Aussicht von einem Berg auf die Pößnecker Ortsteile Öpitz und Schlettwein
Rund 90 Prozent der Fläche des Saale-Orla-Kreises werden landwirtschaftlich genutzt, sind bewaldet oder Gewässer. Bildrechte: imago images/CHROMORANGE

Porträt Saale-Orla-Kreis vor der Wahl: Zwischen irischen Landschaften und maroden Schulen

11. Januar 2024, 10:32 Uhr

1994 aus der Fusion dreier Landkreise entstanden, liegt der Saale-Orla-Kreis zwischen Thüringer Schiefergebirge, Vogtland und der Orla. Der drittgrößte Kreis im Freistaat ist dünn besiedelt, hat mit den Folgen des demografischen Wandels zu kämpfen und ist durch und durch ländlich geprägt.

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Dass das "Super-Wahljahr" im Saale-Orla-Kreis eröffnet wird, wie Tagesschau und MDR letzte Woche titelten, entbehrt nicht einer gewissen Komik. Immerhin werden 2024 über 4,2 Milliarden Menschen in 76 Ländern zur Urne gerufen. Dass dieses politisch wegweisende Jahr am Sonntag seinen Ausgangspunkt zwischen Orlatal und Thüringer Schiefergebirge nehmen soll, wo nur rund 65.000 Wahlberechtigte über einen Landrat entscheiden, scheint da doch etwas viel des Guten.

Trotzdem lohnt es sich, einen Blick auf diese verhältnismäßig kleine Landratswahl zu werfen, denn kein anderer Kreis im Freistaat ist ländlicher geprägt. Wo sollten sich die aktuellen Bauernproteste also politisch niederschlagen, wenn nicht hier?

Ländlicher leben als in Irland

Wer mit dem Auto oder der Bahn durch den Saale-Orla-Kreis fährt, kann sich kaum sattsehen an weiten Feldern, Wiesen und Wäldern. Rund 90 Prozent der Fläche werden landwirtschaftlich genutzt, sind bewaldet oder Gewässer. Entsprechend hoch ist die Quote der Erwerbstätigen in der Fischerei sowie Land- und Forstwirtschaft. Von 1.000 Einwohnern im Saale-Orla-Kreis arbeiten statistisch gesehen 1,5 in diesen landwirtschaftlichen Berufszweigen. Zum Vergleich: Thüringen- und bundesweit sind es nur 1,2 Personen pro 1.000 Einwohner.

Im vergangenen Jahr standen insbesondere im Oberland viele Wiesen und Wälder in sattem Grün, was bisweilen an Irland erinnerte - nicht zuletzt, weil der Saale-Orla-Kreis ähnlich ruhig und dünn besiedelt ist. Das liegt auch daran, dass der Kreis mit einer Fläche von 1.151 Quadratkilometern der drittgrößte in Thüringen ist. Mit nur 69 Menschen pro Quadratkilometer ist er sogar dünner besiedelt als die irische Insel und liegt thüringenweit nur knapp vor Hildburghausen auf dem vorletzten Platz in puncto Bevölkerungsdichte.

Das Leben der insgesamt 79.178 Einwohner (Stand: Dezember 2022) spielt sich daher vor allem in Dörfern und Gemeinden ab. Der Landkreis zählt zwölf kreisangehörige Städte, von denen selbst die größten nicht über den Kleinstadt-Status hinauskommen. Die bekannteste dürfte aufgrund der Rennsporttradition und wegen des Landratsamtes die Kreisstadt Schleiz mit 8.866 Einwohnern sein.

Der demografische Wandel wird im Bildungssystem spürbar

Zur geringen Bevölkerungsdichte trägt maßgeblich der demografische Wandel bei, der hier ähnlich stark wie in anderen Thüringer Landkreisen zutage tritt. Seit seiner Entstehung durch die Fusion der Landkreise Lobenstein, Pößneck und Schleiz im Jahr 1994 hat der Saale-Orla-Kreis etwa ein Fünftel seiner Einwohner eingebüßt. Das Durchschnittsalter ist gestiegen, mehr als die Hälfte aller Menschen ist hier 50 Jahre und älter. Nur aufgrund der zunehmenden Migration seit 2015 konnte der Bevölkerungsrückgang 2022 erstmals gestoppt werden. Der Ausländeranteil stieg in diesem Zeitraum von 1,6 auf 5,2 Prozent und liegt damit unter dem thüringenweiten Durchschnitt (7,2 Prozent).

Spürbar ist die Demografie im Bildungssystem. Gab es im Schuljahr 1995/96 noch 756 Schulklassen an den 61 allgemeinbildenden Schulen, sind es heute nur noch 389 Klassen an 40 Schulen. Im gleichen Zeitraum hat sich die Schülerzahl halbiert. Noch stärker sind die Einschnitte an den Berufsschulen. Von den vier Berufsschulen mit 80 Klassen, die es 1995/96 im Landkreis gab, ist nur noch eine Schule mit 13 Klassen übriggeblieben. Die Zahl der Berufsschüler ist von damals 1.708 auf etwa 240 eingebrochen.

Das Absurde daran ist, dass die Zahlen der empfundenen Situation widersprechen. Heute gibt es, gemessen an der Schülerzahl, mehr Schulen als 1995. Die Menschen erleben aber oft das Gegenteil: Schulen schließen, weitere Standorte sind gefährdet und die Schulen, die noch stehen, sind oft in schlechtem Zustand.

Schülerinnen und Schüler einer fünften Klasse sitzen während des Unterrichts in ihrem Klassenzimmer
Zwar gibt es im Saale-Orla-Kreis auch immer weniger Schülerinnen und Schüler. Selbst die werden jedoch oft in maroden Schulen unterrichtet. Bildrechte: picture alliance/dpa | Philipp von Ditfurth

Im Saale-Orla-Kreis zeigt sich das demografische Dilemma der Bildungspolitik, das sich auch aus landesweiten und bundesweiten Statistiken herauslesen lässt: Bleiben die Schulbänke leer, weil es immer weniger Kinder gibt, investieren Land und Landkreise weniger Geld in die Schulen. Die Folge müssten eigentlich Schulschließungen sein. Weil aber die Menschen vor Ort oft protestieren, erhält die Politik Schulstandorte, die längst in keinem vernünftigen Kosten-Nutzen-Aufwand mehr stehen. Es entsteht eine Abwärtsspirale: Die immer leerer werdenden Schulen benötigen für den Betrieb das Geld, das woanders fehlt. Es entsteht ein Investitionsstau, den das Landratsamt in Schleiz aktuell mit rund 64 Millionen Euro beziffert.

Allgemeinmedizinische Versorgung hat sich verschlechtert

Die Misere in der Schullandschaft hat auch mit der ländlichen Struktur und der Größe des Landkreises zu tun. Wegen der langen Schulwege müssen dünnbesiedelte Flächenlandkreise ganz anders in Schulen investieren als Ballungszentren. Gleiches gilt für die medizinische Versorgung. Der Erhalt der drei Kliniken in Schleiz, Pößneck und Bad Lobenstein ist daher ein zentrales Wahlkampfthema der vier Kandidaten. Wegen ihrer geringen Größe sind die Häuser von der anstehenden Krankenhausreform betroffen. Das verunsichert schon jetzt viele Menschen im Landkreis.

Hinzu kommt der spürbare Hausärztemangel. In den vergangenen 20 Jahren ist die Zahl der Allgemeinmediziner um ein Viertel zurückgegangen. Kümmerte sich 2004 ein Hausarzt statistisch gesehen um 1.750 Menschen, sind es heute 2.329. Das hängt auch damit zusammen, dass es heute mehr Fachärzte als früher gibt. Aber das ist kein exklusives Problem des Saale-Orla-Kreises. Die medizinische Daseinsvorsorge im ländlichen Bereich ist vielerorts ins Rutschen geraten, auch weil junge Ärzte das Land trotz guter Verdienstmöglichkeiten oft meiden. Die Arbeitsbelastung ist hier oft zu hoch.

Viele profitieren vom gestiegenen Mindestlohn

Von den Gehältern der Ärzte einmal abgesehen, ist das Gehaltsniveau im Saale-Orla-Kreis das niedrigste im Freistaat und gehört auch zu den niedrigsten im bundesweiten Vergleich. Knapp 2.700 Euro brutto verdient im Durchschnitt ein Arbeitnehmer im Saale-Orla-Kreis laut Landesarbeitsagentur. Damit ist das Lohnniveau zwar in den vergangenen Jahren weiter gestiegen, aber noch immer arbeiten rund 40 Prozent der Männer und 52 Prozent der Frauen im Niedriglohnsektor. Die deutliche Steigerung des Mindestlohns, die die Berliner Ampelregierung 2022 durchgesetzt hat, dürfte daher ein Segen für die Menschen im Landkreis gewesen sein.

Vier Kandidaten mit unterschiedlichen Voraussetzungen

Für die Landratswahl am Sonntag ist das jedoch weitestgehend unbedeutend. Lediglich die parteilose Regina Butz wird von der SPD unterstützt, die auf Kreisebene aber eher schwach aufgestellt ist. Butz wirbt mit ihrer beruflichen Erfahrung als Juristin und ihrer parteipolitischen Unabhängigkeit.

Für die CDU kandidiert Christian Herrgott um die Nachfolge Thomas Fügmanns, der aus Altersgründen nicht noch einmal antreten darf. Herrgott hat große parteipolitische Erfahrung und bei den Landtagswahlen 2014 und 2019 jeweils das Direktmandat im Wahlkreis Saale-Orla-Kreis II gewonnen. Er kann auf die historische Stärke der Christdemokraten auf Kreisebene hoffen. Denn im Kreistag von Schleiz stellte die CDU bisher immer die stärkste Fraktion (aktuell mit 15 von 46 Sitzen). Ob das aber auch für den Landratsposten reicht, ist fraglich.

Denn seit der Bundestagswahl 2017 hat sich die AfD eine starke Wählerbasis im Saale-Orla-Kreis erschlossen und zuverlässig Ergebnisse zwischen 20 und 30 Prozent erzielt. Bei den letzten Bundes- und Landtagswahlen lag die AfD sogar deutlich vor der CDU. Mit ihrem Kandidaten Uwe Thrum, der 2019 als damals noch unerfahrener Wahlkämpfer das Direktmandat im Wahlkreis Saale-Orla-Kreis I gewann und in den Landtag einzog, sieht die Partei die Chance, nach Sonneberg einen weiteren Landratsposten in Thüringen zu erringen - zumal es vielen Wählern inzwischen egal zu sein scheint, dass die AfD vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wird und ein demokratiegefährdendes Programm verfolgt.

Der Erfolg der AfD hat zur Folge, dass die Linkspartei im Landkreis Federn lassen musste (gleiches gilt für SPD, FDP und CDU). Das letzte Erfolgserlebnis verzeichnete die Linke im Landtagswahlkampf 2019, als sie mit Bodo Ramelow als Spitzenkandidat 31,6 Prozent der Stimmen im Kreis holte und stärkste Kraft wurde. Für die Linkspartei tritt der Politikveteran Ralf Kalich an, der im Saale-Orla-Kreis verwurzelt ist und über reichlich Erfahrung als Bürgermeister, Kreis- und Landtagsabgeordneter verfügt.

Stichwahl gilt als wahrscheinlich

Zwar ist eine Landratswahl normalerweise eine Personenwahl, aber im Saale-Orla-Kreis dürfte dieser Aspekt in diesem Jahr weniger schwer wiegen. Alle Kandidaten sind stark im Landkreis verwurzelt, es gibt keinen Amtsbonus und der Wahlkampf aufgrund des Wahltermins im Januar war sehr kurz. Es blieb also kaum Zeit, sich als Person zu profilieren.

Insofern dürfte die allgemeine politische Wetterlage bei dieser Landratswahl eine gewichtigere Rolle spielen als normalerweise. Nicht zuletzt aufgrund der ländlichen Prägung des Saale-Orla-Kreises wäre es überraschend, wenn die Bauernproteste und die allgemeine Unzufriedenheit mit der Politik keinen Einfluss hätten. Aufgrund der Vielzahl an Bewerbern gilt es aber als wahrscheinlich, dass nach dem ersten Wahlgang am Sonntag auch eine Stichwahl am 28. Januar nötig sein wird.

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MDR (ask, ost)

Dieses Thema im Programm: MDR THÜRINGEN | MDR THÜRINGEN JOURNAL | 14. Januar 2024 | 19:00 Uhr

20 Kommentare

Micha R vor 16 Wochen

@ Paul Johannes
"...Was dann aber den Schnitt auf 2700 Eu nach oben zieht sind Mitarbeiter im öfftl.Dienst/Landratsamt/Behörden und einige private Unternehmer, die mit ihren Einkommen in dem bevölkerungsschwachen Landkreis den Lohnschnitt erheblich nach oben heben..."

Was so selbstverständlich nicht zutrifft, denn Unternehmereinkommen werden bei der genannten Summe gar nicht berücksichtigt!
Im verlinkten Artikel
https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/einkommen-gehalt-statistik-100.html
heitßt es deshalb auch: "...Laut einer Statistik der Landesarbeitsagentur verdient dort ein sozialversicherungspflichtig Beschäftigter knapp 2.700 Euro..." und Unternehmer sind bekanntlich keine sozialversicherungspflichtige Beschäftigte....

camper21 vor 16 Wochen

Der Herr Kalich ist nicht nur als selbständiger Handelsvertreter gescheitert, als Wachmann war er auch immer wieder Arbeitslos. Als gelernter Elektriker konnte er auch kein Fuß fassen. Natürlich kann man jetzt ähnliche Beispiele suchen, dass macht es aber nicht besser.

Alexa007 vor 16 Wochen

Wer kein Problem mit Rechtsextremisten als Parteichef hat, der hat ein ernstes Kompetenzproblem. Er ist nämlich demokratieunfähig und disqualifiert sich für politische Ämter in einem demokratischen Gemeinwesen.

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