Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt Was die neue Synagoge für Dessau bedeutet
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21. Oktober 2023, 04:00 Uhr
In Dessau wird am Sonntag eine neue Synagoge feierlich eröffnet. Fast genau dort, wo der Vorgängerbau von den Nationalsozialisten in der Pogromnacht vom 9. November 1938 in Brand gesetzt wurde. Sachsen-Anhalt war bislang das einzige Bundesland, in dem es nach der Wiedervereinigung keinen Synagogenneubau gab. Nun erfolgt die Eröffnung in einer angespannten Situation für das Judentum weltweit. Terror und der Krieg in Israel überschatten die Feierlichkeiten, zu denen auch Bundeskanzler Scholz in Dessau erwartet wird.
Seit mindestens 350 Jahren lassen sich jüdische Familien in den Dessauer Chroniken nachweisen, mit dem Holocaust endete allerdings das jüdische Leben in der Stadt. Erst mit der Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion entwickelte sich in Dessau wieder eine jüdische Gemeinde. Heute gehören ihr rund 300 Mitglieder an.
"Keine Festung": Zukunftsorientierter Neubau für die jüdische Gemeinde Dessau
In der neuen Synagoge, die am Sonntag eröffnet wird, finden rund 90 Menschen Platz. Markant ist der kreisrunde Gebetsraum, eingefasst in einen Querriegel aus Beton und Glas. Zu dem neuen modernen Bau in der Bauhausstadt erklärt Aron Russ als Verwaltungsleiter der jüdischen Gemeinde: "Es ist doch gut, hier zukunftsorientiert und gegenwärtig zu bauen. Die Synagoge soll offen und einladend wirken, lichtdurchflutet und ein Stück weit einsehbar, nicht wie eine Festung, in der man sich einschließt."
Der kreisrunde Gebetsraum soll an eine Tora-Rolle erinnern, die Außenwand umspannt eine kupferne Verkleidung, die wie eine Art Schutzschild wirkt. Gerade nach den Terrorattacken der Hamas ist auch die Sicherheitslage in Deutschland wieder ein Thema. Viele Gemeindemitglieder haben Verwandte in Israel.
Grundsteinlegung nach dem Anschlag in Halle
Hinzu kommt: Schon die Grundsteinlegung für die Dessauer Synagoge vor vier Jahren erfolgte kurz nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle, bei dem der Attentäter versuchte, 51 Menschen am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu töten.
Dennoch fühlten sich die Dessauer Gemeindemitglieder relativ sicher, sagt Aron Russ: "Ich sehe jetzt nicht, dass jemand, der hier die Straße lang läuft, sehr gefährdet ist. Aber natürlich sind – auch statistisch gesehen – Orte des jüdischen Lebens besonders betroffen. Ob Synagogen oder Gedenkstätten, bei uns ist der Friedhof zum Beispiel mehrfach beschmiert worden. Das kommt schon vor."
Natürlich wird die Eröffnung der neuen Synagoge mit erheblichen Sicherheitsmaßnahmen begleitet werden. Dazu erwartet werden am Sonntag Bundeskanzler Olaf Scholz, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster.
Haseloff: Erinnerung an ethische Werte
4,8 Millionen Euro wird der Bau am Ende kosten, 1,7 Millionen Euro waren anfangs vorgesehen. Ukraine-Krieg und Inflation haben zu einer deutlichen Teuerung geführt. Sowohl die Bundes- wie auch die Landesregierung unterstützten das Vorhaben finanziell. Für Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff, geht es aber um mehr als nur die Heilung einer alten Wunde:
"Es ist eine besondere Synagoge. Dort ist Moses Mendelssohn groß geworden, der literarisch durch Lessings Figur "Nathan der Weise" bekannt wurde. Die Ringparabel, die kennt jeder aus der Schule. Das Streiten um das Gute, genau das ist auch die pädagogische Botschaft, die wir an junge Menschen senden, dass man auch um die ethischen Grundlagen unserer heutigen Gesellschaft weiß."
Moses Mendelssohn, Nathan und die Ringparabel
Für das Kurt-Weill-Fest 2017 hat der Schriftsteller Rolf Schneider hat die jungen Jahre von Moses Mendelssohn literarisch rekonstruiert. 1729 in Dessau geboren machte er eine erstaunliche Karriere in Berlin, für seinen Freund Gotthold Ephraim Lessing war er das Vorbild der Figur "Nathan der Weise". Schneider faszinierte die Aktualität des Aufklärers Mendelssohn und sein Aufstieg: Ein in ärmlichen Verhältnissen groß gewordener Stotterer mit Buckel wird zu einem erfolgreichen Unternehmer und einem der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit.
Nathan und die sogenannte Ringparabel sind bis heute Schulstoff. Sie besagt, das keine Religion für sich beanspruchen könne, die beste zu sein. Somit gilt Lessings Stück bis heute als Plädoyer für Toleranz im Zeichen der Aufklärung.
OB: Impuls für jüdische Gemeinde und die Stadt
Dessau ist Weltkulturerbe mit dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich sowie dem Bauhaus. Ein Ort der Aufklärung und der Moderne. Juden waren Teil dieser Entwicklung, aber trotzdem immer wieder auch Verfolgungen ausgesetzt. Für den Oberbürgermeister von Dessau, Robert Reck, ist der Synagogen-Neubau auch eine Chance, die Stadtkultur zu beleben: "Es ist ja Teil unserer Geschichte und unseres täglichen Lebens, das spürt man schon. Und ich denke auch, dass mit der Synagoge, mit der Attraktivität des Ortes eine Förderung des jüdischen Lebens und des jüdischen Glaubens und auch das Interesse daran angeregt wird."
Darauf hofft man auch in der jüdischen Gemeinde. Denn der Zuwachs durch die Zuwanderung in den 1990er-Jahren hat zwar den Neustart des Gemeindelebens beflügelt, nun aber geht es darum, die Zukunft der Gemeinde zu sichern. Und da sind die aktuellen Erfahrungen nicht viel anders als in den katholischen oder evangelischen Kirchen der Region, folgt man den Worten von Gemeindeverwalter Aron Russ: "Die Gemeinden laufen ein Stück weit Gefahr zu überaltern. Dessau ist im Vergleich zu den Universitätsstädten beispielsweise ein bisschen im Nachteil. Viele Jugendliche gehen für ihre Ausbildung weg und nur wenige kommen dann wieder zurück."
Aber zumindest einen Grund könnte es in Zukunft geben, nämlich eine neue Synagoge in Dessau. In sechs Wochen, also Anfang Dezember soll dann auch in Magdeburg eine neue Synagoge eingeweiht werden. Damit ist dann auch in der Landeshauptstadt jüdisches Leben wieder sichtbar.
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Oktober 2023 | 09:15 Uhr