Blick auf die neue Synagoge in Dessau-Roߟlau. 4 min
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Rund 85 Jahre nach der Zerstörung der Alten Synagoge wird in Dessau der Neubau eröffnet, der erste Synagogen-Neubau in Sachsen-Anhalt seit der Wiedervereinigung. Uli Wittstock berichtet.

MDR KULTUR - Das Radio So 22.10.2023 06:00Uhr 04:00 min

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Jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt Was die neue Synagoge für Dessau bedeutet

21. Oktober 2023, 04:00 Uhr

In Dessau wird am Sonntag eine neue Synagoge feierlich eröffnet. Fast genau dort, wo der Vorgängerbau von den Nationalsozialisten in der Pogromnacht vom 9. November 1938 in Brand gesetzt wurde. Sachsen-Anhalt war bislang das einzige Bundesland, in dem es nach der Wiedervereinigung keinen Synagogenneubau gab. Nun erfolgt die Eröffnung in einer angespannten Situation für das Judentum weltweit. Terror und der Krieg in Israel überschatten die Feierlichkeiten, zu denen auch Bundeskanzler Scholz in Dessau erwartet wird.

Seit mindestens 350 Jahren lassen sich jüdische Familien in den Dessauer Chroniken nachweisen, mit dem Holocaust endete allerdings das jüdische Leben in der Stadt. Erst mit der Zuwanderung von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion entwickelte sich in Dessau wieder eine jüdische Gemeinde. Heute gehören ihr rund 300 Mitglieder an.

"Keine Festung": Zukunftsorientierter Neubau für die jüdische Gemeinde Dessau

In der neuen Synagoge, die am Sonntag eröffnet wird, finden rund 90 Menschen Platz. Markant ist der kreisrunde Gebetsraum, eingefasst in einen Querriegel aus Beton und Glas. Zu dem neuen modernen Bau in der Bauhausstadt erklärt Aron Russ als Verwaltungsleiter der jüdischen Gemeinde: "Es ist doch gut, hier zukunftsorientiert und gegenwärtig zu bauen. Die Synagoge soll offen und einladend wirken, lichtdurchflutet und ein Stück weit einsehbar, nicht wie eine Festung, in der man sich einschließt."

Alexander Wassermann, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Dessau (r) und Aron Russ stehen vor dem Toraschrank in der Synagoge in Dessau-Roßlau.
85 Jahre nach der Zerstörung eröffnet der Neubau, der laut Gemeindeverwalter Aron Russ (l.) keine Festung sein soll, sondern offen und einladend und lichtdurchflutet. Als Symbol des Schutzes ließ der Architekt ins Dach ein Fenster in Form eines David-Sterns ein. Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Der kreisrunde Gebetsraum soll an eine Tora-Rolle erinnern, die Außenwand umspannt eine kupferne Verkleidung, die wie eine Art Schutzschild wirkt. Gerade nach den Terrorattacken der Hamas ist auch die Sicherheitslage in Deutschland wieder ein Thema. Viele Gemeindemitglieder haben Verwandte in Israel.

Grundsteinlegung nach dem Anschlag in Halle

Hinzu kommt: Schon die Grundsteinlegung für die Dessauer Synagoge vor vier Jahren erfolgte kurz nach dem Anschlag vom 9. Oktober 2019 auf die Synagoge in Halle, bei dem der Attentäter versuchte, 51 Menschen am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur zu töten.

Dennoch fühlten sich die Dessauer Gemeindemitglieder relativ sicher, sagt Aron Russ: "Ich sehe jetzt nicht, dass jemand, der hier die Straße lang läuft, sehr gefährdet ist. Aber natürlich sind – auch statistisch gesehen  – Orte des jüdischen Lebens besonders betroffen. Ob Synagogen oder Gedenkstätten, bei uns ist der Friedhof zum Beispiel mehrfach beschmiert worden. Das kommt schon vor."

Natürlich wird die Eröffnung der neuen Synagoge mit erheblichen Sicherheitsmaßnahmen begleitet werden. Dazu erwartet werden am Sonntag Bundeskanzler Olaf Scholz, Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff und der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster.

Einblicke Bilder: Die jüdische Gemeinde in Dessau auf dem Weg zur neuen Synagoge

Rund 85 Jahre nach der Zerstörung der Alten Synagoge wird in Dessau der Neubau eröffnet. Wir blicken mit Alexander Wassermann, Vorsitzender der orthodoxen jüdischen Gemeinde, auf die Stationen eines langen Weges.

Historische Aufnahme der Synagoge in Dessau.
Dessau ist stolz auf seine Bauhaus-Bauten, sie sind Weltkulturerbe. Einst prägte auch die Synagoge das Bild der Stadt – wenn auch nur für 30 Jahre. 1908 bekam die jüdische Gemeinde nach mehreren kleineren Vorgängerbauten ein repräsentatives Gotteshaus. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde sie zerstört. In der Tagespresse waren damals die Namen aller in Dessau und Roßlau lebenden Juden veröffentlicht worden. Daraufhin wurden deren Wohnungen und Geschäfte geplündert. Am Ende stand die Synagoge in Flammen. Bildrechte: Stadt Dessau
Historische Aufnahme der Synagoge in Dessau.
Dessau ist stolz auf seine Bauhaus-Bauten, sie sind Weltkulturerbe. Einst prägte auch die Synagoge das Bild der Stadt – wenn auch nur für 30 Jahre. 1908 bekam die jüdische Gemeinde nach mehreren kleineren Vorgängerbauten ein repräsentatives Gotteshaus. In der Pogromnacht vom 9. November 1938 wurde sie zerstört. In der Tagespresse waren damals die Namen aller in Dessau und Roßlau lebenden Juden veröffentlicht worden. Daraufhin wurden deren Wohnungen und Geschäfte geplündert. Am Ende stand die Synagoge in Flammen. Bildrechte: Stadt Dessau
Eine Steinsäule mit der Inschrift: Den jüdischen Männern, Frauen und Kindern, die dem Naziterror von 1933 bis 1945 zum Opfer fielen
Vor dem Gemeindehaus in Dessau erinnert eine Steinsäule an die Alte Synagoge und an die Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Dessau, die dem Naziterror von 1933 bis 1945 zum Opfer fielen, so die Inschrift. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
Ein rundes Gebäude mit hebräischen Buchstaben an der Fassade
Mit dem Neubau in Dessau sollte in Sachsen-Anhalt die erste Synagoge nach dem Zweiten Weltkrieg entstehen. Der Entwurf soll nach den Worten des Frankfurter Architekten Alfred Jacoby an eine Tora-Rolle erinnern: "Man geht in einen Raum hinein, der einen mit dem umhüllt, was den Glauben ausmacht." Jacoby ist selbst Jude und hat bereits zehn jüdische Gotteshäuser entworfen, darunter auch die Neue Synagoge in Chemnitz. Bildrechte: Architekturbüro Alfred Jacoby
Rohbau der Synagoge in Dessau
Beim Neubau kam es zu Verzögerungen. Eigentlich sollte die Synagoge Anfang 2022 fertig sein. Ministerpräsident Reiner Haseloff sagte bei der Grundsteinlegung im November 2019: "Wir wollen jüdisches Leben in Sachsen-Anhalt." Direkt neben dem Standort der neuen Synagoge befindet sich das Gemeindehaus, das ebenfalls ausgebaut werden sollte. Bildrechte: MDR / Martin Krause
Ein Mann vor einem Schrank mit drei Schriftrollen
Seit 1994 gibt es wieder eine jüdische Gemeinde in Dessau, die von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion gegründet wurde. Bis zur Eröffnung des Neubaus feierte sie die Gottesdienste im benachbarten, denkmalgeschützten Rabbinerhaus. Alexander Wassermann, Vorsitzender der orthodoxen jüdischen Gemeinde in Dessau, zeigt den Toraschrein: "Eine Tora haben wir 1998 in Israel gekauft. Die andere ist eine Spende vom Zentralrat der Juden." Die Tora besteht aus den fünf Büchern Mose zur Geschichte des Volkes Israel und wird binnen eines Jahres bei den Gottesdiensten zum Schabbat in der Synagoge gelesen.  Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
Eine Tafeln mit hebräischer Schrift über einem Holzschrank, der von einem blauen Samtvorhang verdeckt wird
Vor dem Toraschrein befindet sich ein verzierter Samtvorhang, darüber stehen die zehn Gebote. Der Schrein ist nach Osten gerichtet, in Richtung Jerusalem. Er erinnert an die Bundeslade mit den zehn Geboten, die das Volk Israel einst durch die Wüste trug und soll die Gläubigen daran erinnern, dass Gott immer in ihrer Mitte wohnt. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
eine ausgerollte Schriftrolle
Die Tora mit den fünf Büchern Mose ist Teil der hebräischen Bibel. Die Torarollen in Dessau bestehen aus Papyrus und sind von Hand mit Tinte beschrieben. "Die Tora ist sehr wertvoll und darf deshalb nicht berührt werden", betont Alexander Wassermann. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
eine Papierrolle in einem Holkasten
Die Ersatz-Tora besteht aus gewöhnlichem Papier und ist nicht von Hand beschrieben. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
Ein Holztisch mit einer blauen Samtdecke
Direkt neben dem Toraschrein steht die Bima. Hier wird die Tora zum Lesen ausgerollt. "Nicht jeder kann die Tora lesen, sie ist in sehr altem Hebräisch geschrieben", erläutert Alexander Wassermann. Jüdische Jungen und Mädchen lernen Hebräisch und werden darauf vorbereitet, beim Erlangen der religiösen Mündigkeit (Bar Mizwa bzw. Bat Mizwa) aus der Tora zu lesen. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
Ein Mann mit Kippa und einem weißen Gebetstuch über dem Schultern
Der Tallit ist ein Gebetsmantel aus weißer Wolle, Baumwolle oder Seide. "Männer tragen den Tallit, wenn beim Morgengebet aus der Tora gelesen wird, mittags und abends tun sie das nicht", erklärt Alexander Wassermann. Das Anlegen des Tallit ist ein Ritual, dass die Konzentration auf das Gebet verstärken soll. Als Zeichen der Ehrfurcht vor Gott muss jeder Mann in einer Synagoge oder auf einem jüdischen Friedhof seinen Kopf bedecken, auch wenn er kein Jude ist. "Sie symbolisiert eine Grenze zwischen Gott und den Menschen", so Alexander Wassermann. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
Eine Wandtafel mit elektrischen Lichtern in Form einer Kerze und der Aufschrift: Jüdische Gemeinde zu Dessau
Für alle sichtbar hängt im Gebetsraum unter dem ewigen Licht eine Trauertafel. "Wenn ein Gemeindemitglied gestorben ist, wird ein Licht angemacht und der Name hier aufgeschrieben", erklärt Alexander Wassermann. Das Licht brenne dann circa eine Woche. So erinnert die Gemeinde an ihre verstorbenen Mitglieder. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
mehrere Stuhlreihen hinter einem weißen Vorhang
Blick in den alten Gebetsraum: "Die Männer sollen sich auf die Tora konzentrieren, nicht auf die Frauen", sagt Alexander Wassermann. Daher würden Männer und Frauen während des Gottesdienstes in der orthodoxen Gemeinde durch einen Vorhang voneinander getrennt. Mechiza ist der Name für diese Art der Absonderung. Bildrechte: MDR/Tom Himmelmann
Blick in den Gebetsraum der neu gebauten Synagoge in Dessau
In der neuen Weill-Synagoge sind 90 Plätze vorgesehen, 60 für Männer und 30 für Frauen. Der Name erinnert an den Vater des später berühmten Komponisten Kurt Weill (1900-1950). Albert Weill (1867-1950) war von 1898 bis 1920 Kantor der jüdischen Gemeinde in Dessau, die damals rund 600 Mitglieder hatten, heute sind es 260. Bildrechte: MDR/Grit Lichtblau
Alexander Wassermann, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde zu Dessau (r) und Aron Russ stehen vor dem Toraschrank in der Synagoge in Dessau-Roßlau.
2015 ließ die Kurt-Weill-Gesellschaft eine erste Studie für einen Neubau in Auftrag geben. Jetzt, 85 Jahre nach der Zerstörung eröffnet der Neubau, der laut Gemeindeverwalter Aron Russ (l.) keine Festung sein soll, sondern offen und einladend und lichtdurchflutet. Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt
Blick auf die neue Synagoge in Dessau-Roߟlau.
Die Dessauer Synagoge steht im Stadtzentrum, etwa 300 Meter vom Rathaus entfernt. Auf der kupfernen Verkleidung am Eingang steht ein Spruch des Proheten Jesaja auf Hebräisch und Deutsch: "Denn mein Haus soll ein Bethaus für alle Völker genannt werden." Als Symbol des Schutzes ließ der Architekt ins Dach ein Fenster in Form eines David-Sterns ein. Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt
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Haseloff: Erinnerung an ethische Werte

4,8 Millionen Euro wird der Bau am Ende kosten, 1,7 Millionen Euro waren anfangs vorgesehen. Ukraine-Krieg und Inflation haben zu einer deutlichen Teuerung geführt. Sowohl die Bundes- wie auch die Landesregierung unterstützten das Vorhaben finanziell. Für Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Haseloff, geht es aber um mehr als nur die Heilung einer alten Wunde:

"Es ist eine besondere Synagoge. Dort ist Moses Mendelssohn groß geworden, der literarisch durch Lessings Figur "Nathan der Weise" bekannt wurde. Die Ringparabel, die kennt jeder aus der Schule. Das Streiten um das Gute, genau das ist auch die pädagogische Botschaft, die wir an junge Menschen senden, dass man auch um die ethischen Grundlagen unserer heutigen Gesellschaft weiß."

Historische Aufnahme der Synagoge in Dessau.
Historische Aufnahme der Synagoge in Dessau. Der Vater des Komponisten Kurt Weill, Albert, wirkte hier von 1898 bis 1920 Kantor. So trägt der Neubau den berühmten Namen: Weill-Synagoge. Bildrechte: Stadt Dessau

Moses Mendelssohn, Nathan und die Ringparabel

Für das Kurt-Weill-Fest 2017 hat der Schriftsteller Rolf Schneider hat die jungen Jahre von Moses Mendelssohn literarisch rekonstruiert. 1729 in Dessau geboren machte er eine erstaunliche Karriere in Berlin, für seinen Freund Gotthold Ephraim Lessing war er das Vorbild der Figur "Nathan der Weise". Schneider faszinierte die Aktualität des Aufklärers Mendelssohn und sein Aufstieg: Ein in ärmlichen Verhältnissen groß gewordener Stotterer mit Buckel wird zu einem erfolgreichen Unternehmer und einem der einflussreichsten Philosophen seiner Zeit.

Nathan und die sogenannte Ringparabel sind bis heute Schulstoff. Sie besagt, das keine Religion für sich beanspruchen könne, die beste zu sein. Somit gilt Lessings Stück bis heute als Plädoyer für Toleranz im Zeichen der Aufklärung.

OB: Impuls für jüdische Gemeinde und die Stadt

Dessau ist Weltkulturerbe mit dem Dessau-Wörlitzer Gartenreich sowie dem Bauhaus. Ein Ort der Aufklärung und der Moderne. Juden waren Teil dieser Entwicklung, aber trotzdem immer wieder auch Verfolgungen ausgesetzt. Für den Oberbürgermeister von Dessau, Robert Reck, ist der Synagogen-Neubau auch eine Chance, die Stadtkultur zu beleben: "Es ist ja Teil unserer Geschichte und unseres täglichen Lebens, das spürt man schon. Und ich denke auch, dass mit der Synagoge, mit der Attraktivität des Ortes eine Förderung des jüdischen Lebens und des jüdischen Glaubens und auch das Interesse daran angeregt wird."

Blick auf die neue Synagoge in Dessau-Roߟlau. 4 min
Bildrechte: picture alliance/dpa | Hendrik Schmidt

Darauf hofft man auch in der jüdischen Gemeinde. Denn der Zuwachs durch die Zuwanderung in den 1990er-Jahren hat zwar den Neustart des Gemeindelebens beflügelt, nun aber geht es darum, die Zukunft der Gemeinde zu sichern. Und da sind die aktuellen Erfahrungen nicht viel anders als in den katholischen oder evangelischen Kirchen der Region, folgt man den Worten von Gemeindeverwalter Aron Russ: "Die Gemeinden laufen ein Stück weit Gefahr zu überaltern. Dessau ist im Vergleich zu den Universitätsstädten beispielsweise ein bisschen im Nachteil. Viele Jugendliche gehen für ihre Ausbildung weg und nur wenige kommen dann wieder zurück."

Aber zumindest einen Grund könnte es in Zukunft geben, nämlich eine neue Synagoge in Dessau. In sechs Wochen, also Anfang Dezember soll dann auch in Magdeburg eine neue Synagoge eingeweiht werden. Damit ist dann auch in der Landeshauptstadt jüdisches Leben wieder sichtbar.

Jüdisches Leben heute

Schreiben an einer Tora. 45 min
Schreiben an einer Tora. Bildrechte: MITTELDEUTSCHER RUNDFUNK

Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. Oktober 2023 | 09:15 Uhr

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