Ein Mann und eine Frau sitzen am späten Nachmittag am Ufer eines Sees auf einer Bank. Daneben gehen Menschen mit einem Kinderwagen.
Die Geburtenrate in Sachsen-Anhalt ist niedrig wie nie. Das liegt auch an den vielen Krisen in der Welt, glaubt eine Kinderärztin aus Sangerhausen. (Symbolbild) Bildrechte: picture alliance/dpa

Spätfolgen der Corona-Pandemie Geburtenrate niedrig wie nie: "Es gibt eine stärkere Unsicherheit"

30. Juli 2023, 16:51 Uhr

Die Geburtenrate in Sachsen-Anhalt ist nah an den historischen Tiefststand gefallen. Bislang blieb diese Meldung relativ unbeachtet. Aber sie ist ein deutliches Zeichen dafür, dass junge Familien vor großen Herausforderungen stehen. Die Nachwehen der Corona-Pandemie sind dabei aber nur ein Teil des Problems.

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Bildrechte: Uli Wittstock/Matthias Piekacz

Geht man an einem Montagvormittag durch Sangerhausen, dann hat man den Eindruck, in einem verlängerten Wochenende sein. Es sind kaum Menschen unterwegs. Mit einem Durchschnittsalter von 50 Jahren gehört Sangerhausen, wie viele andere Orte auch, in Sachsen-Anhalt zu den alternden Städten.

Während der Corona-Pandemie wurde deutlich, dass alternde Gesellschaften dazu neigen, im Risikofall die Interessen jüngerer Generationen hinten an zu stellen. Einige der damaligen Entscheidungen zeigten dies deutlich. Dass zum Beispiel die Schließung von Kindergärten und Schulen ein Fehler war, ebenso wie das Absperren von Spiel- und Sportplätzen, darf inzwischen wohl auch unter Virologen als Mehrheitsmeinung gelten. Doch diese Einschränkungen haben Langzeitwirkungen, die erst jetzt in den allmählich in den Blick kommen.

Geburtenrate nah am historischen Tiefststand

Im Jahr 2022 wurden in Sachsen-Anhalt 14.506 Kinder geboren, das ist nah am Tiefststand des Landes aus dem Jahr 1994. Damals kamen nur 14.280 Jungen und Mädchen zur Welt, eine Folge der wirtschaftlichen Umbrüche nach der Wende. Familien entscheiden sich in unsicheren Zeiten möglicherweise erstmal nicht für ein Kind.

Dr. Alexandra Voigt ist Chefärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin an der Helios Klinik Sangerhausen. Sie hat durch die Geburtsstation der Klinik mit Familien aus allen sozialen Schichten zu tun und beobachtet dabei eine Veränderung: "Aus meiner Sicht gibt es eine stärkere Unsicherheit. Man weiß nicht, was kommt. Viele fragen sich, was passiert, also wirtschaftlich und finanziell, aber auch gesundheitlich. Ich denke, das hinterlässt Spuren." Es braucht Zuversicht, um Kinder zu bekommen und an dieser Zuversicht scheint es derzeit bei vielen Familie zu fehlen.

Probleme, den Alltag zu meistern

Von multiplen Krisen spricht die Wissenschaft, also von "Vielfachkrisen", die derzeit bis in den Alltag der Menschen spürbar sind. Das erschwert den Neustart nach der Pandemie, so die Beobachtung von Chefärztin Alexandra Voigt: "Unter den Corona-Bedingungen war der soziale Kontakt auch unter den jungen Familien eingeschränkt. Junge Familien brauchen aber der Austausch mit Gleichaltrigen und das ist verloren gegangen."

Aus meiner Sicht gibt es eine stärkere Unsicherheit. Man weiß nicht, was kommt. Viele fragen sich, was passiert, also wirtschaftlich und finanziell, aber auch gesundheitlich. Ich denke, das hinterlässt Spuren.

Dr. Alexandra Voigt Chefärztin für Kinderheilkunde und Jugendmedizin in Sangerhausen

Soziale Kontakte aufrecht zu halten, ist immer mit Engagement und Aktivität verbunden. Wenn dafür aber Zeit und Kapazitäten fehlen, dann droht Vereinsamung, wovon vor allem jene Familien betroffen sind, die ohnehin mit einem schwierigen Lebensumfeld zu kämpfen haben. Aus deshalb falle das Problem bislang kaum auf, erklärt die Medizinerin: "Ich denke, das kommt so bröckchenweise hervor, weil die jungen Familien gar nicht so im unmittelbaren Fokus stehen."

Soziale Verantwortung ernst nehmen

Gesundheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Krankheit. Da ist keine neue Erkenntnis, die allerdings im Klinikalltag nicht so leicht umzusetzen ist, denn eine Medizin gegen die Angst vor sozialer Ausgrenzung gibt es nicht. Dennoch hat Alexandra Voigt ein waches Auge: "Als Kinderärztin weiß ich, dass soziale Faktoren natürlich auch die Gesundheit beeinflussen. Das wussten wir schon länger. Und wir als Krankenhaus haben natürlich auch eine Chance, dies positiv mit zu beeinflussen."

Eine Ärztin steht in blauem Kittel vor der Eingangstür eines Krankenhauses in Sangerhausen.
Alexandra Voigt ist Chefärztin für Kinderheilkunde in Sangerhausen. Bildrechte: MDR/Uli Wittstock

Dazu braucht es allerdings ein Netzwerk, das in Sangerhausen gut funktioniere. Man arbeite eng zusammen mit dem Jugendamt oder auch mit dem Gesundheitsamt, das die Vorsorgeuntersuchungen für Kinder verantwortet. So gelingt es zumindest jenen Familien ein Hilfsangebot zu machen, bei denen Defizite frühzeitig erkannt werden.

Babylotsen als neues Hilfsangebot

Doch nun soll das Angebot weiter ausgebaut werden, weil die Betreuung junger Familien immer komplexer wird – was dazu führt, dass Probleme übersehen werden können. Am Klinikum Sangerhausen werden demnächst zwei Babylotsinnen das Team der Geburtsstation unterstützen: "Die Babylotsen übernehmen eine Vermittlungsrolle zwischen unserem klinischen Alltag und den Behörden, so dass die Hilfe individuell für jede Familie organisiert werde kann", erklärt Alexandra Voigt. Neugeborene verändern den Alltag von Familien sehr stark und so bleibt nicht immer Zeit, sich um Anträge, Bescheinigungen oder Hilfen zu kümmern. Ob und welche Unterstützung möglich ist, das sollen Babylotsinnen in Kooperation mit den Familien gemeinsam entscheiden.

Dr. Alexandra Voigt, Chefärztin für Kinderheilkunde an der Helios Klinik Sangerhausen 1 min
Bildrechte: MDR/Uli Wittstock
1 min

Am Klinikum Sangerhausen unterstützen zwei Babylotsinnen junge Familien. Sie vermitteln zwischen klinischem Alltag und den Behörden. Dr. Alexandra Voigt ist Chefärztin an der Helios Klinik und erklärt das Berufsfeld.

MDR SACHSEN-ANHALT So 30.07.2023 12:00Uhr 00:27 min

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/halle/mansfeld/video-sangerhausen-babylotsin-unterstuetzung-familie-100.html

Rechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Video

Gefördert wird das Projekt vom Sozialministerium des Landes. Aus vielen Untersuchungen weiß man, dass die ersten Lebensjahre prägend sind für die weitere Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. So wie die Herausforderungen für junge Familien steigen, so steigen auch die Anforderungen, sie in ihrem schwierigen Alltag zu begleiten. Einfacher dürfte das in den nächsten Jahren nicht werden.

MDR (Uli Wittstock)

Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN-ANHALT – Das Radio wie wir | 30. Juli 2023 | 10:00 Uhr

88 Kommentare

Anita L. vor 38 Wochen

@Britta.Weber, es könnte daran liegen, dass Corona etwas mehr als ein "Virus, das die Atemwege befällt", und definitiv nicht mit einer regulären Grippewelle vergleichbar ist und vielen Menschen gerade die Unwägbarkeiten einer Pandemie (wie wir sie bisher nur aus Geschichtsbüchern) bzw. einer tödlichen Ansteckungskrankheit (wie wir sie bisher nur aus den Nachrichten aus anderen Weltteilen kannten) bewusst geworden sind. Nicht jeder verharmlost dieses Virus so, wie Sie das anscheinend tun. Es muss auch Ihnen gar nicht "einleuchten", dass sich offenbar viele (junge) Menschen davon in ihrer Lebensplanung beeinflussen lassen, solange eben Umfragen und Statistiken belegen, DASS dem so ist.

Anita L. vor 38 Wochen

@Britta.Weber, ob Ihnen das ein Japaner so pauschal unterschreibt? Der hohe Erwartungsdruck, der gerade an den jungen und erwerbsfähigen Menschen lastet, führt in Japan immer häufiger zu Verweigerungshaltung. Die Hikikomori haben nicht umsonst ihren Ursprung in Japan, die Selbstmordrate ist gerade unter Jugendlichen überdurchschnittlich hoch und wer sich ernsthaft mit Mangas auseinandersetzt, sieht den Generationenkonflikt auch auf künstlerischer Ebene kommuniziert. Aber man kann natürlich auch die Augen davor verschließen und den sozialen Zwang als "guten Zusammenhalt" schönreden.

Anita L. vor 38 Wochen

Ich hätte Ihnen sonst wohl nicht geantwortet, nicht wahr? Allerdings fühle ich mich sehr wahrscheinlich nicht auf der Ebene angesprochen, die Sie möglicherweise vermuten. Um den Spekulationen entgegenzuwirken: Wie viele, wie Sie sie nennen, "Me_and_Myself Bürger" kennen Sie denn? Und mit "kennen" meine ich tatsächlich kennen und nicht Vorurteile bilden, weil man mal einen gesehen oder auf Arbeit mit ihm zusammengearbeitet hat.

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