Hintergrund Angstfrei Fahrrad fahren – wie die Verkehrswende gelingen könnte
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02. April 2023, 08:35 Uhr
Seit Jahren steigt in Deutschland die Zahl zugelassener Pkw – dabei müsste sie deutlich sinken, bestätigte erst kürzlich eine Studie des Umweltbundesamtes. Bis zu 30 Prozent der Autofahrten ließen sich nach Einschätzung von Fachleuten auf das Fahrrad verlagern. Doch dafür braucht es mehr als Appelle und ein paar mehr Radwege.
- Aufgeweichte Sektorenziele beim Klimaschutz – kann sich der Verkehrssektor jetzt zurücklehnen?
- Etwa 30 Prozent der Autofahrten könnten auf das Fahrrad verlagert werden.
- Warum es für eine echte Trendwende "Zuckerbrot und Peitsche" braucht.
Nur 45 Minuten pro Tag wird ein Pkw in Deutschland im Schnitt gefahren, 43,5 Prozent der CO2-Emissionen entstehen durch Pkw, knapp die Hälfte der Autofahrten in Großstädten sind nur fünf Kilometer lang – diese Informationen teilt selbst der Automobil-Club Verkehr (ACV) in einem Papier zur Verkehrswende. Einiges scheint gegen den privaten Pkw zu sprechen.
Dennoch verweist Gerrit Reichel, Pressesprecher des ACV, im Gespräch mit MDR AKTUELL auch auf ein stetig wachsendes Mobilitätsbedürfnis der Menschen. "Das ist seit Jahrzehnten so und das werden wir auch nicht ändern können. Ob man Autos mag oder nicht, wir reden zunächst einmal über Mobilitätsbedürfnisse."
"Verkehrswende ist eine Entscheidung"
Tatsächlich steigt die Zahl zugelassener Pkw seit Jahren: Deutschlandweit waren es 2011 nach Daten des Statistischen Bundesamtes noch 517 pro 1.000 Einwohnerinnen (in Sachsen 500, in Sachsen-Anhalt 510, in Thüringen 518). Innerhalb von zehn Jahren stieg die Zahl bis zum Jahr 2021 auf deutschlandweit 580 Pkw pro 1.000 Einwohner (in Sachsen auf 537, in Sachsen-Anhalt auf 561, in Thüringen auf 564).
Eine konkrete Erklärung für den Anstieg hat auch Christoph Schmidt vom Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) nicht. In Städten sehe er aber bereits gegenläufige Tendenzen. So gebe es in Köln mehrere Stadtteile, in denen die Mehrheit der Menschen kein eigenes Auto mehr habe. Deutschlandweit haben fast 80 Prozent der Haushalte mindestens einen Pkw.
Wir haben zur Zeit keine große politische Mehrheit, die auch verstanden hat, was es bedeutet, klimaneutral zu werden.
Schmidt betont allerdings, die Verkehrswende sei letzten Endes eine Entscheidung, die im Kopf passiere. Diese müsse mit guten und zuverlässigen Angeboten im öffentlichen Nahverkehr und bei der Bahn unterstützt werden. Doch derzeit fehlt aus seiner Sicht überhaupt ein gemeinsames Verständnis in Politik und Gesellschaft, dass man sich auf diesen Weg macht. "Wir haben zur Zeit keine große politische Mehrheit, die auch verstanden hat, was es bedeutet, klimaneutral zu werden", sagt er.
Antriebswende erfüllt nur Hälfte der Klimaziele im Verkehrssektor
Gerade der Verkehrssektor hat in Deutschland wiederholt die Zielvorgaben des Bundes verfehlt. Dass die Ampel mit der jüngsten Entschärfung des Klimaschutzgesetzes Möglichkeiten geschaffen hat, Zielverfehlungen eines Sektors durch einen anderen auszugleichen, dürfte zwar zunächst etwas Druck vom Bundesverkehrsministerium nehmen. Doch nimmt man die Verkehrswende ernst, bleibt enormer Nachholbedarf.
Dem Umweltbundesamt zufolge braucht es neben der Antriebswende hin zu Elektromobilität auch eine grundlegende Mobilitätswende: also mehr Fahrrad und öffentlicher Verkehr statt Auto. Denn selbst wenn bis zum Jahr 2030 das Ziel von 15 Millionen Elektroautos erreicht werde, sei damit nur die Hälfte der benötigten Reduktionen erreicht, betonte UBA-Präsident Dirk Messner im SZ-Podcast "In aller Ruhe" mit Carolin Emcke.
Weniger Pkw heißt nicht gleich weniger Autoverkehr
In einem ausführlichen Bericht über "Mobilitätskonzepte für einen nachhaltigen Stadtverkehr" entwirft die unabhängige Forschungseinrichtung Strategien, wie die Zahl privater Pkw auf nur noch 150 pro 1.000 Einwohner sinken könnte. Dabei bedeutet ein solcher Rückgang an sich streng genommen noch nicht einmal weniger Verkehr – angesichts von durchschnittlich über 23 Stunden Parkdauer könnten Pkw durch Sharing-Modelle schlicht effizienter genutzt werden.
Dennoch könnten den Forschenden zufolge auch bis zu 30 Prozent der Autofahrten auf das Fahrrad verlagert werden – in Städten wohlgemerkt, denn ländlicher Raum und Pendlerinnen sowie Pendler aus dem Umland sind nicht mit eingerechnet. Auch ACV-Sprecher Reichel meint mit Blick auf die kurzen Strecken, für die Autos in vielen Fällen genutzt werden: "Das sind Distanzen, da muss kein Mensch mit einem Auto fahren. Da kann man andere Verkehrsmittel besser nutzen."
Eine Reduzierung von Autos sieht er dennoch skeptisch: "Natürlich müssen wir bei den CO2-Emissionen runterkommen", meint er. "Aber Dekarbonisierung im Verkehr geht über ganz viele verschiedene Wege und Autos verbieten ist da sicherlich der schlechteste Weg."
Die Menschen haben schlichtweg Angst, sich auf diesen Radwegen in den Verkehr zu begeben und fahren deswegen lieber mit dem Auto.
Stattdessen brauche es Anreize, damit Menschen von selbst erkennen, dass sie möglicherweise kein eigenes Auto brauchen. Dazu brauche es etwa eine entsprechende Infrastruktur. "Die Menschen haben schlichtweg Angst, sich auf diesen Radwegen in den Verkehr zu begeben und fahren deswegen lieber mit dem Auto", stellt er fest.
Anreize allein führen noch nicht zur Verkehrswende
Doch Anreize allein bringen noch nicht die notwendigen Veränderungen, sind sich Forschende sicher. "Zuckerbrot und Peitsche" ist das Motto. Die Initiative Agora Verkehrswende verweist auf Berechnungen am Beispiel der Stadt Dresden: Ein gleichberechtigter Ausbau für Auto, ÖPNV, Fuß- und Radverkehr würde die mit Pkw zurückgelegten Kilometer demnach immer noch um vier Prozent steigern.
Erst eine gezielte Stärkung von ÖPNV, Fuß- und Radverkehr, mit gleichzeitiger Rücknahme von Autoprivilegien, kann demnach die Pkw-Kilometer reduzieren. Europäische Städte mit einem hohen Radverkehrsanteil haben etwa deutlich höhere Parkgebühren. In Amsterdam kostete Bewohnerparken vergangenes Jahr 574 Euro, in Stockholm sogar 1.250 Euro. In Dresden kostet ein Bewohnerparkausweis je nach Dauer 20 Euro (für ein halbes Jahr) bis 50 Euro (für zwei Jahre).
Doch selbst wenn striktere Geschwindigkeitsbegrenzungen oder höhere Parkgebühren bei Autofahrern für Frust sorgen können – ADFC-Sprecher Schmidt betont, Einschränkungen sollten möglichst positiv erlebbar gemacht werden. Initiativen wie Agora Verkehrswende verweisen darauf, dass beispielsweise eine Umnutzung von Parkplätzen letztlich Städte für viele Menschen lebenswerter machen kann. Amsterdam hat etwa im Jahr 2019 mehr als 1.100 Parkplätze umgestaltet: zu 42 Prozent wurden daraus Gehwege, Aufenthaltsflächen und Spielplätze, immerhin 17 Prozent wurden für Wohnungsbau verwendet.
Kommunen bekennen sich zu Mobilitätswende – Ziele noch eher zögerlich
Von der Pkw-Dichte, die das Umweltbundesamt empfiehlt, sind deutsche Städte noch weit entfernt. Im Vergleich zum ländlichen Raum haben Städte aber bereits teils deutlich weniger Autos gemessen an der Bevölkerung. Mit 389 Pkw je 1.000 Einwohnerinnen hat Leipzig eine vergleichsweise niedrige Quote. Städte wie Dresden, Magdeburg, Erfurt und Jena liegen teils deutlich über der 400er-Marke – doch ebenfalls unter dem bundesweiten Schnitt.
Mehrere Städte in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bestätigen auf MDR-Nachfrage, dass sie Verkehrsarten wie Fahrrad und ÖPNV stärken wollen. Konkrete Zielmarken sind aber noch eher vorsichtig formuliert. So verweist Weimar vor allem auf eine vergangene Wegmarke: der für 2020 angestrebte Radverkehrsanteil von mindestens 15 Prozent wurde demnach bereits ein Jahr zuvor mit 19 Prozent überschritten.
Sachsen Landeshauptstadt Dresden will Fuß- und Radverkehr sowie öffentlichen Nahverkehr so weit stärken, dass sie bis zum Jahr 2035 mindestens 75 Prozent des Stadtverkehrs ausmachen. Die Stadt Leipzig erklärt, man sehe die Notwendigkeit, dass die Zahl privater Kraftfahrzeuge sinken sollte. Konkrete Ziele seien aber nur für den gesamten Kfz-Verkehr formuliert: Von derzeit 36 Prozent solle der Anteil am Gesamtverkehr bis zum Jahr 2030 auf 30 Prozent sinken.
"Das ist überhaupt nicht ambitioniert", meint dazu Christoph Schmidt vom ADFC. Allein für seine Heimatstadt Köln sei errechnet worden, dass der Anteil von Autos am Gesamtverkehr bis zum Jahr 2035 auf zehn Prozent sinken müsse. Doch um das tatsächlich zu erreichen, sieht er noch viel Bedarf an Überzeugungsarbeit. Denn ohne entsprechende Mehrheiten bleibe die Verkehrswende letztlich auf der Strecke.
MDR (rnm)
Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Das Nachrichtenradio | 30. März 2023 | 06:00 Uhr
randdresdner am 03.04.2023
Klar muss das finanziert werden. Dafür würde ich die Steuern für die klimaschädlichen Antriebe erhöhen. Ganz logisch. Wenn es dann irgendwann Mal zu wenig von diesen Steuerzahlern gibt, dann gibt es genug Radfahrer, die auch Radwege finanzieren. Das schöne an Radwegen ist ja, dass sie wesentlich länger halten, als Straßen.
Matthi am 03.04.2023
Ich gebe ihnen recht, mittlerweile wird der Öffentliche Verkehr in regelmäßigen Abständen teurer was sicherlich nicht dazu beiträgt sein Auto abzuschaffen. Selbst in einer Stadt wie Erfurt braucht man ein Auto wenn man in Schichten auch am Wochenende arbeitet und in eingemeindeten Stadtteilen mit Busanbindung wohnt.
Matthi am 03.04.2023
Jeder Verkehrsteilnehmer wünscht sich was, natürlich sichere Radwege für Radfahrer, ich als Fußgänger wünsch mir sichere Fußwege ohne Radfahrer die einen fast umfahren der Autofahrer wünscht sich Radfahrer die sich an die Verkehrsregeln halten. So hat jeder Verkehrsteilnehmer seine Wünsche und denkt der andere soll zurück stecken.