Thüringer Zeitgeschichte Das wusste der BND über die Stasi in Erfurt

04. Dezember 2019, 05:00 Uhr

Am 4. Dezember 1989 besetzten Erfurter Bürger die Bezirksverwaltung der Stasi. Die Bürgerrechtler waren die ersten Zivilisten, die hinter die Kulissen des Geheimdienstes schauen konnten. Was wusste aber der Bundesnachrichtendienst (BND) über die Stasi? Der BND hat auf Antrag von MDR THÜRINGEN Akten über das Stasi-System in Thüringen freigegeben.

Mitten im Herzen von Erfurt, direkt am Domplatz, steht ein großer Klinkerbau: das Gefängnis Andreasstraße. Dort wurden zu DDR-Zeiten von der Staatssicherheit (Stasi) tausende Menschen aus politischen Gründen inhaftiert. Direkt neben der Untersuchungshaftanstalt befand sich seit 1952 die Bezirksverwaltung der Staatssicherheit - bis zum 4. Dezember 1989. An diesem Tag wurde erstmals eine Bezirksverwaltung der Staatssicherheit von Bürgerrechtlern besetzt. Neugierig nahmen die Besetzer den riesigen Gebäudekomplex unter die Lupe, sicherten Akten und ergründeten die Aufgaben einzelner Stasi-Abteilungen. Obwohl die Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) im Stadtbild äußerst präsent war, war bis zu diesem Zeitpunkt über das Innerste der Staatssicherheit kaum etwas bekannt. Zumindest in der DDR.

Denn nicht nur Bürgerrechtler interessierten sich für die Staatssicherheit in Erfurt. Bereits seit Jahrzehnten hatte der Bundesnachrichtendienst (BND) die Bezirksverwaltung auf dem Schirm. MDR THÜRINGEN hat Dokumente aus dem BND-Archiv ausgewertet, die zeigen, dass der bundesdeutsche Geheimdienst schon frühzeitig detailliert über Aufbau und Struktur der Bezirksverwaltung informiert war. In einer "Kurzauswertung" über den "sowjetzonalen Staatssicherheitsdienst" vom Oktober 1957 wird nicht nur die Andreasstraße 38 von außen beschrieben ("Alle Fenster sind vergittert, rotes Ziegeldach"), sondern es werden auch sieben Telefonanschlüsse sowie 14 Dienstwagen teilweise mit Kennzeichen und Farbe aufgelistet. Die Personalstärke der Bezirksverwaltung gibt der BND für den Sommer 1957 mit rund 300 Mann an.

BND kannte die Abteilungsleiter

All diese Angaben in der "Kurzauswertung" sind nicht besonders brisant und für einen Geheimdienst relativ leicht zu ermitteln. Schwerer ist dagegen, die personelle Zusammensetzung der Bezirksverwaltung aufzulisten. Und hier war der BND nicht schlecht: Vom Leiter der Bezirksverwaltung bis zu einzelnen Abteilungsleitern kannte der bundesdeutsche Nachrichtendienst Namen, Dienstgrad und mitunter sogar das Geburtsjahr. Zwar fehlen mitunter die Vornamen der Genossen oder Namen sind nicht immer ganz korrekt geschrieben, aber Stichproben zeigen, dass die Informationen korrekt sind. Dem Bundesnachrichtendienst waren auch die Adressen und Funktionen von unterstellten Außenstellen der Bezirksverwaltung bekannt. So war die Staatssicherheit nach BND-Informationen im VEB Abus, bei den Erfurter Verkehrsbetrieben, im Olympia-Werk, im Funkwerk und bei Optima präsent. Auch die Dienststellen der Postkontrolle in den Bahnpostämtern waren bekannt.

BND kannte konspirative Wohnungen

Wie tief der BND in die Bezirksverwaltung eindringen konnte und wie umfangreich er über die Arbeitsweise der Staatssicherheit informiert war, zeigt die Liste der Deckadressen, konspirativen Wohnungen und sonstigen Trefforte. Immerhin 19 Adressen sind in der "Kurzauswertung" aufgelistet. Zwar sind manche Angaben unvollständig, so dass eine eindeutige Zuordnung der Wohnung nicht möglich ist. Aber manche Angaben sind äußerst präzise: So soll nach BND-Informationen im Hotel "Erfurter Hof" die Staatssicherheit die Zimmer 119, 317 und 35 für Treffen genutzt haben. Der CDU-Funktionär Hermann Kalb soll das Schließfach 132 als Deckadresse der Staatssicherheit zur Verfügung gestellt haben.

Über die Untersuchungshaftanstalt (UHA) notierte der BND: "Die UHA des MfS ist im 1. und 2. Stock des Gebäudes untergebracht. Entlang der Straßenfront Andreasstraße zwischen Gericht und UHA soll eine 2 m hohe Mauer verlaufen. Anschließend an das Objekt befinden sich wahrscheinlich ca. 12 neugebaute Garagen des MfS und ein 1955 neuerbautes Zellenhaus." 35 MfS-Mitarbeiter sollen 1957 dort beschäftigt gewesen sein. Auch der Leiter der Haftanstalt war dem BND bekannt: Willi Settner, ein ehemaliger Buchenwald-Häftling.

Auch die MfS-Kreisdienststellen im Bezirk Erfurt waren für den BND Ende der 1950er-Jahre kein unbeschriebenes Blatt: Der bundesdeutsche Geheimdienst kannte in der Regel Adresse, Leiter, Telefonanschlüsse und mitunter die Fahrzeugausstattung. Dazu kamen noch Hinweise auf Dienststellen außerhalb der Kreisdienststellen, zum Beispiel in Betrieben.

BND kannte auch Details über die MfS-Kreisdienststellen

Ob auch in den folgenden Jahrzehnten der BND weiter so umfangreiche Informationen über die Erfurter Bezirksverwaltung sammeln konnte, ist noch unklar. Der BND hat bisher kein weiteres Material freigegeben. Für einzelne Kreisdienststellen, wie zum Beispiel für Apolda, Arnstadt und Eisenach, liegen BND-Dokumente bis in die 1980er-Jahre vor. Die Informationen stammen meist von Befragungen von Reisenden und Geflüchteten, darunter eine Schlagersängerin aus Apolda, und sind mitunter sehr vage. Meist handelt es sich im Objektbeschreibungen und Skizzen.

Quelle: MDR THÜRINGEN/js

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN - Das Radio | Ramm am Nachmittag | 04. Dezember 2019 | 15:00 Uhr

4 Kommentare

Rohei am 05.12.2019

Dass der BND Bescheid wusste, war nicht weiter verwunderlich. Die westlichen Geheimdienste waren wegen der offenen Grenzen und durch die Aussagen von Deserteuren über die Vorgänge in der DDR bestens informiert. Zur Entstehungsgeschichte der erwähnten BND-Übersicht Näheres in dem Buch Die DDR-Spionage des BND. Von den Anfängen bis zum Mauerbau, Berlin 2019

part am 04.12.2019

Ich würde mich lieber eine Berichterstattung zum Vergleich der Überwachung des Bürgers zwischen gestern und heute freuen. Neue Technik, mehr staatliche Befugnisse, soziale Netwerke und mehr Datenspeicherung. Selbst die Wirtschaft sichert sich ab über Bonitätsabfragen. Den gläsernen Menschen gibt es doch wohl heute um so mehr...

Mandfred am 04.12.2019

Sie nannten sich rote Richter, rote Staatsanwälte mit Ihren Handeln, Ihren Beschlüssen, ihre Urteilen füllten Sie die Haftanstalten der Staatsicherheit. Nach nur 3 Jahren Wiedervereinigung waren Sie wieder für die Rechtssprechung und Pflege verantwortlich

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