Polizisten tragen einen Mann von der Straße.
Belarussische Spezialkräfte verhaften einen oppositionellen Demonstranten. (Archivbild) Bildrechte: picture alliance/dpa/TASS | Stringer

Belarus Wie das Regime in Minsk die Daumenschrauben anzieht

15. Januar 2024, 16:49 Uhr

In Belarus nimmt die Verfolgung der Opposition zu. Oppositionelle und ihre Angehörigen werden immer brutaler behandelt. Ein Präsidentenerlass erschwert ins Ausland geflüchteten Belarusen die Verlängerung des Reisepasses und andere Behördengänge. Die Spirale der Repressionen wird durch Sicherheitskräfte vorangetrieben. Sie sind Profiteure des Regimes und entwickeln neue Formen der Gewalt.

Es sei ein "Regime der Stille", das Belarus beherrscht. So beschrieb der belarusische Politikanalyst Artyom Shraibman in einem Artikel für Meduza, einem russischsprachigen Internetportal mit Sitz in Lettland, die Situation in seinem Heimatland. Dieses Regime ziehe die Repressionsschraube für Oppositionelle und die Zivilgesellschaft immer enger und versuche dabei, jeglichen Blick von außen in die Verhältnisse in Belarus zu verhindern. Neuestes Beispiel sind die Parlaments- und Kommunalwahlen am 25. Februar 2024, die erneut ohne Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stattfinden werden. Belarus werde die Wahlen "für sich selbst durchführen", sagte der Leiter der belarusischen Zentralen Wahlkommission (ZIK), Igor Karpenko.

Brutale Repressionen

Repressionen gegen Opposition und Zivilgesellschaft scheinen sich in Umfang und Brutalität immer weiter zu steigern. Die vergangenen Wochen und Monate waren voll von Beispielen, die eher an die Verhältnisse in Nordkorea erinnern, als an die eines Landes in Europa, das Mitglied der OSZE ist. So nahm das Regime in Minsk Anfang 2023 die sowjetische Praxis wieder auf, politischen Emigranten die Staatsbürgerschaft zu entziehen. Das Gesetz trat im Juli in Kraft und soll nun vor allem gegen führende Politiker der Opposition im Exil angewendet werden, die zur Vorbereitung für diese Verfahren in Abwesenheit zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.

Person hält Poster mit blutigem Bild von Lukaschenko und dem Schriftzug 'Terrorist'
Gefährlich: Protest gegen Alexander Lukaschenko, der Belarus mit eiserner Faust regiert. Bildrechte: IMAGO / NurPhoto

Ein Bruch mit allen internationalen Gepflogenheiten ist der sogenannte "Erlass Nummer 278", der im September 2023 in Kraft trat. Danach dürfen belarusische Botschaften und Konsulate im Ausland keine Ausweise und Pässe mehr verlängern oder neu ausstellen. Dasselbe gilt für Heirats- und Geburtsurkunden oder auch Universitätsdiplome. Wer jetzt zum Beispiel ein Haus oder eine Wohnung in Belarus verkaufen möchte, kann das nur noch persönlich vor Ort tun, da er niemanden mehr damit beauftragen kann.

Schikanen gegen Belarusen im Ausland

Laut einer Schätzung des Büros von Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja sind seit den Protesten um die gefälschten Präsidentschaftswahlen 2020 etwa 300.000 Belarusen ins Ausland geflohen. Knapp 30.000 davon leben in Deutschland. Lukaschenkos Präsidialerlass hat besonders für jene Staatsangehörige aus Belarus Konsequenzen, die aufgrund von politischer Verfolgung ihr Land verlassen mussten und denen bei der Wiedereinreise Schikanen bis hin zu langjährigen Haftstrafen drohen.

Svetlana Tichanowskaja
Die im Exil lebende Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja mit einem Foto ihres inhaftierten Ehemannes, von dem seit Monaten jedes Lebenszeichen fehlt. Bildrechte: IMAGO / TT

Und das kann mittlerweile jeden treffen, der im Zuge der Massenproteste im Jahr 2020 in irgendeiner Weise auffällig geworden ist. Wie Artyom Shraibman in seiner Analyse für Meduza schreibt, genüge es mittlerweile, dass man in Minsk oder einer anderen Stadt an einem der großen Sonntagsmärsche 2020 teilgenommen hat, um bis zu vier Jahre Gefängnisstrafe zu erhalten. "Bis heute werden nach diesem Paragrafen (gemeint ist Paragraf 342 der Strafprozessordnung, der die Störung der gesellschaftlichen Ordnung verbietet. Das ist nach Lesart des Regimes bereits der Fall, wenn man während der Proteste eine Fahrspur betreten hat. – d. Red.) Verhaftungen vorgenommen. Die Sicherheitskräfte finden immer neue Fotos von diesen Märschen und identifizieren die Menschen, die teilweise schon vergessen haben, dass sie überhaupt auf der Straße waren", so der Politanalyst, der vor einer Strafverfolgung in die Ukraine geflohen ist.

Rechtstaatlichkeit wird nicht einmal mehr vorgetäuscht

Im Gegensatz zu Russland, wo immer noch mit hybriden Formen der Repression, zum Beispiel der Kennzeichnung von Personen als "ausländische Agenten" gearbeitet wird, zerstören die belarusischen Silowiki, wie die Angehörigen der Sicherheitsorgane dort genannt werden, nichtstaatliche Strukturen stumpf und direkt – meist mit Hilfe des sogenannten "Extremismusparagrafen".

Nachdem die EU 2021 ein weiteres Sanktionspaket gegen das Regime in Minsk verhängt hatte, wurden hunderte NGOs und dabei vor allem auch solche, die weit von politischen Tätigkeiten entfernt waren, vernichtet. Vereine für Kultur, Wohltätigkeit oder Umweltschutz, Zusammenschlüsse von Stadtforschern, Ornithologen und sogar von Fahrradfahrern wurden verboten und eine Tätigkeit für sie zur Straftat erklärt.

Menschengruppe protestiert mit einem Banner auf dem steht: Freiheit für die politischen Gefangenen
Bereits 2020 wurde auf den Massendemos gegen Lukaschenko die Freilassung politischer Gefangener gefordert. Bildrechte: imago images/ITAR-TASS

Oppositionelle verschwinden ohne Lebenszeichen

Dass Quälerei, Schikane und Brutalität in Belarus mittlerweile keine Grenzen mehr zu kennen scheinen, wird aber vor allem am Schicksal der zirka 1.500 politischen Gefangenen deutlich. Darunter ist auch Swetlana Tichanowskajas Ehemann, Sergej Tichanowski, der bereits 2021 zu 18 Jahren Lagerhaft verurteilt wurde. Nach Angaben seiner Ehefrau haben sie und ihre gemeinsamen Kinder seit März 2023 nichts mehr von ihm gehört.

Auch von einem anderen prominenten politischen Gefangenen, vom ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Viktor Babariko, gibt es seit Mitte 2023 kein Lebenszeichen. Im April 2023 war er im Gefängnis zusammengeschlagen worden und mit einer kollabierten Lunge ins Krankenhaus gebracht worden. Von seiner Wahlkampfleiterin und späteren Vertreterin Maria Kolensnikowa, die 2021 zu elf Jahren Haft verurteilt worden war, gibt es seit über einem Jahr keine Nachricht mehr. Nachdem sie im November 2022 zehn Tage in Isolationshaft gewesen war, hatte sie einen Magendurchbruch erlitten und musste notoperiert werden.

Maria Kolesnikowa formt ein Herz mit ihren Händen.
Von der Oppositonellen Maria Kolesnikowa gibt seit über einem Jahr kein Lebenszeichen. Bildrechte: IMAGO / ITAR-TASS

Verwandte von Exilanten schikaniert

Selbst die Angehörigen der im Ausland lebenden prominenten Oppositionellen sind vor dem langen Arm der Repressionsmaschinerie nicht mehr sicher. So auch die Eltern des in der Schweiz lebenden belarusischen Schriftstellers Sascha Filipenko. Am 9. November stürmten mit Maschinenpistolen bewaffnete Sicherheitskräfte in ihre Wohnung und nahmen seinen Vater für 15 Tage in Haft. Im Gefängnis seien ihm Elektroschocks angedroht worden, falls er sich nicht in einer Videobotschaft deutlich von seinem Sohn distanziere. So habe es sein Vater berichtet, sagte Filipenko westlichen Medien, und beschrieb den Einsatz gegen seine Eltern so: "Sie warfen beide zu Boden, mein Vater ist 65, meine Mutter 60 Jahre alt. Sie durchsuchten die Räume, nahmen Computer, Telefone und auch meinen Vater mit. Zum Abschied sagten sie meiner Mutter, dafür solle sie sich bei ihrem Sohn bedanken."

Ähnliches berichtete die belarusische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in einem Interview für das belarusische Online-Medium Zerkalo. Darin beschreibt die 75-jährige Schriftstellerin, die seit längerem in Berlin lebt und sich nicht mehr in ihr Heimatland zurücktraut, wie die alte Mutter eines bekannten politischen Gefangenen während einer Wohnungsdurchsuchung gezwungen wurde, die ganze Zeit zu knien. "Sowas befiehlt nicht Lukaschenko, dass sie knien muss, nein, das war der Wunsch der Sicherheitskräfte. Das bedeutet, ein Teil der Leute hasst uns, hasst uns dermaßen, dass sie eine alte Mutter vier Stunden lang knien lassen", so Alexijewitsch.

Swetlana Alexijewitsch
Im Visier der belarusischen Sicherheitsbehörden: Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dass auch Alexijewitsch selbst zum Opfer der Attacken der belarusischen Behörden wird, beweist ein Vorfall vom November 2023. Da forderte der bekannte belarusische Fernsehpropagandist Grigorij Azarenok zur besten Sendezeit, die Wohnung der Literaturnobelpreisträgerin zu beschlagnahmen. Wohnungen und Häuser von im Ausland lebenden "Verdächtigen" seien zu enteignen und Angehörigen der Sicherheitskräfte zur Verfügung zu stellen, sagte Azarenok.

Eigendynamik der Gewalt

Für den Politologen Shraibman ist die sich immer schneller drehende Spirale der Repressionen ein kaum aufzuhaltender Mechanismus: Repressionen verhielten sich wie ein Gas. Wenn es Raum für eine Ausdehnung gebe, erreichten sie jeden Winkel. Und das geschehe nicht immer auf Anweisung von oben, in diesem Fall von Lukaschenko, gibt der Experte zu verstehen. Das Regime bringe vielmehr eine Klasse eigener Profiteure hervor – die karriereversessenen Silowiki, für die der Kampf gegen die "Feinde" zum Karrierebooster werde. "Wenn solche Stimuli erst im System wirken, braucht es keine Kommandos von oben mehr, um neue Formen der Gewalt zu entwickeln", ist der Politologe überzeugt.

Die Unfähigkeit, rechtzeitig zu begreifen, dass frühere Tabus bei der Verfolgung der Opposition nicht mehr aktuell sind, habe viele Belarusen die Freiheit gekostet, glaubt Shraibman: "Sie konnten nicht rechtzeitig vor der Bedrohung fliehen, weil sie es einfach nicht für möglich hielten, dass es so etwas geben kann."

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Dieses Thema im Programm: MDR AKTUELL | Heute im Osten | 20. Januar 2024 | 07:17 Uhr

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