Ausstellung von Talya Feldman Kunst-Projekt einer Überlebenden des Anschlags von Halle: Die Stimmen starker Opfer

08. Oktober 2021, 16:26 Uhr

Talya Feldman überlebte den Anschlag von Halle am 9. Oktober 2019. Sie war damals in der Synagoge. Zum zweiten Jahrestag kehrt die Künstlerin in die Saalestadt zurück – mit Botschaften zahlreicher Überlebender rechten Terrors in Deutschland und einer Ausstellung, die etwas verändern will.

Mit einem weißen Tuch wischt Talya Feldman über den Smartphone-Bildschirm. Es sind letzte Vorbereitungen. Jetzt bloß keine Fingerabdrücke oder Flecken. Denn gleich muss alles passen. Gleich wird ihre Ausstellung im Künstlerhaus Halle eröffnet. "Das fühlt sich bedeutsam an", sagt Feldman, "und notwendig".

18 Lautsprecher hängen an schwarzen Netzen von der Decke, verbunden mit Smartphones. Zu hören: die Stimmen von Überlebenden rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Deutschland. Auch Angehörige von Opfern oder Mitglieder von Initiativen sprechen in verschiedenen Sprachen zu den Besuchern.

Es sind Sprachaufnahmen, die die Kontinuitäten rechten Terrors in Deutschland von 1979 bis heute beleuchten. "The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts", so heißt das Projekt der in den USA geborenen Künstlerin. Frei übersetzt: "Die Gewalt, die wir erfahren haben, lastet schwer auf unseren Herzen." Die Gewalt, die auch sie erlebt hat.

Das Halle-Attentat: "Wir waren alle im Überlebensmodus"

Talya Feldman war am 9. Oktober 2019 in der Synagoge, als ein Attentäter versuchte, einzudringen, um ein Massaker anzurichten. Als ihm dies nicht gelang, erschoss er die 40 Jahre alte Passantin Jana L. und im Kiez-Döner den 20-jährigen Kevin S. Im Dezember 2020 wurde er unter anderem wegen Mordes in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehr als 55 Fällen zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.

Talya Feldman war damals bei Freunden in Halle zu Besuch, um Jom Kippur zu feiern, den höchsten jüdischen Feiertag. Zwei Jahre später möchte sie über ihre Erinnerungen an diesen Tag nicht mehr sprechen. Im vergangenen Jahr sagte sie der taz: "Wir waren alle im Überlebensmodus. Alle haben sich sehr geordnet bewegt, ruhig und logisch. Ich bin der Gemeinde dankbar, dass sie so besonnen war. Das hatte eine beruhigende Wirkung auf mich."

Über die Künstlerin Geboren wurde Talya Feldman 1990 in Denver, Colorado. Studiert hat sie in Chicago und Boston, zuletzt in Hamburg im Fach Zeitbezogene Medien an der Hochschule für bildende Künste.

Über die Opfer des Anschlags von Halle sagte Feldman: "Es gibt keinen Tag, an dem ich nicht an sie und ihre Familien denke. Sie haben die Kugeln abbekommen, die für uns gedacht waren. Mit ihnen bin ich für immer verbunden." Im Vorraum ihrer Ausstellung im Künstlerhaus stehen gerahmte Bilder von Jana L. und Kevin S. – dazwischen ein Blumenstrauß.

Rechte Gewalt in Deutschland: "Das sind keine Einzelfälle"

Wer in den Ausstellungsraum eintritt, hört Erlebnisse mit rechter Gewalt aus den vergangenen 40 Jahren in Deutschland. Ein Fall aus der ehemaligen DDR ist der erste: der ungeklärte Tod der kubanischen Vertragsarbeiter Delfin Guerra und Raúl Garcia Paret am 12. August 1979 in Merseburg. Die Initiative 12. August hat den Fall bekannt gemacht, ein Mitglied kommt in der Ausstellung zu Wort.

Auch Überlebende des Anschlags von Halle sprechen zu den Besuchern und Besucherinnen.

Die aktuellsten Zeugnisse rechter Gewalt sind Sprachnachrichten von Mitfühlenden, die den Angehörigen der Opfer des Anschlags von Hanau im vergangenen Jahr gesendet wurden. Dutzende Stimmen von 18 Schauplätzen rechter Gewalt. Stimmen, die von den Besuchern ganz genau angehört werden, hofft Talya Feldman.

Wir müssen uns die Kontinuität rechter Gewalt in Deutschland bewusst machen. Das sind keine Einzelfälle, sie hängen alle zusammen. Nicht nur in Deutschland, sondern auf der ganzen Welt. Wenn wir das nicht verstehen, gibt es keine Hoffnung, dass wir die Zukunft verändern, dass diese Gewalt ein Ende hat.

Talya Feldman, Künstlerin

Begriff neu denken: "Opfer sind nicht schwach, sondern unglaublich stark"

Die Idee zur Ausstellung kam Feldman während des Prozesses zum Anschlag von Halle. Genauer gesagt am letzten Tag: "Da haben wir so viele Nachrichten von Leuten erhalten, die wir vorher nie getroffen hatten, aber die wussten, dass wir nicht alleine sein sollten und Solidarität brauchten", sagt Feldman. "Das waren tolle Zeichen des Miteinanders, gerade auch in der schwierigen Corona-Zeit." So sammelte die Künstlerin in den vergangenen zwei Jahren weiter Nachrichten – und die multimediale Installation entstand.

Doch nicht nur das: "Die Arbeit an der Ausstellung hat mir auch persönlich Kraft gegeben. Ich habe viel gelernt", sagt Feldman, denn: "Ja, die Stimmen erzählen von viel Verlust und Schmerz. Aber gleichzeitig ist da so viel Kraft, so viel Widerstandsfähigkeit. Sie sagen, dass es Zeit für Veränderungen ist. Zeit, um zuzuhören, um zusammenzuarbeiten und so eine bessere Zukunft zu schaffen."

Was ihr wichtig ist: den Begriff der Opfer neu zu denken. "Wir müssen darüber reden, wie wir über die sprechen, die rechte Gewalt am meisten betrifft oder betroffen hat. Oft werden Opfer von rechter Gewalt marginalisiert oder als schwach dargestellt", sagt sie. Aber: "Wir sind nicht schwach, nur weil wir Überlebende oder Opfer sind. Gerade deshalb, weil wir das überstanden haben, sind wir unglaublich stark und unsere Stimmen müssen gehört werden."

Eine dieser Stimmen, die in der Ausstellung zu Wort kommt, ist die von Ibrahim Arslan. 1992 überlebte er den rassistischen Brandanschlag auf das Wohnhaus seiner Familie in Mölln, Schleswig-Holstein. Mehrere seiner Verwandten kamen ums Leben. Im Künstlerhaus ist seine Stimme aus dem Smartphone zu hören: "Wir sind die Hauptzeugen des Geschehens", sagt er und erklärt, dass Überlebende und Opfer rechter Gewalt gehört werden sollten, um etwas zu verändern.

Botschaft: "Wir sind hier und wir bleiben hier"

"The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts" – auch der Titel der Ausstellung ist von einer der Stimmen zu hören. Vorgelesen aus einem Brief von einem anderen Betroffenen rechter Gewalt, adressiert an Ahmed I. Der irakische Flüchtling wurde 2016 auf offener Straße niedergestochen – und zwar vom späteren Mörder Walter Lübckes, davon ist jedenfalls die Bundesanwaltschaft überzeugt. Ahmed I. überlebte.

Über die Ausstellung Die Ausstellung "The Violence We Have Witnessed Carries a Weight on Our Hearts" ist bis zum 21. Oktober im Künstlerhaus 188 e.V. im Böllberger Weg 188, 06110 Halle zu sehen.

Die audiovisuelle Installation von Talya Feldman beleuchtet die Kontinuitäten rechten Terros in Deutschland von 1979 bis heute anhand von Sprachaufnahmen von Überlebenden, Familien der Opfer und Initiativen aus 18 Städten.

Im Prozess um den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke im Juni 2019 trat Ahmed I. im vergangenen Jahr als Nebenkläger auf. Im Zuge dessen erreichte ihn unter anderem ein Brief von Unterstüztern und Unterstützerinnen aus ganz Deutschland. Sie wollten ihm während der Pandemie so beistehen.

In dem Brief heiße es weiter, dass die Gewalt nicht nur die Herzen der Betroffenen belaste, sondern auch die Gemeinden oder Länder, erzählt Talya Feldman. Also auch Deutschland. Sachsen-Anhalt. Halle. Aber: "Wir sind hier und wir bleiben hier", sagt sie. "Wir werden weitermachen – das ist der Kern vieler dieser Nachrichten." Und der Antrieb für ihre Arbeit.

Über den Autor Daniel George wurde 1992 in Magdeburg geboren. Nach dem Studium Journalistik und Medienmanagement zog es ihn erst nach Dessau und später nach Halle. Dort arbeitete er für die Mitteldeutsche Zeitung.

Vom Internet und den neuen Möglichkeiten darin ist er fasziniert. Deshalb zog es ihn im April 2017 zurück in seine Heimatstadt. Bei MDR SACHSEN-ANHALT arbeitet er seitdem als Sport-, Social-Media- und Politik-Redakteur, immer auf der Suche nach guten Geschichten, immer im Austausch mit unseren Nutzern.

MDR/Daniel George

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT HEUTE | 07. Oktober 2021 | 19:00 Uhr

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