Mann entgegnete, er habe kein Wort verstanden: "Wie stehst Du nun zum Faschismus?" Das ganze Verhör dauerte eine Stunde.

Wer die "Filtration" nicht bestand, kam in die ehemalige Strafkolonie Nr. 52 im Dorf Olenivka oder in ein Isolationsgefängnis im Raum Donezk. Die anderen wurden per Bus in die russische Hafenstadt Taganrog gebracht, wo Züge bereitstanden, die die Verschleppten auf einer 28-Stunden-Fahrt in die russische Stadt Wladimir in ein Lager bringen sollten. Alle waren sie mittellos. Ihr Handy mit der ukrainischen Sim-Karte funktionierte nicht mehr auf russischem Gebiet.

Freunde aus Russland halten den Krieg für Fake

Darija und ihre Mutter hatten Glück, denn Freunde aus Russland ließen sie von der Grenze abholen und unterstützten sie finanziell. Die beiden Frauen kamen zunächst in Rostow unter, später in St. Petersburg. Von ihren Verwandten und Freunden, die ihnen in dieser Notlage geholfen hatten, bekamen sie immer wieder zu hören, dass die Meldungen über den Krieg in Mariupol und der Ukraine Fake News seien.

Darija und ihre Mutter wollten nur weg aus Russland. Ihnen gelang mit finanzieller Hilfe von Freunden die Ausreise nach Estland. Dort engagiert sich die 24-Jährige inzwischen in der Freiwilligenorganisation "Helping to Leave", die Ukrainern hilft, die nach Russland verschleppt wurden. Zusammen mit Freunden hat Darija eine Gebrauchsanweisung erstellt, was zu tun ist, um aus Russland zu fliehen. Sie sammeln Rubel und bezahlen ukrainischen Bürgern die Tickets.

Filtrationslager Dort werden die verschleppten ukrainischen Staatsbürger von pro-russischen Kräften auf ihre Loyalität zur ihrer Heimat verhört. Wer auf die ideologischen Fragen nicht entsprechend antwortet oder beispielsweise Bekannte beim ukrainischen Militär hat, kommt nach ukrainischen Regierungsangaben in eine ehemalige Strafkolonie oder in ein Isolationsgefängnis im Gebiet Donezk.

Als Filtrationslager wurden auch Einrichtungen des sowjetischen Innenministeriums (NKWD) bezeichnet, die während des Zweiten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit zur Ausforschung von "Staatsfeinden" dienten.

Gefühlt wie eine Kriegsgefangene

Ich frage Darija, ob es unter den ukrainischen Deportierten Menschen gab, die freiwillig nach Russland wollten? Sie lacht. "Wenn man uns Busse ins ukrainische Saporischschja und ins russische Rostow organisiert hätte und wir hätten wählen können, wohin wir fahren wollen, dann hätte man das als freiwillig bezeichnen können. Stattdessen fühlte ich mich wie eine Kriegsgefangene", sagte Darija verbittert. "Alle in unserem Bus sagten, dass sie sich wie Sklaven fühlen, mit denen man machen kann, was man will."

*Name auf Wunsch der Interviewpartnerin von der Redaktion geändert.

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL RADIO | 07. Juni 2022 | 16:30 Uhr

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