Diskussion Wie die Polizei in Sachsen mit Antisemitismus umgeht
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09. November 2023, 15:48 Uhr
In der Reichsprogromnacht verbreiteten Nationalsozialisten Schmerz und Leid unter der jüdischen Bevölkerung, verwüsteten Läden, zündeten Synagogen an. Der staatlich gelenkte Antisemitismus kulminierte in der Massenvernichtung deutscher und europäischer Juden. Heute, 85 Jahre später, flammt der Hass auf Juden in neuen Ausprägungen in Deutschland auf. Darauf reagiert die sächsische Polizei.
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- Sachsens Polizei startet eine Kooperation mit jüdischen Gemeinden, um Antisemitismus zu begegnen.
- Mit dem Nahostkonflikt hat sich das Leben der Juden in Deutschland verändert.
- Judenfeindlichkeit zeigt sich heute anders als zur Zeit des Nationalsozialismus.
Warum ist ein gebürtiger Ungar Militär-Rabbiner der deutschen Bundeswehr? Diese Frage stellte eben dieser ans Auditorium in der Polizeihochschule Rothenburg. Zsolt Balla, Militär-Rabbiner und Landesrabbiner von Sachsen. Als Balla zur Wendezeit durch einen Beschluss der Kohl-Regierung für jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche nach Leipzig kam, lebten dort gerade einmal 25 Juden. "Es gab im vereinigten Deutschland kein jüdisches Leben mehr", urteilt Balla.
Auch zwei Jahrzehnte später ist die Zahl der jüdischen Bevölkerung in Sachsen überschaubar: etwa 1.200 in Leipzig, 800 in Dresden, um die 600 in Chemnitz, 20 in Görlitz, wie der Landesrabbiner vor den Studierenden an der Polizeihochschule aufzählt.
1990 gab es im vereinigten Deutschland kein jüdisches Leben mehr.
Kooperation der Polizei mit jüdischen Gemeinden
Am Mittwochabend fand in Rothenburg in der Oberlausitz der Auftakt für eine engere Zusammenarbeit zwischen der Polizei und den jüdischen Gemeinden in Sachsen statt. Unter dem Stichwort "Antisemitismus begegnen" sollen in der Aus- und Fortbildung der Polizistinnen und Polizisten Aspekte des jüdischen Lebens künftig eine größere Rolle spielen. Neun Workshops laufen dazu konkret in den nächsten Wochen, kündigte der Rektor der Polizeihochschule, Dirk Benkendorff, an.
Aktuell erlebe man in Deutschland einen Antisemitismus in erschreckendem Ausmaß. "Wir nehmen eine Stimmung der Abgrenzung und des Hasses wahr, die uns sehr betroffen macht", so Benkendorff.
Neue Lage seit dem Nahostkonflikt
Seit dem Angriff der Hamas gegen Israel Anfang Oktober hat die Polizei in Sachsen die Sicherheitsmaßnahmen an jüdischen Einrichtungen verstärkt, wofür Landesrabbiner Balla am Abend mehrmals seinen Dank ausspricht. Denn der Nahostkonflikt ist in Deutschland präsent. Balla ziehe sich eine Baseballkappe über seine Kippa, wenn er auf die Straße geht. "Eine Kippa - das religiöse jüdische Zeichen - auf der Straße zu tragen, ist heute tatsächlich leider gefährlich."
Eine Kippa - das religiöse jüdische Zeichen - auf der Straße zu tragen, ist heute tatsächlich leider gefährlich.
Vor dem Krieg der Hamas und Israel habe es in Deutschland hauptsächlich "Mikroanfeindungen" gegeben, erinnert sich Balla. Das seien zum Beispiel abfällige Äußerungen oder das Ausspucken vor dem Menschen. "Aber jetzt wurde auf die Schule meiner Tochter in Berlin ein Molotow-Cocktail geworfen. Das ist ernst."
Antisemitismus hat sich verändert
Die Kooperation zwischen den jüdischen Gemeinden und der Polizei sei in den vergangenen zwei Jahren intensiv vorbereitet worden und keine kurzzeitige Reaktion auf das aktuelle Geschehen. Denn Hochschuldozent Prof. Tom Thieme stellt bei seinen Studierenden immer wieder Wissenslücken über das jüdische Leben und die Erscheinungsformen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit fest. Diese Lücken gelte es zu füllen.
Antisemitische Verschwörungskampagnen sind mit der Zuwanderungsbewegung und der Pandemie in Erscheinung getreten.
So habe sich der Antisemitismus in Deutschland gewandelt, erklärt Thieme. Der Klischee-Antisemitismus - der völkisch-rassistische -, dass der Jude als Volksfeind gilt, der dem vermeintlich deutschen homogenen Volkskörper schädige, trete zurück.
Vielmehr habe sich ein Judenhass im Zusammenhang mit der Zuwanderungsbewegung 2015/2016 und der Covid-19-Pandemie Bahn gebrochen. Mit den Verschwörungsmythen, dass das alles die Machenschaften einer jüdischen Elite seien, die im Hintergrund die Strippen ziehe und eine neue Weltordnung anstrebe. "Da ist dann von 'Plandemie' die Rede oder auch von 'Umvolkung', die Veränderungen der nationalen Identitäten Europas." Diesen Antisemitismus zu erkennen, sei nicht einfach.
Zudem komme er aus unterschiedlichen Richtungen, wie der Historiker Dr. Olaf Glöckner bei der Veranstaltung aufzeigt: Während in Deutschland traditionell der rechtsextreme Antisemitismus vorherrsche, habe sich in den vergangenen Jahren der radikalislamistische Antisemitismus professionalisiert. Seit den 1960er Jahren existiere außerdem der Antisemitismus von links und gerade jetzt sichtbar sei der Israel-bezogene Antisemitismus.
Vorfälle in den eigenen Reihen
Auch die sächsische Polizei ist vor menschenfeindlichen Ausfällen nicht gefeit. So gab es jüngst unter den Polizeischülern Fälle von extremistischen und menschenfeindlichen Äußerungen.
Wir informieren die Öffentlichkeit über jeden Fall, der einen Bezug zu politisch motivierter Kriminalität haben könnte.
Eine besondere Anfälligkeit für eine antisemitische Gesinnung bei Sachsens Polizeidienstanwärtern weist der Hochschulsprecher Thomas Knaup zurück. Man gehe aber als sächsische Polizei sehr transparent mit dem Fehlverhalten eigener Bediensteter um. "Wir informieren die Öffentlichkeit tatsächlich über jeden Fall, der einen Bezug zu politisch motivierter Kriminalität haben könnte. So mag vielleicht der Eindruck entstehen, dass es vermehrt Fälle sind", so Knaup.
Menschenfeindlichkeit nicht dem Selbstlauf überlassen
Den Studierenden der Hochschule gibt Landespolizeipräsident Jörg Kubiessa am Mittwochabend eine deutliche Botschaft mit: Die Polizei, die das Gewaltmonopol ausübe, also das Recht habe, in bestimmten Situationen Gewalt anzuwenden, dürfe ihre Rolle nicht vergessen. "Unser Auftrag ist, immer dafür zu sorgen, dass die Würde des Menschen unantastbar bleibt", betont Kubiessa. "Wir setzen durch, dass Menschen friedlich miteinander leben."
Unser Auftrag ist, immer dafür zu sorgen, dass die Würde des Menschen unantastbar bleibt.
Und: Solange es den Antisemitismus gibt, sei es immer wieder auch eine Aufgabe der Polizei, sich damit auseinanderzusetzen, ihn zu erkennen und sich zu distanzieren und es nicht dem Selbstlauf zu überlassen, so Kubiessa.
Hintergrund
* Seit 2022 kooperiert die sächsische Polizei mit dem Landesverband Sachsen der Jüdischen Gemeinden im Bereich der Ausbildung und Fortbildung.
* Die Kooperation wurde in den vergangenen Monaten konkretisiert und startet nun in die Umsetzung.
* Sie umfasst mehrere Elemente, darunter ein Schulungsprogramm für Studierende, um Antisemitismus zu erkennen, einzuordnen und einen sensiblen Umgang mit Betroffenen zu ermöglichen.
* Auch starten Online-Vorträge zum Thema Antisemitismus, die sich an alle Polizeibediensteten richten.
* Der Landesverband der jüdischen Gemeinden will zudem bei der polizeilichen Ausbildung mit den drei Polizeifachschulen der Hochschule der Sächsischen Polizei in Schneeberg, Chemnitz und Leipzig zusammenarbeiten.
MDR (ama)
Dieses Thema im Programm: MDR SACHSEN | MDR SACHSENSPIEGEL | 09. November 2023 | 19:00 Uhr