Gedenken an Halle-Attentat Warum der Kiez-Döner-Besitzer von Politiker-Gesten genervt ist

08. Oktober 2021, 16:26 Uhr

Zwei Jahre nach dem Anschlag von Halle haben die Betroffenen im Kiez-Döner genug von schönen Gesten der Politiker. Sie wünschen sich echte Unterstützung – und bekommen diese von Menschen aus dem Viertel, die sich ehrenamtlich im Laden engagieren.

Wenn sich am Samstag der antisemitische Anschlag von Halle zum zweiten Mal jährt, rücken auch die Tatorte wieder in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Im Gedenken an den Anschlag von 2019 sollen am Samstag um 12:04 Uhr in Halle die Glocken der Marktkirche und des Roten Turms läuten. Zu diesem Zeitpunkt hatte am 9. Oktober vor zwei Jahren der Terrorakt in der Saalestadt begonnen. An seinen beiden Hauptschauplätzen – der Synagoge und einem Döner-Imbiss – will Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) im Gedenken an die Opfer und ihre Angehörigen Kränze niederlegen.

Auch zwei Jahre nach dem Anschlag beschäftigt die Tat noch viele Menschen. Und die seelischen Wunden heilen schlecht, weil die Betroffenen immer wieder an den Anschlag erinnert werden. MDR-Reporter Stefan Bringezu hat sich bei ihnen umgehört.

Genug von Gesten und Symbolik

Ismet Tekin könnte auf diese Geste gut verzichten. Ihm und seinem Bruder Rifat gehört der Laden, der bis vor Kurzem Kiez-Döner hieß. Und Tekin hat mittlerweile genug von Politikern, die vor seinem Geschäft Kränze oder ähnliches niederlegen. "Den meisten geht es dabei bloß um das Foto. Wie es uns Betroffenen geht oder was wir tatsächlich brauchen, fragt kaum jemand", erzählt er verärgert. Einzig Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand möchte er da ausnehmen. Aber seitdem der suspendiert ist, seien auch die Gespräche mit der Stadt wieder schwieriger geworden, so Tekin. Er hat das Gefühl, ihm würden Steine in den Weg gelegt.

Von der Politik fühlt sich Tekin nach wie vor allein gelassen – seit mittlerweile zwei Jahren. Hilfe kam von anderer Stelle. Zunächst von der mobilen Opferberatung. Dann von Menschen aus dem Viertel. Auch zur jüdischen Gemeinde, dem Hauptziel des Anschlags, pflegt Tekin bis heute enge Kontakte. Erst am Donnerstag nahm er an einer Ausstellungseröffnung teil. Mit dieser soll im Künstlerhaus 188 an die Betroffenen des Anschlags erinnert werden.

Antje Arndt von der Mobilen Opferberatung betreut die Betroffenen seit dem Tag des des Anschlags. Im Video-Interview ist sie sich sicher, dass zwei Jahre nicht ausreichen, um die Tat zu verarbeiten.

"Als ob es gestern war"

Die genannten Gruppen waren es auch, die den Laden mit Spenden unterstützten. Oder die Spenden- und Hilfsaktionen koordinierten. Der Schock des Anschlags hat sie alle zusammengebracht. Daraus ist ein Zusammenhalt entstanden, der bis heute anhält. Auch ohne Kränze ist das Attentat noch heute sehr präsent im Viertel, erzählt eine Passantin in einer Straßenumfrage von MDR SACHSEN-ANHALT: "Es ist eigentlich immer noch so, als war es gestern. Wenn man hier wohnt und das miterlebt hat, vergisst man das nicht."

Ismet Tekin möchte nicht mehr ständig an den Anschlag und seine schrecklichen Folgen erinnert werden. Das sagte er schon vor einem Jahr. Seit August ist sein Laden nun geschlossen und wird umgebaut. Aus dem Kiez-Döner soll Tekiez werden, ein schickes Frühstückscafé. Ein Ort zum Verweilen, eine Begegnungsstätte. Der Tatort soll verschwinden.

100 Helfende packen mit an

Vor dem Eingang deutet eine neue Holzterrasse an, wohin die Reise optisch gehen könnte. Die markanten Schriftzüge und die Emojis an den Fenstern sind verschwunden. An ihrer Stelle hängen Plakate, die an die Geschehnisse vor zwei Jahren erinnern. Betritt man den Laden, fällt es derzeit noch schwer, sich vorzustellen, wie er schon in wenigen Wochen aussehen soll. Denn die Wiedereröffnung ist Ende Oktober, spätestens aber Anfang November geplant, sagt Tekin. In einer Ecke sind runde Platten für die neuen Tische gestapelt. Überall liegen Werkzeuge und Baugeräte herum.

Neben der Eingangstür kniet ein Helfer und verlegt Fließen. Eigentlich sei er Tischler, erzählt er. So wie ihn gibt es viele, die freiwillig mit angepackt haben. Sie nennen sich selbst die "Soli-Gruppe Kiez-Döner". An die 100 seien sie in den zurückliegenden Monaten zeitweise gewesen, schätzt der junge Mann. Um den Umbau mit zu finanzieren, wurden Solidaritäts-T-Shirts verkauft. Darauf ist die Fassade des Geschäfts zu sehen, mit einer geöffneten Tür.  Die Symbolik ist bewusst gewählt: "Wie auf dem T-Shirt sichtbar, stehen die Türen weiterhin offen", erklären die Initiatoren.

Grün und Holz überall

An den Wänden sieht man viel Holz und viel Grün. Kathrin Mangold, die den Umbau als Innenarchitektin ehrenamtlich unterstützt, erklärt, was es damit auf sich hat: "Mein Ziel ist es, aus etwas Bitterem etwas Schönes zu machen. In eine bittere Situation Licht zu bringen", so die Raumgestalterin. Sie ergänzt:

Als ich im November 2020 das erste Mal im Laden war, wollte ich wegrennen. Da war ja gar nichts.

Kathrin Mangold

Deswegen habe sie Ismet und Rifat zunächst mal gefragt, was die sich denn vorstellen. Sie meinten dann, sie wünschen sich das Thema ‚Ausflug in die Natur‘. Die grüne Farbe und das Holz sollen genau das ausdrücken, so Mangold.

Bedrückendes Stadionbild entfernt

Verschwunden ist auch das markante Stadionbild, dass unmittelbar nach dem Anschlag im Laden entstanden war. Mit Schals und Trikots des Halleschen FC. Die Sachen sollten an HFC-Fan Kevin Schwarze erinnern, der im Laden getötet worden war. Doch nicht nur Ismet und Rifat Tekin fühlten sich unwohl damit. Auch viele Gäste bedrückte der Anblick. Mit der Umgestaltung soll der Blick nach vorne gehen. Deswegen wurde das Wandbild entfernt.

Stattdessen erinnert nun eine Gedenktafel auf dem Gehsteig vor dem Laden an die beiden Menschen, die bei dem Anschlag ermordet wurden. Neben Kevin Schwarze war das auch Jana Lange.

Der Umbau des Ladens ist der Versuch, die Geschehnisse vom 9. Oktober 2019 endlich hinter sich zu lassen. Zudem wollen Ismet und Rifat Tekin und alle, die sie unterstützen, zeigen, dass sie sich vom Attentäter und seinen Gleichgesinnten nicht einschüchtern lassen. Dass Liebe und Zusammenhalt stärker sind als Hass.

Klar ist aber auch: Wenn das Tekiez-Café in einigen Wochen eröffnet wird, werden Reiner Haseloff und andere Politiker wohl keine Einladung bekommen. Sondern nur diejenigen, die sich über Wochen und Monate engagiert haben, um den Betroffenen des Anschlags wirklich zu helfen.

MDR/Oliver Leiste

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 08. Oktober 2021 | 08:10 Uhr

7 Kommentare

Thommi Tulpe am 10.10.2021

Mein aufrichtiges Mitgefühl dem Imbiss-Betreiber.
Leider ist es aber in der Regel so, dass Ereignisse "vergessen" werden bzw. aus dem Fokus der Öffentlichkeit geraten, ist erst einmal zumindest etwas "Gras über die Sache gewachsen". Oft besteht auch wenig Interesse, sich einer "Sache" zu intensiv zu erinnern.
Spricht man heute z. B. noch über den Krieg in Syrien?
Hatte sich der Westen nicht erst vor gar nicht so langer Zeit aus Afghanistan zurückgezogen? Wollte man von dort nicht sogenannte Ortskräfte herausholen?
Alles Dinge, wo aus leicht zu durchschauenden Gründen "besser" auch nicht weiter daran erinnert und möglichst nicht mehr diskutiert wird.
Zum Glück besteht unsere Gesellschaft nicht nur aus "vergesslichen" Politikern. Auch gibt es zum Glück innerhalb der Gesellschaft sehr viel mehr Menschen, die solche Ereignisse verabscheuen und verurteilen, als Unmenschen, die für diese Verständnis haben!

Thommi Tulpe am 10.10.2021

Der HFC-Fan wurde nun einmal im Imbiss ermordet - und nicht vor der Synagoge. Eine Gedenktafel vor dem Imbiss wird sicher Gäste abschrecken. Aber ich denke nicht, dass diese dort völlig deplatziert ist - auch wegen möglichen Publikumverkehrs.

SG aus E am 09.10.2021

Möglicherweise sind Gedenkort und funktionierendes Gewerbe nicht gut miteinander vereinbar.

Die Stadt sollte überlegen, ob die Gedenktafel wirklich dauerhaft vor dem Imbiss bleiben soll. Der Text "Terroranschlag ... auf die Hallesche Synagoge und einen Imbiss" legt als Ort eher die Synagoge nahe.

Abgesehen davon ist das Gedenken eine Angelegenheit der ganzen Stadt Halle. So gesehen gehört die Gedenktafel ins Zentrum (z.B. vor das Rathaus).

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