Energiekrise Sturz der Regierung? Mit welchem Ziel die extreme Rechte Demos für sich nutzt

16. Oktober 2022, 05:00 Uhr

Armut, Existenzangst, Zukunftssorgen: Viele Menschen wollen in ihrer Not gehört werden und protestieren auf der Straße – für finanzielle Hilfe durch den Staat oder ein Ende der Sanktionen gegen Russland. Dahinter steckt ein fundamentaler Unterschied zu vorherigen Krisen, erklärt Extremismusforscher Professor Matthias Quent im Interview.

Derzeit gehen jede Woche viele Menschen in vielen Städten auf die Straße. Warum ist das so?

Matthias Quent: "Diese Krise unterscheidet sich fundamental von den vorherigen Krisen – der Corona- und auch der sogenannten Flüchtlingskrise – weil wir es hier mit einer Wirtschafts- und Energiekrise zu tun haben, die alle betrifft. Dadurch könnten auch Milieus gezwungen werden, sich politisch zu engagieren, die dies bisher nicht getan haben, zum Beispiel besonders arme Menschen, Alleinerziehende und so weiter. Schlicht, weil sie keine Möglichkeit mehr haben, wenn sie durch die Energiepreise in die Armut oder in den existenziellen Ruin getrieben werden."

Die Forderungen mit denen Menschen auf die Straße gehen, sind dennoch unterschiedlich, obwohl die Gründe häufig gleich sind. Woher kommt das?  

"Die Forderung, die etwa von Rechtsaußen aufgestellt werden, und die Forderung, die von etwa Sozialverbänden artikuliert werden, unterscheiden sich an der Frage der sozialen Gerechtigkeit. Also geht es wirklich darum, diese Energiepreise abzufedern und Menschen zu unterstützen über diesen Herbst und diesen Winter zu kommen? Oder geht es vor allem um übergreifende Fragestellungen, wie zum Beispiel das Verhältnis zu Russland? Das ist die entscheidende Frage: Steht im Vordergrund eigentlich der Wunsch nach einer wie auch immer gearteten Freundschaft mit Russland oder geht es um Verteilungsfragen?"

Zur Person: Matthias Quent ist Professor für Soziologie in der sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Er ist Extremismusforscher und seine Arbeitsschwerpunkte sind Rechtsradikalismus, Radikalisierung und Hasskriminalität. Er studierte Soziologie, Politikwissenschaft und Neuere Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und University of Leicester in England. Von August 2016 bis Anfang 2022 leitete Quent zudem das Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft in Jena. DIE ZEIT wählte Quent 2019 zu einem der 100 wichtigsten jungen Ostdeutschen.

Wer vertritt welche Position?

"Wie können die Ärmsten und die besonders Betroffenen – die Wirtschaft, das Handwerk und so weiter – gerettet werden? Das ist die Agenda der Sozialverbände. Die Agenda der Rechten ist, diese Krise zu nutzen, um die Regierung zu stürzen und sich an die Seite eines faschistoiden, russischen Systems zu stellen."

Die Agenda der Rechten ist, diese Krise zu nutzen, um die Regierung zu stürzen.

Matthias Quent

Doch stoßen die extremen Rechten damit auf Interesse bei vielen Protestierenden?

"Wir haben bereits seit Pegida gesehen und über die Corona-Proteste, dass es viele Menschen gibt, gerade auch in Ostdeutschland, die eben kein Problem damit haben, mit Rechtsextremen, mit Neonazis, mit Hooligans. Wenn wir an Chemnitz im Sommer 2018 denken, sogar mit Rechtsterroristen und offenen Gewalttätern gemeinsam zu demonstrieren. Viele Menschen haben damit kein Problem."

Kein Problem? Wie muss man sich das vorstellen?

"Es ist die Normalisierung des Rechtsextremismus, dass diese demokratiefeindlichen Ideen, Parolen und auch Strategien eben ganz normal dazugehören. Dass das weit verbreitet ist und dass das auch zunimmt. Denn das ist die Strategie, die Normalisierung vorantreiben. Diese Strategie geht leider auch deswegen auf, weil immer wieder demokratische Politikerinnen und Politiker eben keine klare Abgrenzung praktizieren, sondern Erzählungen, Ideologien oder Parolen sogar noch bedienen und damit letztlich das Original, also die extreme Rechte stärken."

Hat das auch damit zu tun, dass die extremen Rechten versuchen, sich als normal darzustellen?

"Es gab schon in den letzten Jahren, auch bei den sogenannten Corona-Protesten, immer wieder diese Strategie, sich als Mitte, als nicht politisch, also vor allem auch als nicht rechtsradikal darzustellen. Und wenn man dann mal genauer hingeschaut hat, dann hat man festgestellt das sind durchaus Akteure, die sich vor allem zum Beispiel über rechtsextreme Telegram-Chatgruppen vernetzen. Wo häufig Personen der AfD, aus der zweiten oder dritten Parteireihe, dann hinter den Protesten stehen."

Wo hat es das zum Beispiel gegeben?

"Das hatten wir in Sachsen-Anhalt etwa bei Handwerker-Protesten. Wenn man dort genauer hinschaut, waren die von der AfD und von AfD zugehörigen Personen getragen und vorangetragen worden. Jedoch ohne, dass das für alle gilt, die sich daran beteiligt haben. Aber das ist eine Mimikry-Strategie. Eine Tarnungs-Strategie, die die politischen Hintergründe verschleiern sollen und damit mehr gesellschaftlichen Zuspruch, mehr Verständnis und auch mehr Unterstützung erreichen sollen."

Doch es werden nicht alle Proteste von Rechtsaußen vorangetrieben oder unterwandert…

"Diese Proteste werden nicht nur von fragwürdigen Akteuren vorangetrieben. Sondern die Sozialverbände, Gewerkschaften und andere Akteure nehmen sich der Zumutung durch die Armut und der Existenz bedrohenden Verhältnisse durch die Energiepreise immer mehr an. Das heißt, wenn es eben auch demokratische Veranstaltungen von zivilgesellschaftlichen Akteuren gibt, bei denen, die Abgrenzung nach Rechtsaußen sehr klar ist, die die zentralen Themen dieser sozialen Frage bearbeiten, dann ist eine Situation hergestellt, in der Menschen unterscheiden können: Gehen Sie auf fragwürdige, russlandfreundliche, vielleicht rechtsradikale Proteste oder vertreten sie ihre materiellen, sozialen Interessen bei etablierten zivilgesellschaftlichen Akteuren – die übrigens auch eine viel höhere Wirkungsmacht auf die Politik haben."

Dann können die Menschen unterscheiden: Gehen Sie auf fragwürdige, russlandfreundliche, vielleicht rechtsradikale Proteste oder vertreten sie ihre materiellen, sozialen Interessen bei etablierten zivilgesellschaftlichen Akteuren.

Matthias Quent

Häufig sind auf Protesten Schilder zu sehen oder Aussagen zu hören, dass die Demo-Teilnehmer politisch neutral seien…

"Wir hören häufig Aussagen wie: "Wir sind weder links noch rechts, wir sind die Mitte" oder "Wir sind das Volk". Das sind klassische populistische Erzählungen, die eine Spaltungslinie aufmachen zwischen unten und oben, den vermeintlich korrumpierten Eliten und dem vermeintlich reinen freien Volk mit einem einheitlichen Willen, den es so natürlich überhaupt nicht gibt. Tatsächlich ist das eine Strategie der Durchdringung von Gesellschaft: Sich als Mitte oder auch als konservativ zur Schau zu stellen – und damit auch radikale extremistische Bestrebungen zu verschleiern und mehr Anschluss an die Bevölkerung und dann die öffentliche Diskussion zu finden."

Es gab auch schon Versuche durch extreme Rechte, Proteste für sich zu vereinnahmen, obwohl ganz andere Initiativen dazu aufgerufen hatten – etwa jüngst im Erzgebirge…

"Eine Abgrenzung von Rechtsaußen ist nicht glaubwürdig, wenn man nichts dazu tut, um diese Abgrenzung durchzusetzen. Wenn man gemeinsam mit Neonazis demonstriert, wenn man gemeinsam mit den Demokratiefeinden der "Freien Sachsen" demonstriert und einen Stand der Mitte der eigenen Veranstaltung duldet, dann gibt es keine Abgrenzung nach rechts, die irgendwie glaubwürdig wäre."

Was passiert, wenn Veranstalter und Besucher von Demos sich nicht klar abgrenzen gegen Rechtsaußen und zulassen, dass sie mitdemonstrieren?

"Das passt dann zu der von der äußersten Rechten anvisierten Zielstellung, dass man diese Proteste eben übernehmen will, um diese für sich zu nutzen. Und das ist eine Gefahr, eine Falle, in die auch Menschen laufen, die nicht rechtsradikal sind – aber nichts dagegen tun, mit Rechtsradikalen gemeinsame Sache zu machen."

Dominieren Ihrer Meinung nach Rechtsextreme momentan die Proteste gegen die Energiepolitik und die steigenden Preise?

"Durch die hohe Kontinuität sind die rechten Proteste – Netzwerke und Akteure gerade in den ländlicheren Regionen in Ostdeutschland – dominant. Diese Dominanz wird sich auch nicht brechen lassen durch andere Proteste."

Welche Möglichkeiten haben die Menschen, ihren Sorgen Ausdruck und Gehör zu verschaffen?

"Wenn man dafür sorgen will, dass diese Krise irgendwie so gut wie möglich gelöst wird, dann muss man sich konstruktiv einbringen. Die Frage wird sein, ob es den äußerst Rechten gelingt, neue Milieus, die von Verarmung oder von Existenznot im Mittelstand bedroht sind, zu erreichen. Oder aber, ob die Sozialpolitik so gut ist, dass sie die Härten abfedert und ein Drift nach rechts von bisher nicht rechten Milieus verhindern kann."

Quelle: MDR exakt/ mpö

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Dieses Thema im Programm: MDR FERNSEHEN | MDR exakt | 12. Oktober 2022 | 20:15 Uhr

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