Ein Fluss mit Bäumen im Morgenlicht
Hier hat der Fluss wieder Platz: Die breite Wasserfläche kühlt die Luft rund um die Gera bei Erfurt Hochheim. Bildrechte: MDR/Loréne Gensel

Renaturierung Mehr Platz für Flüsse in Thüringen: Naturschutz und Landwirtschaft im Clinch über Folgen

16. Juli 2023, 18:03 Uhr

So erbittert wie zuletzt war eine Auseinandersetzung im Europaparlament selten. In der Diskussion um das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur prallten zwei Lager heftig aufeinander. Besonders heftig umstritten ist die Renaturierung von Flüssen. Zwei Beispiele aus Thüringen zeigen die Gründe für diesen Streit.

Donnerstagmorgen, 13. Juli 2023, kurz nach sechs. In der Flussaue der Gera kurz vor Erfurt-Hochheim ist das morgendliche Vogelkonzert noch in vollem Gange. Plötzlich erhebt sich ein metallicblaues Etwas und fliegt in den dunkelgrünen Schatten des Laubes einer Esche. "Ein Eisvogel" sagt Stephan Gunkel erfreut, aber wenig beeindruckt. "Brütet hier. Früher war er manchmal als Gast da. Aber seit wir etwas getan haben, ist er hier zu Hause."

Kurz danach steht Gunkel mit drei Sätzen mitten im Wasser und zeigt, was hier das Besondere ist: Flache und tiefe Stellen, schnell und langsam fließendes Wasser mit Stellen, an denen es fast steht. Und als Folge davon eine Strukturvielfalt des Untergrundes: Grobe Steine in der Tiefe, grober und feiner Kies an flacheren Abschnitten, mikrofeine Sedimente wieder an anderen Stellen.

Gute Lebensräume in bewegtem Wasser

Je mehr sich Wasser bewege, umso mehr Sediment lagere es ab, erklärt Gunkel. "In jeder dieser Gesteins- und Kiesschichten wohnen andere Pflanzen und Tiere", fügt er hinzu und schwärmt von der Artenvielfalt in einem gesunden Gewässer.

Stephan Gunkel, Inhaber des Flussbüros Erfurt und Diplomingenieur für Landschaftsnutzung und Naturschutz muss es wissen. Er und sein Team haben die Renaturierung für den rund 1,5 Kilometer langen Abschnitt der Gera mit geplant und das Konzept für die anschließende Bepflanzung geschrieben.

Ein Flussbett mit Steinen verschiedener Größen
Steinbrocken, Kies und feiner Sand: Bewegtes Wasser transportierte Sedimente aller Art. Bildrechte: MDR/Loréne Gensel

Fluss kann sich wieder besser ausbreiten

Renaturierung heißt hier: Der Fluss hat wieder mehr Luft bekommen. "Man muss sich einfach vorstellen, dass die ursprüngliche Flussaue zwischen zehn- und zwanzigmal breiter war als der Raum, den der Fluss zuletzt zur Verfügung hatte. Wir Menschen haben ihn an den Rand seines Tales gedrängt. Die Pächter haben ihre Kleingärten hier über Jahre immer weiter in den Fluss gebaut. Ursprünglich ist der Fluss in weiten Bögen hin und her gependelt. Und die Flächen wurden ja auch bis zuletzt regelmäßig überschwemmt."

Wir Menschen haben ihn an den Rand seines Tales gedrängt.

Stephan Gunkel Diplomingenieur

In den Jahren 2020 bis 2022 wurde diese Fläche deshalb völlig verändert. Ein Teil der Kleingärten am Ufer musste weichen. Nach dem Abriss der Häuschen und Bungalows rückten Bagger an. Sie trugen einen Teil des Ufers ab, schufen kleine Nebenarme und Verzweigungen. Inseln entstanden. Dort, wohin sich der Fluss nun bei Hochwasser wieder ausdehnen darf, stehen noch alte Obstbäume aus der Zeit der Kleingärten. Neu gepflanzte Stämme sind dazugekommen, eine krautige Insektenwiese entstand, einheimische und auch eingewanderte Pflanzenarten siedelten sich an.

Platz für den Fluss zum Ausbreiten: Neugestaltete Wiese in der Gera-Aue bei Erfurt Hochheim.
Platz für den Fluss zum Ausbreiten: Neugestaltete Wiese in der Gera-Aue bei Erfurt Hochheim. Bildrechte: MDR/Loréne Gensel

Breite Wasserfläche kühlt Mikroklima am Fluss

Es ist angenehm frisch hier und viel kühler als in der Stadt - auch am Morgen spürt man das schon. Der Gedanke, wie schön das an den besonders heißen Tagen sein mag, drängt sich auf.  Der Fluss sei breiter und langsamer geworden, lenkt Gunkel den Blick auf den Effekt der Veränderung, das Mikroklima sei nun ein anderes. Statistisch gesehen trete der Fluss auf diesem Abschnitt alle 10 Jahre über seine Ufer.

"Und damit das Wasser nicht irgendwann auf dem Domplatz steht, genau dafür braucht es solche Flächen." Gunkel verweist darauf, dass 80 Prozent der Gewässer in Thüringen bereits in keinem guten Zustand sind. Er nennt Flussabschnitte wie diesen Inseln der Lebensqualität für Mensch und Tier. Hotspots der Biodiversität.

Mit ihrer Artenvielfalt auf vergleichsweise kleinem Raum seien sie für Mitteleuropa das, was der Regenwald für den gesamten Globus ist. Und das sei möglich, weil der Fluss mit der Kraft des Wassers die Landschaft immer mal wieder umgestaltet, dabei Lebensräume für immer neue Tier- und Pflanzenarten schafft.

Renaturierung Anlass für erbitterten Streit

Genau um das, was sich an einem kleinen Abschnitt der Gera verändert hat, wurde im Europäischen Parlament in den letzten Wochen erbittert gestritten. Die Europäische Kommission hatte den Abgeordneten einen Entwurf vorgelegt für ein Gesetz zur Wiederherstellung der Natur. Dem nachhaltigen Schutz des Klimas und der Artenvielfalt sollen die Regelungen dienen. Ein Streit entbrannte in Straßburg und Brüssel, der sich besonders heftig um die Renaturierung von Flussgebieten drehte und nach wie vor dreht.

25.000 Flusskilometer sollen in Europa bis 2030 in frei fließende Flüsse umgewandelt werden. Befürworter argumentieren wie Flussexperte Gunkel. Der rechnet vor, dass drei Prozent der Landesfläche von Thüringen betroffen wären, wenn man dieses Ziel ernst nehme. Das sei ein Bruchteil der Fläche, die für Landwirtschaft, Siedlungen und Infrastruktur derzeit genutzt werde. "Wir wären schön bescheuert, wenn wir Flächen mit einem derart hohen Potential für Artenvielfalt wie die Fluss- und Bachauen, die uns beim Überleben helfen, nicht nutzen würden", sagt Gunkel.

Thüringer Europaabgeordnete mit tiefer Skepsis

Unter den Gegnern des EU-Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur ist Thüringens einzige Europaabgeordnete Marion Walsmann (CDU). Wie die anderen Widersacher aus dem konservativen Lager im Europaparlament fürchtet auch sie, dass die Renaturierung von 25.000 europäischen Flusskilometern 20 Prozent der landwirtschaftlichen Anbaufläche und damit die Ernährungssicherheit gefährdet.

"9,1 Millionen Betriebe könnte das die Existenz kosten", sagt Walsmann und stimmte am letzten Mittwoch in Straßburg gegen das Gesetz. Die Mehrheit dafür war sehr knapp. Walsmann hofft noch auf Änderungen, wenn die EU-Kommission jetzt mit dem Parlament und den Mitgliedsstaaten über den endgültigen Wortlaut verhandelt.

Begradigtes Flussbett als "Schnellstraße" für Wasser

René Döring fürchtet im Moment nicht um die Existenz seines Betriebes. Als einer von drei Geschäftsführern der "Geratal Agrar GmbH & Co. KG" weiß er aber, wie umfassend sich die Renaturierung eines Flussbettes auf die Landwirtschaft auswirken kann. Nördlich von Erfurt ist die Gera ein Fluss, der auf vielen Abschnitten wie mit dem Lineal gezogen durch die Landschaft strömt.

Von Menschenhand begradigt und mit hohen Deichen abgeschirmt. In den letzten Hochwasserjahren haben die ihre Schwächen offenbart. Im jetzigen Ausbauzustand wird der Fluss umso schneller, je mehr Wasser sein Bett aufnehmen muss. Die Gera hat hier das Potential, bei extremen Starkregen eine Katastrophe in der Region nördlich von Erfurt auszulösen. Döring hat das im Hinterkopf, wenn er sagt, dass er kein Verständnis hat für die Diskussion um die Renaturierung von Flüssen in Europa.

Felder sollen Wassermassen regelmäßig auffangen

Nördlich von Erfurt plant das Land Thüringen zwischen Kühnhausen und der Mündung der Gera in die Unstrut ein 63 Millionen Euro teures Projekt zum Schutz vor Hochwasser. Dreh- und Angelpunkt ist, die vorhandenen Deiche abzubauen und zu ersetzen durch ein System von Dämmen, die niedriger sind, weiter weg vom Fluss und mitten durch die Felder rechts und links verlaufen sollen.

Eine der umfangreichsten Hochwasserschutzmaßnahmen in ganz Deutschland, weiß René Döring zu berichten. Östlich von Walschleben ist die erste Stufe dieses Programm bereits Realität und der Ort nun besser vor Überflutung geschützt. Der Rest soll bis 2029 fertig werden, die Bauarbeiten 2024 beginnen. 840 Hektar Land östlich und westlich der Gera sollen umgewidmet werden, sodass sich der Fluss ausbreiten kann, wenn extreme Wassermassen durch sein Bett rollen.

Eine Karte mit Flächen von oben
Im rechten Drittel ist die Gera zu sehen - Begradigt, wie mit dem Lineal gezogen. Bildrechte: TLUBN

Hochwasserschutz wird Agrarbetrieb hart treffen

Bei diesen 840 Hektar geht es nicht um irgendwelche Flächen. Es geht um fruchtbaren Boden, den die Menschen der Region dem Fluss erst mühsam abgerungen haben, um dort Feldfrüchte ernten zu können. Schon vor mehr als 100 Jahren wurde die Gera dort begradigt. Döring rechnet vor, dass der dort geplante Hochwasserschutz 25 Prozent der Anbaufläche von "Geratal Agrar" betreffen wird.

Flächen, die im Fall von Hochwasser unter Wasser stehen. Flächen, die dann - höchstwahrscheinlich - häufiger geflutet werden, als es die Menschen in der Umgebung bisher gewohnt sind. Einfach, weil die Deiche unmittelbar am Flussbett nicht mehr so hoch sein werden wie jetzt, damit das Wasser auch abfließt in die Aue.

Wir müssen aufpassen, dass wir uns diese Flächen nicht kaputtmachen.

René Döring Geschäftsführer Geratal Agrar Andisleben

Folgen von wiederholter Überflutung unklar

Das Land Thüringen hat den Landwirten dort zugesagt, sie 25 Jahre lang für ihre Ernteausfälle zu entschädigen. Döring als Landwirt mit Verantwortung für 80 Mitarbeiter fragt sich nicht nur, was anschließend sein wird. Er fragt sich auch, was die Wassermassen mit den Böden rund um den Fluss machen werden. Vorteile durch stärkere Vernässung zwischen Deichen und Fluss?

Bessere Grundwasserstände in der Gegend durch Versickern statt schnellem Abfließen? Döring kann sich das nicht so recht vorstellen. Er denkt bei Überflutung an Verdichtung seiner Böden und an angeschwemmte Rückstände, die auf den Flächen liegen bleiben. 

Sorge um fruchtbare, aber trockene Böden

"Das Thüringer Becken gehört zum fruchtbarsten Ackerland in Deutschland." argumentiert Döring vehement. "Hier können wir Weizen anbauen und alles, was die Bevölkerung braucht." Zwischen Flächenstilllegungen, Blühstreifen für den Artenschutz und Ausgleichsmaßnahmen für Bauprojekte müsse man im Auge behalten, was Maßnahmen für Folgen haben.

"Wir müssen aufpassen, dass wir uns diese Flächen nicht kaputtmachen. Weil wir dann die Nahrungsmittel mit Lastern von weit weg hierherbringen müssen. Und das darf nicht das Ziel sein." Dass Böden im Thüringer Becken, das zu den trockensten Gebieten in Thüringen gehört, besser werden könnten durch regelmäßige Überflutung und besseren Wasserrückhalt, das kann sich Döring einfach nicht vorstellen.

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MDR (dst)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Das Fazit vom Tag | 16. Juli 2023 | 18:00 Uhr

3 Kommentare

Gurg vor 41 Wochen

Ja, die Böden in den Auen sind fruchtbar, weil es früher regelmäßig Überschwemmungen gab. Der zitierte Bauer lebt auch von dieser früher angereicherten Fruchtbarkeit. Mehr Wasser in der Landschaft zu halten ist auch notwendig.

In der Agrarsteppe nördlich Erfurt ist ohnehin kaum Raum für Natur übrig.

vieldenker vor 41 Wochen

Zurück zu den Wurzeln. Keine Überproduktion mehr, die in der Tonne landet, statt dessen Flussauen mit Schlängelläufen, die den Grundwasser Spiegel wieder steigen lassen. Fruchtbare Böden ohne Wasser bringen auch keinen Ertrag.......Gürtel enger schnallen und Flüsse renaturieren ! Weniger Flächen intensiv nutzen, zurück zu Auen-und Wiesen Landschaften. Ich weiß harte Worte, aber das ist meine Meinung, muss nicht jeder teilen. Schönen Abend.

SimWin vor 41 Wochen

Also ich hatte einst in der Schule gelernt, dass beispielsweise das Nildelta in Ägypten gerade deshalb fruchtbar wurde, weil der Nil regelmäßig über die Ufer getreten ist und allerlei Schwebstoffe und Algen etc. auf den sonst für die Bewirtschaftung zu kargen Boden gebracht hat. Nun sind sicherlich die Flüsse in Deutschland bzw. in Thüringen nicht in Gänze mit dem Nil vergleichbar, aber das eine regelmäßige Überflutung der Ackerfläche nachteilig für den Boden wäre, halte ich für reines Lobbyieren der Bauern; meine Meinung.

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