Premiere "Arsen und Spitzenhäubchen" in Leipzig: Bühne als Fernsehbildschirm
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24. November 2024, 17:16 Uhr
1939 – zu Beginn des Zweiten Weltkriegs – schreibt Joseph Kesselring, ein deutschstämmiger New Yorker, seine weltberühmte Komödie "Arsen und Spitzenhäubchen". Bis 1944 wird sie 1.444 mal am Broadway gespielt und anschließend mit Cary Grant furios verfilmt. Der Wunsch nach Unterhaltung in Kriegs- und Krisenzeiten war damals groß. Und ist es heute noch. Dass die Komödie noch immer in die Zeit passt, zeigt Tina Laniks Inszenierung am Schauspiel Leipzig, die am 23. November ihre Premiere hatte.
- Die Komödie "Arsen und Spitzenhäubchen" war während des Zweiten Weltkrieges ein Dauerbrenner am Broadway und erzählt von einer verrückt-kriminellen Familie.
- In der Leipziger Inszenierung verlegt Tina Lanik die Handlung in die 70er Jahre und damit ins Goldene Zeitalter der TV-Serie.
- Die überspitzte Ästhetik findet Theaterkritiker Stefan Petraschewsky überzeugend, die Inszenierung nicht ganz.
"Arsen und Spitzenhäubchen" passt schon deswegen in die Zeit, weil hier ein Teddy Brewster auftritt, der sich für den amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt hält. Er hat buchstäblich 13 Leichen im Keller. Sein Bruder Mortimer sagt über ihn: "Bis jetzt haben wir Teddys Schwachsinn mitgemacht, weil wir überzeugt waren, dass er harmlos ist."
Natürlich kann man das auf Donald Trump und seine Wähler beziehen. Aber die Inszenierung von Regisseurin Tina Lanik hält das offen. Gott sei Dank! Denn so kann das Publikum selbst die Fährte aufnehmen und sich prächtig amüsieren. Zur Premiere am Leipziger Schauspielhaus gab es am Samstag viel Applaus.
Geschichte einer krankhaft verrückten Familie
Im Grunde ist "Arsen und Spitzenhäubchen" die Geschichte der Familie Brewster. Da gibt es zwei Tanten: Martha und Abby Brewster, die in ihrer viktorianischen Villa in Brooklyn, New York leben, zusammen mit ihrem Neffen Teddy Brewster. Der hat noch zwei Brüder: Jonathan und Mortimer Brewster. Das Besondere ist: Alle Brewsters sind krankhaft verrückt. Die beiden Tanten ermorden peu à peu 13 ältere Herren, damit diese schneller "ihren Frieden finden."
Bis jetzt haben wir Teddys Schwachsinn mitgemacht, weil wir überzeugt waren, dass er harmlos ist.
Teddy Brewster, der sich für den Präsidenten der Vereinigten Staaten hält, vergräbt die Leichen im Keller. Für ihn sind die Herren an Gelbfieber verstorben. Er wähnt sich im Keller in Panama und gräbt dort den Panamakanal aus. Jonathan Brewster ist ein Verbrecher und sieht aus wie Boris Karloff, der im Filmklassiker "Frankenstein" das Monster spielt. Das macht ihn irgendwie schizophren.
Paranoider Theaterkritiker als Hauptfigur
Bleibt Mortimer Brewster, die Hauptfigur, ein Theaterkritiker, der wohl lieber ein Schriftsteller sein will. Tante Abby sagt über ihn: "Mortimer hasst das Theater. Er glaubt allerdings nicht, dass sich das Theater noch lange halten kann. Aber bis dahin verdient er eben noch sein Geld damit. Unter uns gesagt, mehr als ein oder zwei Jahre gebe ich dem Theater auch nicht mehr."
Ist seine Hassliebe zum Theater vielleicht ein erster Baustein, verrückt zu werden? – Wir erleben Mortimer am Anfang, wie er der Nachbarstochter Elaine einen Heiratsantrag macht. Wir sind sozusagen im Wohnzimmer der Brewster-Villa. Hinten die Treppe ins Obergeschoss und in den Keller. Links unter einem Fenster eine große Kiste. Da liegen die Leichen drin, bevor sie in den Keller kommen. Mortimer guckt zufällig in die Kiste hinein und kommt der Sache auf die Spur. Schnell wird es immer grotesker.
Das Stück hat für Mortimer eine Albtraum-Dramaturgie: Wenn die Angst vor dem eigenen Verrücktwerden am größten ist, wacht er auf. Das ist hier auch die Pointe am Schluss, wenn Mortimer von den Tanten erfährt, dass er ein Adoptivkind ist und gar nicht zur Familie gehört. Was natürlich bedeutet, dass er als einziger nicht verrückt werden kann.
Unter uns gesagt, mehr als ein oder zwei Jahre gebe ich dem Theater auch nicht mehr.
Ästhetik erinnert ans Goldene Zeitalter der TV-Serie
Regisseurin Tina Lanik verlegt die Handlung in die 1970er Jahre – als die Welt noch in Ordnung war – und zeigt sie in zugespitzter Ästhetik (Bühne und Kostüm: Stefan Hageneier). Das sieht man am besten an den Kostümen. Die beiden Tanten tragen wehende Flower-Powerkleider mit orange-roten Mustern. Die Frisuren sind eine Meisterleistung der Maske. Was die Männer da an Koteletten, Bärten und langen, fettigen Haaren tragen! Es ist schön anzusehen, dass die Inszenierung nicht viktorianisch daherkommt, wie wir es etwa aus der Fernsehserie "Das Haus am Eaton Place" kennen.
Stattdessen erinnert sie an andere Serien dieser Zeit und zitiert deren Protagonisten von Louis de Funès bis Tom Sellek aus der TV Serie "Magnum". Das Zeitfenster reicht also von den späten 60ern bis in die 80er Jahre. Wobei oft überzeichnet und das Spiel ausgestellt wird. Weil die ganze Bühne auch durch weißes Neonlicht gerahmt wird wie ein Fernsehbildschirm. In diesem Rahmen agieren die Figuren nicht logisch, sondern sind Klischee, bieten viel Slapstick. Bei Mortimer und Elaine auch im Woody-Allen-Style. Das alles macht beim Zusehen viel Spaß.
Ensemble spielt auf gutem Niveau
Gespielt wird auch auf gutem Niveau. Die alten Tanten, Bettina Schmidt und Anne Cathrin Buhtz, sind flotte Mittsechzigerinnen, die mit einer Senilität nur spielen, wenn sie nach rechts in die Küche trippeln. Sie sind zwei Frohnaturen, die nicht trotz, sondern wegen (!) der Morde mit sich im Reinen sind.
Teddy Brewster, Christoph Müller, hält sich für den US-Präsidenten und spielt das großartig, weil er immer ganz ernst bleibt und sich wundert, dass ihm die anderen nicht glauben – ein großes komödiantisches Talent, auch weil er der Versuchung widersteht, hier den Trump zu machen. Jonathan Brewster, Julius Forster, gibt einen Louis de Funès unter der Frankenstein-Maske und spielt sehr agil. Vanessa Czapla als Elaine geht ihre Rolle auch artistisch an: Wenn sie sich vom Sessel auf die Couch, durch das Fenster und wieder zurück hangelt, hat es fast etwas schimpansenartiges und gibt ihrer Figur Kontur.
Mortimer, Niklas Wetzel, ist ebenfalls mit viel Körpereinsatz unterwegs, wenn er wiederholt gegen Wände rennt und sich in Telefonkabeln verheddert. Das ist am Ende aber zu vordergründig. Die Angst vor dem Verrücktwerden bleibt da auf der Strecke. Die beiden Polizisten Denis Grafe und Denis Petkovic, beide mit übertriebenen Schnurrbärten und Wuschelhaaren, behalten trotz ihres Aussehens ihre Würde: Das hat Komik. Andreas Keller spielt Dr. Einstein, macht das gut, sieht aber aus wie Klaus Kinski, und gibt dafür zu wenig den eitlen Starschauspieler. Tilo Krügel in einer Doppelrolle als Pfarrer und Kriminalkommissar bleibt in diesen Nebenrollen unter seinen Möglichkeiten. Das ist schade, weil man weiß, was er zeigen könnte.
Ästhetisch gesehen großes Kino
Unterm Strich überzeugen die gut zweieinhalb Stunden – einschließlich Pause – mit Kostüm und Bühnenbild, das ästhetisch ganz in petrolgrün gehalten ist und uns, architektonisch betrachtet, eine klassische Moderne ohne Schnickschnack vorstellt. Es ist auch gut ins Licht gesetzt. In einer Szene, in der in der Nacht die Leiche in den Keller transportiert wird, ist die Bühne mit vielen, ganz kleinen Lichtpunkten so beleuchtet, dass es aussieht wie beim Landeanflug auf New York. Großes Kino!
Es ist auch ein Stück über das Theater und die Theaterkritik. Wenn allerdings Mortimer aus Zeitmangel preisgibt: "Wunderbar. Ich spare viel Zeit, denn jetzt kann ich die Kritik schon auf dem Weg ins Theater schreiben" – muss ich aus persönlicher Erfahrung widersprechen: Der Versuch scheitert immer. Ein Premierenbesuch ist erstens immer anders und zweitens als man denkt.
Wunderbar. Ich spare viel Zeit, denn jetzt kann ich die Kritik schon auf dem Weg ins Theater schreiben.
Schwächen in der Regie
Einziger Wermutstropfen ist die Regie. Die hat sich in Details verzettelt und wirkt auch atemlos; nimmt sich deswegen zu oft die Chance, einen Witz im Spiel entstehen zu lassen. Die Albtraum-Dramaturgie, die sich für die Hauptfigur bis zum Ende hochschrauben müsste, bis zum Erlösungsmoment, in dem Mortimer erfährt, das er gar nicht verrückt werden kann: Diese Pointe wirkt verschenkt und zur Premiere wie hinten noch drangehängt.
Im zweiten Teil nach der Pause ist das Stück wie ausgebremst. Vielleicht, weil zuvor zu viel Gas gegeben wurde. In der Regel, gerade bei Komödien, spielt sich das in den nächsten Vorstellungen aber ein. Am Ende ist das hier also eine Empfehlung mit diesem einen Fragezeichen.
Informationen zum Stück
"Arsen und Spitzenhäubchen" von Joseph Kesselring
Regie: Tina Lanik
Bühne und Kostüme: Stefan Hageneier
Mit: Anne Cathrin Buhtz, Bettina Schmidt, Niklas Wetze, Christoph Müller, Julius Forster, Vanessa Czapla, Andreas Kelle, Denis Grafe, Denis Petković als Polizist
Spieldauer: Ca 2:30 Stunden, eine Pause
Premiere am 23. November 2024
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Redaktionelle Bearbeitung: lm
Dieses Thema im Programm: MDR KULTUR - Das Radio | 22. November 2024 | 16:30 Uhr