Passanten in einer Fußgängerzone
Warum schwindet das Vertrauen in Politik, Staat und Demokratie? Fragen an einen Experten für Politikpsychologie Bildrechte: IMAGO/Michael Gstettenbauer

Ampel und AfD Wie in Deutschland "politische Angst" entsteht

27. August 2023, 13:28 Uhr

Interview mit dem Politikpsychologen Thomas Kliche über "politische Ängste" und das angeblich schwindende Vertrauen in Demokratie und Politik in Deutschland, über die AfD und die Unwilligkeit vieler Menschen, sich auf nötige Veränderungen einzulassen.

MDR AKTUELL Mitarbeiter Kristian Schulze
Bildrechte: MDR/punctum.Fotografie/Alexander Schmidt

Trotzdem Deutschland doch besser als erwartet durch die Coronavirus-Pandemie oder die vom Ukraine-Krieg ausgelöste Energiekrise gekommen zu sein scheint, zeigen Umfragen ein auf Rekordtiefs gesunkenes Vertrauen in Politik, Staat und das demokratische System. Wir haben darüber mit dem Politikpsychologen Thomas Kliche von der Hochschule Magdeburg-Stendal gesprochen, der sich unter anderem mit "politischer Angst" beschäftigt.

MDR AKTUELL: Professor Kliche, die Ergebnisse verschiedener Studien zeigen ein stark sinkendes Vertrauen in Politik, Staat und Demokratie. Was ist von solchen Umfragen zu halten?

Thomas Kliche
Prof. Dr. Thomas Kliche, Politik- und Gesellschaftspsychologe, Professor für Bildungsmanagement an der Hochschule Magdeburg-Stendal Bildrechte: Hochschule Magdeburg-Stendal

Kliche: Die sind tatsächlich sehr unterschiedlich und eigentlich nicht aussagefähig, wenn nicht mehrere Vergleichsjahre vorliegen. Viele sind offenkundig invalide. So erscheint etwa jährlich die Befragung einer Versicherung, wovor die Leute so alles Angst haben. Und da springen diese Ängste dann in wahnsinnigen Bögen hoch und runter.

Man muss, glaube ich, das Gesamtbild interpretieren. Wir haben oberflächliche Bewegungen von Ängsten und damit verbunden Themen, die sehr stark in den Vordergrund treten, weil sie von Medien oder durch politische Ereignisse nach vorn rücken. Und dann sind da Bewegungen, die vielen Menschen gar nicht bewusst, die aber fundamentaler sind und die wir in solchen Misstrauensdaten erkennen können.

MDR AKTUELL: Sie hatten 2015, in der "Flüchtlingskrise" von "politischen Ängsten" gesprochen. Was ist das?

Das sind Ängste, die Leute nicht individuell haben, anders als Ängste, die Menschen persönlich haben und als Leiden oder Einschränkungen erleben. Grob gesagt, Angst vor Migration wäre politische Angst und die vor Spinnen oder davor, den Herd nicht abgeschaltet zu haben, eine individuelle.

Der Unterschied liegt in der Frage: Sind die Auslöser plausibel für eine Großgruppe? Da hat sich viel verändert, weil im Internet heute für praktisch jede Angst eine Gruppe zusammengebracht werden kann. Diese Aluhut-Fritzen etwa, die galten früher als Leute mit 'nem Schlag an der Waffel. Aber inzwischen gründen sie weltweit Verbände, richten Beiräte ein und erleben sich nicht mehr als individuell leidende Menschen, sondern als Verfolgte.

Politische Ängste werden auch anders erlebt, als Benachteiligung und als etwas, wofür die Politik verantwortlich ist. Und für politische Ängste gibt es Ideologien. Zum Beispiel: Die geheime Weltregierung wolle eine "Umvolkung", um die deutsche Bevölkerung zu entwerten. Solche Ideologien machen aus sonst seltsam individuellen Ängsten durchaus politische Programme.

Ist auch wirtschaftliche und soziale Abstiegsangst eine politische? Die wird ja sehr konkret auch ganz persönlich erlebt?

Das ist sehr ambivalent. Die meisten armen Leute empfinden das als so schlimm, dass sie sich das schönreden. Sie nehmen diese Rolle nicht an, sie schämen sich, arm zu sein. Sie haben auch keine Hoffnung, etwas daran ändern zu können. Sie sind eigentlich handlungsunfähig. Sie organisieren sich nicht politisch und versuchen, das als individuelles Schicksal zu bewältigen.

Es geht aber nicht prinzipiell um wirtschaftliche oder soziale Stellung, eher darum, ob Menschen für ihre Sicht auf die Zukunft, für ihre Befürchtungen und Interessen eine politische Ideologie haben, die sagt: Die Politik ist dafür verantwortlich. Tatsächlich wächst das: Immer mehr Menschen machen die Politik für immer mehr verantwortlich und sie wünschen sich gerade in Krisen eine starke Führung, eine geschlossene Gruppe, klare Lösungen und dass die Minderheiten auf Linie gebracht werden. Was insgesamt als autoritäre Reaktion auftritt, betrifft nicht nur eine bestimmte Persönlichkeit, es ist sehr verbreitet und ein Merkmal der Bearbeitung von Krisen in Großgruppen.

Warum wird Politik für immer mehr verantwortlich gemacht?

Das entlastet! Politik hat eine emotionale Service-Funktion. Wenn Menschen die Politik verantwortlich machen können, sind sie nicht selbst verantwortlich. Sie können Verantwortung auf Experten und Mächtige abschieben. Das Klima ist ein gutes Beispiel: Da kann ich ja angeblich gar nichts machen, individuell. Und Kreuzfahrten, SUV's sind doch gar nicht so schlimm, das bisschen Benzin, das soll die Politik mal richten, ich bin dafür nicht verantwortlich.

Die Mehrheit der Menschen will einfach nur bequem weiterleben.

Thomas Kliche MDR AKTUELL

Es ist eine Entlastung, sagen zu können: Da ist jemand, der könnte es richten. Wenn der Klimakollaps eintritt, lässt sich da aber gar nichts mehr richten. Wir können jetzt noch etwas richten, wir alle, indem wir Mehrheiten schaffen, die deutliche Änderungen herbeiführen. Wenn man das allerdings auf die Politik abschiebt, kriegt man auch die eigene Angst leichter in den Griff.

Wir haben Inflation und Leute fürchten, jetzt arm zu werden. Für die ist das ja messbar, an der Ladenkasse oder bei der Urlaubsplanung. Werden so auch Ängste in der Mittelschicht politisch?

Ja, Angst vor Inflation ist eine klar politische Angst, das sieht man auch an ihren starken Schwankungen. Sie wird seit mehr als zehn Jahren regelmäßig erhoben und korreliert auch mit der Inflationsrate. Sie ist eine der relativ rationalen, doch eher von Tatsachen gestützten Ängste.

Der Hintergrund ist: Die Menschen nehmen Wirtschaft als eine große Maschine war, und sie erwarten von der Politik, diese Maschine kompetent bedienen zu können, sodass für alle mehr Wohlstand herauskommt.

Ist die Vorstellung von Staat und Demokratie, die in diesen Umfragen abgefragt wird, auch immer eine von Wohlstand?

Das ist eine Dimension, die in der aktuellen Diskussion doch dramatisch unterschätzt wird. Die Menschen erwarten Ergebnisse. Politik muss liefern! Aber was? Es geht um Wohlstand, um Sicherheit und ein gutes Gefühl von Zukunft. Das sind die Kernprodukte von Politik und sie sind alle auch mit der Bewältigung von Ängsten verbunden. Wenn das aber schiefgeht, wird es kritisch, denn dann wird Politik insgesamt infrage gestellt.

Und was passiert dann? Wird dann AfD gewählt? Haben deren Umfrage-Werte und Wahlergebnisse auch mit politischer Angst zu tun?

Im weitesten Sinne kann man das mit politischen Ängsten in Verbindung bringen. Aber da ist auch die Frage nach Vorerfahrungen, wenn Menschen eine populistische Partei wählen, weil etwas nicht rundläuft. Sie haben bittere Erfahrungen gemacht, mit den Eliten, mit teuren Fehlentscheidungen, wie von diesem unsäglichen Verkehrsminister Andreas Scheuer. Es gibt Skandale und Korruption. Politiker gehen in Ämter bei denen, die sie kontrollieren sollten, kaum dass sie aus der Politik raus sind. Das schafft Misstrauen in Akteure, Organisation und System. Und wenn das mal eingefressen ist, über Jahre, ist die Reparatur von Misstrauen eine der schwierigsten Sachen. Dafür sind viele Jahre, Geduld und Integrität nötig – oder die Neuauflage eines Vertrags.

Was dann passiert, ob die Leute dann AfD wählen, andere Sachen machen oder sich einfach nur zurückziehen, ist immer eine Frage der Alternativen. Welche habe ich? Was kann ich tun? Enttäuschung und Ängste münden oft kurzfristig in Wut, dann aber in Rückzug, Resignation und Verbitterung. Die AfD hat es nun geschafft, diese Erfahrungen von Misstrauen anzuzapfen, sie zu sammeln und sich so auch das Nichtwähler-Potenzial zu erschließen.

Das klingt, als würden wir damit noch länger zu tun haben.

Das wird für die nächsten 20 Jahre halten. Der Populismus lebt ja von Halbwahrheiten, die Eliten-Kritik und die, dass nichts rund läuft. Das können Einsichten sein, die Menschen spüren und die tatsächlich richtig sind. Der Populismus macht daraus: Man muss nur die Minderheiten rausschmeißen und das autoritärer gestalten, dann läuft das hier wieder. Das wird uns die kommenden 20 Jahre oder auch noch länger beschäftigen, so lange eben, wie wir mit diesen Veränderungen, mit dem Klima-Kollaps zu tun haben.

Politik muss also dafür sorgen, dass es den Leuten besser geht?

Sie muss Ergebnisse liefern und zeigen, dass sie eine gute Zukunft gestalten kann. Doch was die Ampel die letzten zwei Jahre gemacht hat: Kein Konzept, kein langfristiger Plan, nur kleinkariertes parteipolitisches Hickhack – das ist das schlimmste, was man machen konnte.

Ich persönlich bin ja der Ansicht, dass die Ampel dafür gewählt worden ist, weil die Mehrheit der Menschen eigentlich nicht will, dass sich etwas ändert. Die Mehrheit der Menschen will einfach nur bequem weiterleben. Es ist ein großes Problem, dass hedonistische Milieus, die es auf jedem sozialen Niveau gibt, bis in die Oberschichten, eigentlich nur ihr Leben genießen wollen und sich sonst um nichts kümmern, schon gar nicht um andere Menschen, dass sie Politik als Konsumgut auffassen. Man geht wählen, und dann haben die gefälligst dafür zu sorgen, dass die Zukunft gut wird. Ansonsten ist mir das egal, Demokratie, Politik – Hauptsache, ich kann nach Malle fliegen.

Das ist ein Ausdruck tiefer sozialer Unverbindlichkeit und ein Problem, weil diese hedonistischen Milieus wachsen. Der Kapitalismus begünstigt das: Gier, Unverantwortlichkeit, Desinteresse und Egoismus. Die Politik sollte dringend überlegen, ob sie nicht Elemente stärken kann und will, die da gegenhalten können, also alles, was Zivilgesellschaft heißt, zum Beispiel.

Was könnte das sein? Weniger Streit? Hat nicht gerade das omnipotente Auftreten von Politikern so eine Konsumhaltung erzeugt?

Politik ist da in einem Dilemma. Sie will auf der einen Seite Sicherheit vorspielen und davon überzeugen, dass sie gute Rezepte für die Zukunft hat. Auf der anderen Seite darf sie sich nicht als allmächtig darstellen, da sie so nur noch mehr Erwartungen weckt. Das muss man jeweils vermitteln.

Es gibt sinnvolle Arten von Streit, über Grundsatzfragen und Richtungen. Sinnlos ist aber, dass man Lösungen raushaut, die Koalitionspartner dann zerpflücken. Sich ständig in den Arm zu fallen, obwohl man in der gleichen Regierung sitzt, ist sicher keine intelligente politische Strategie.

Der Populismus lebt von Misstrauen, er sammelt Ängste, gibt ihnen eine ideologische Form und macht sie so politikfähig. Da muss man wirklich mit Lösungen dagegenhalten. Doch jetzt fällt den Eliten auf die Füße, was sie 20 Jahre lang gemacht haben: Ein Ist-Alles-Nicht-So-Schlimm-Gerede, mit dem Menschen jede Art von Veränderung von sich weggeschoben haben.

So wurden ja jetzt auch die Klimakleber in der Debatte empfangen – und neutralisiert. Die sind auch in einem Dilemma: Tun sie etwas, machen sie sich unbeliebt. Tun sie nichts, ändern sie nichts. Es war ein extremer Fehler der Politik, darauf nicht klüger reagiert zu haben, denn wer veränderungsbereite Minderheiten nicht unterstützt, würgt Veränderungsbereitschaft ab.

Politik muss dabei beherzigen, dass Menschen auf unterschiedlichen Stufen der Veränderungsbereitschaft sind. Manche wissen gar nicht, dass etwas ein Problem ist, andere wehren ab, doch einige wollen was tun. Politik muss alle diese Veränderungsbereitschaften auf allen Stufen adressieren und heben.

Keinen Sinn hat es aber, Lösungen vorzuschlagen, wo Leute nicht mal ein Problem sehen. Es braucht eine Strategie, auf verschiedenen Ebenen mit all diesen Gruppen reden zu können. Dafür wäre die Ampel eigentlich geeignet, weil die Parteien unterschiedliche Veränderungsbereitschaften unter ihren Wählern haben. Aber die haben sich über so etwas nicht einmal Gedanken gemacht. Sie versuchen nur kurzfristig, ihre Erfolge bis zur nächsten Wahl zu maximieren. Das allerdings ist ganz sicher die falsche Strategie.

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